Süddeutsche Zeitung - 30.10.2019

(C. Jardin) #1
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interview: quentin lichtblau

N


ach 20 Jahren in der Agenturwelt ist
Dominique Delport, 50, seit 2018 in-
ternationaler Chef von Vice Media.
Die MedienplattformVice, die vor 25 Jah-
ren in Montreal als eher maskulines, punki-
ges Underground-Fanzine begann, arbei-
tet hart an einer internationalen Expansi-
on und gibt sich seit einigen Jahren als
Stimme kosmopolitisch denkender, jun-
ger Menschen. Im Oktober übernahm das
Unternehmen die feministische Lifestyle-
PlattformRefinery29. Ein Gespräch mit
Dominique Delport auf dem Branchenkon-
gress Münchner Medientage.

SZ:HerrDelport,wennSiesichjungeMen-
schen heute anschauen, denken Sie sich
da: „Die sind genau wie ich“, oder eher:
„Oha, die sind komplett anders“?
Dominique Delport: Definitiv komplett an-
ders. Und nicht nur das, auch untereinan-
der sind sie vollkommen unterschiedlich:
Ein 19-Jähriger unterscheidet sich sehr
stark von einem 25-Jährigen, das merke
ich bei meinen eigenen Kindern. Die Jünge-
ren definieren sich selbst als so etwas wie

die letzte Hoffnung, die Welt in Ordnung
zu bringen. 47 Prozent von ihnen bezeich-
nen sich als „Aktivisten“. Meine 19-Jährige
will ihre Ferien nicht mit uns auf Ibiza ver-
bringen, sondern als Hilfskraft in einem
Camp für Geflüchtete. Ich bin darauf natür-
lich sehr stolz, muss aber auch zugeben,
dass ich mir nicht ganz sicher bin, ob ich
das in ihrem Alter auch getan hätte.

BeiVicewollenSieeine„progressiveAgen-
da“ vorantreiben. Fortschrittlich will ja so
gut wie jeder sein. Was meinen Sie damit?
„Progressiv“ heißt für mich, dass man Men-
schen eher zusammenbringen als trennen
will, Brücken statt Mauern bauen, sich um
den Planeten kümmern, um Bürgerrechte

und Inklusivität, Respekt. Dass man jun-
gen Menschen zuhört, die in anderen Medi-
en ja eher selten zu Wort kommen, dass
man sie empowert, ihre Träume und Erwar-
tungen einfängt, ihnen zuhört. Wir haben
vor allen anderen über Greta Thunberg
und ihren Kampf gegen den Klimawandel
berichtet!

Ganz so heilig ist die junge Generation
allerdingsauchnicht.IhreTräumeundEr-
wartungen bestehen ja bisweilen auch
aus dem Wunsch, Mauern zu bauen, aus
Nationalismus und...
Das, was ich gerade beschrieben habe,
heißt ja nicht, dass wir uns auf eine Seite
schlagen. Man muss mit jedem reden. Wir
tauchen dabei eben tiefer ein, sehen Dinge
aus der globalen Perspektive. Aber wir sa-
gen niemandem, was er oder sie zu tun hat.
Wir begegnen allen auf Augenhöhe, weil
unsere Mitarbeiter im Schnitt genauso alt
sind wie unsere Zielgruppe. Das schafft
Vertrauen, wir erzählen keinen Quatsch.

Vice, das ehemalige Fanzine, trägt ja noch
eine alte Street Credibility vor sich her.
Kann es nicht sein, dassVicediese Von-
der-Straße-Attitüde verliert, weil Sie sich
zunehmend als internationaler Medien-
konzern gerieren und in direkte Konkur-
renz mit etablierten Medien treten?
Natürlich wollen wir den eher anarchi-
schen Ton und das chaotische Mantra bei-
behalten zu einem gewissen Grad, aber ich
glaube, dass die Straße sich verändert hat.
In den Achtzigern und Neunzigern war es
total passend, sich rebellisch zu geben und
mit Punk-Attitüde die Gesellschaft zu ver-
schrecken. Für uns ist es wichtiger, auf der
Straße von heute relevant zu bleiben. Und
die rebellische Geste reicht da allein nicht
mehr aus, wir wollen nun auch positiv und
unterstützend arbeiten, und natürlich
auch mit einer globalen Perspektive.
Also konstruktiver Journalismus?
Wir wollen auf jeden Fall Lösungen zur Ver-
fügung stellen, nicht nur Probleme be-
schreiben. In Großbritannien gelang es
uns zum Beispiel, mit der Kampagne #un-
followme eine Bewegung gegen Stalking in
Gang zu bringen, die letzten Endes zu einer
Gesetzesänderung geführt hat.

Wie steht es dabei um die Grenze zwi-
schen Aktivismus und Journalismus?
Wir zeigen Probleme auf, machen sie
zum Thema und weisen auf mögliche
Auswege hin. Wenn dann Menschen
eine Petition starten oder auf die Straße
zum Demonstrieren gehen, dann ist das
ihre Entscheidung. Unsere Autoren arbei-
ten also nicht direkt aktivistisch. Sie
entdecken ein Problem, sehen seine Di-
mension – vielleicht sogar aus persönli-
cher Betroffenheit – und denken über Lö-
sungen nach. Das ist insofern schlicht au-
thentisch.

Siegehengezieltaufdie JagdnachWerbe-
kunden, denen Sie mit Ihrer hauseigenen
AgenturVirtueKampagnenundDoku-Se-
rienauf denLeib schneidern,etwa derLu-
xus-Automarke Cadillac oder dem Versi-
cherer Allianz. Gehen dabei nicht Cool-
ness und Glaubwürdigkeit flöten?
Intern haben wir das eindeutig getrennt.
Die Leute, die für die Werbung zuständig
sind, sind nicht diejenigen, die auch im
Newsroom sitzen. Natürlich können sie frü-
her mal als Journalist oder Videoprodu-
zent für uns gearbeitet haben, aber... dürf-
te ich kurz unterbrechen, ich muss schnell

noch für zehn Minuten mit Tanit Koch re-
den, die steigt gleich in den Flieger.
Er steht auf. Nach einer Viertelstunde mit
der Chefredakteurin Tanit Koch holt ihn
sein Pressesprecher zurück.
Entschuldigung, wo waren wir stehen ge-
blieben?
Wir haben darüber gesprochen, wie sich
journalistisch anmutende Werbedokus
für Cadillacs mit Ihrer Glaubwürdigkeit
vereinbaren lassen.
Wenn eine Marke keinen purpose hat,
dann hat sie ein Problem. Junge Menschen
vertrauen der Politik nicht mehr, deswe-

gen erwarten sie von Marken und Unter-
nehmen, dass diese von sich aus Verant-
wortung übernehmen und ihr Geld sinn-
voll einsetzen. Unilever hat kürzlich seine
Marken aufgeteilt: Marken, denen künftig
eine Art Bedeutung zugeschrieben könnte,
und Marken, die in dieser Hinsicht niemals
glaubwürdig sein werden. Die Zweiteren
werden sie verkaufen, weil sie sich nicht
lohnen. Und wir arbeiten gerne mit der die-
ser ersten Art von Marken zusammen.
Aber wie gesagt, strikt getrennt von unse-
rem Editorial-Team natürlich.

HatVicemit seinerHinwendungzur „pro-
gressiven Agenda“ auch Werbekunden
verloren? Unter Ihrem Vorgänger Shane
Smith ging es ja noch eher um Sex, Dro-
gen und Rock’n’ Roll – fernab von Identi-
tätspolitik oder Feminismus...

Auch unter Shane Smith gab es schon erns-
tere Inhalte: Er fuhr nach Nordkorea, es
gab die DokumentationHeavy Metal in
Baghdad. Dieser Ethos ist nicht neu, wir ha-
ben ihn nur ausgebaut, mit einer diverse-
ren Mitarbeiterschaft zum Beispiel. Wir
sind weiterhin die Stimme der Jugend,
auch in einer veränderten Weltlage. Für ei-
nen alten Typen wie mich ist das total auf-
regend. Und mit derRefinery29haben wir
nun zusätzlich Kompetenz gewonnen, die
haben eine ganz eigene Stimme und gro-
ßen Respekt bei ihrer Leserschaft.

Der Schritt ist für viele nicht ganz nach-
vollziehbar: Warum kauftVice, das gera-
de damit kämpft, profitabel zu werden,
ein angeschlagenes Unternehmen dazu?
Für uns ist es essenziell wichtig, den Werbe-
kunden ein simples, überzeugendes Ange-
bot zu machen: Wenn sie bei uns werben,
erreichen sie die komplette, globale Ju-
gend, mitRefinery29schließen wir da ein-
fach eine Lücke alle: Männlich, weiblich,
xyz. Mit einem hohen Vertrauensniveau,
ohne Algorithmen oder Roboter wie etwa
bei Facebook, sondern in einem kostenfrei-
en, aber anspruchsvollen journalistischen
Umfeld.

WirdVicedenn kostenfrei bleiben?
Unsere Leserschaft hat vergleichsweise we-
nig Einkommen, gibt vielleicht noch Geld
für Videospiele oder Netflix aus, eher nicht
für Journalismus. Mit einem kostenpflich-
tigen Modell würden wir viele Leser verlie-
ren, gerade in den besonders einkommens-
schwachen Regionen wie Afrika oder dem
Nahen Osten. Dass wir kostenlos bleiben,
halte ich insofern für unsere Pflicht.

Jeden Monat landen unzählige Serien im
Programm von Fernsehen, Mediatheken
und Streamingdiensten. Lustiges, Span-
nendes, Nützliches – aber auch jede Menge
Quatsch. Was davon lohnt sich? Die SZ-Me-
dienredaktion stellt die besten Serien vor.

Catherine the Great


Waspassiert: 1762 lässt Katharina die Gro-
ße (Helen Mirren) ihren Ehemann aus dem
Weg räumen und ist Herrscherin über
Russland. Angetrieben von progressiven
Idealen ist sie bald vor allem mit Machter-
halt beschäftigt, sägen doch intrigante Mi-
nister genauso am Thron wie der eigene
Sohn. Zeit für ihre Liebhaber und eine kom-
plizierte Beziehung zum Fürsten Potjom-
kin (Jason Clarke) bleibt trotzdem.
HeimlicherStar: Wie so oft die wunderba-
re Gina McKee. Zu schade, dass sie als engs-
te Vertraute der Zarin eigentlich nach Fol-
ge eins zugunsten der Männer in den Hin-
tergrund teten muss.
Nicht geeignet für: Historiker. Genauig-
keit wird hier genauso klein geschrieben
wie Subtilität. Aber weil Mirren in der Titel-
rolle groß aufspielt, ist die Serie trotzdem
sehenswert. patrick heidmann

Zu sehen auf: Sky, 4 Folgen.

Departure


Was passiert: Über dem Nordatlantik ver-
schwindet ein Passagierflugzeug, Flug 716
von New York nach London, 256 Menschen
an Bord. Untersucht werden soll der rätsel-
hafte Fall von der Luftfahrtexpertin Ken-
dra Malley (Archie Panjabi). Erzählt wird
die Jagd nach den Ursachen des Absturzes
als Krimi: mit einem Ermittlerteam, das
zahlreichen Spuren folgt und Motiven
nachspürt, das im Fachjargon spricht und
an Satellitendaten herumrechnet.
HeimlicherHeld: Claire Forlani als aalglat-

te Agentin, die sich mit politischer Agenda
einmischt – und mit der die Serie unter-
schwellig von einem Europa erzählt, in
dem der Brexit scheinbar vollzogen ist.
Nicht geeignet für: Flugängstliche.
annett scheffel

Zu sehen auf: Sky Go, 6 Folgen.

Skylines


Was passiert: Nachwuchsproduzent Jinn
(Edin Hasanovic) fängt beim Raplabel Sky-
line Records an. Das produziert nicht nur
Musik, sondern hat im Keller auch goldene
Heroinbonbons. Dem Ganzen ist auch die
Polizistin Sarah (Peri Baumeister) auf der
Spur.
Heimlicher Held: Die Rapperin Zilan (Ca-
rol Schuler), die nicht rappen kann. Sie ist
so schlecht, dass der gutmütige Jinn
lieber eine Sängerin aus ihr macht. Von ih-
rem Song hat man tagelang einen Ohr-
wurm.
Nicht geeignet für: Schlagerfans, die mit
Rap nichts anfangen können. Viele Rapper
haben Auftritte, was aber eher ein Schman-
kerl ist: Man versteht die Serie auch als Rap-
Neuling. maresa sedlmeir

Zu sehen auf: Netflix, 6 Folgen.

Modern Love


Waspassiert: Erste Flirts, verpatzte Dates,
schweigsame Paartherapiesitzungen.Mo-
dern Lovebasiert auf der gleichnamigen
New-York-Times-Kolumne und unter-
sucht in jeder Folge eine neue Facette des
Liebes-Zeitgeists. Nur dass hier die Liebes-
kranken eben aussehen wie Dev Patel oder
Anne Hathaway und in so schicke Apart-
ments wohnen, dass man vor Neid zergeht.
HeimlicherStar: Die Stadt New York, in ih-
rem ganzen Glanz und Wahnsinn.
Nicht geeignet für: Zyniker. Die Happy-
End-Rate ist hoch, der Kitschfaktor auch.
Ein paar Episoden aber halten die Balance
zwischen Nüchternheit und Rührung wun-
derbar. luise checchin

Zu sehen auf: Amazon, 8 Folgen.

Fett und Fett


Was passiert: Jaksch (Jakob Schreier) ist
ein moderner Monaco Franze mit deutlich
weniger Glück bei Frauen. Den Tag ver-
bringt er mit „rumsandeln“ (bayerisch für
„abhängen“) in München. Wenn er seine
Sandelei mal unterbricht, geht das nie gut.
HeimlicherStar: Matthias Lilienthal als In-
tendant. Und die Isar.

Nicht geeignet für: Perfektionisten. Eini-
ge Schauspieler sind eigentlich keine –
aber das macht auch den Charme der Serie
aus. Die Idee dazu ist bei Wurst und Bier in
der Transsibirischen Eisenbahn entstan-
den. maresa sedlmeir

Zu sehen auf: ZDF Mediathek, 6 Folgen.

Living With Yourself


Was passiert: Miles (Paul Rudd) ist ein Lo-
ser. Selbstmitleidig, träge, übellaunig. Des-
halb lässt er sich in einem Spa behandeln,
das aus Schluffis Erfolgsgranaten macht.
Die geheime Methode (genoptimiertes Klo-
nen, der Originalschluffi wird entsorgt)
geht in seinem Fall gründlich schief: Zwei
Versionen seiner selbst, die unterschiedli-
cher nicht sein könnten, treiben sich gegen-
seitig in den Wahnsinn.
HeimlicherStar: Die Melancholie. Die wit-
zige Geschichte ist mit guten Gags erzählt,
und dennoch kein Klamauk. In ihren
besten Momenten erzählt sie recht nach-
denklich davon, was Zufriedenheit bedeu-
tet.
Nicht geeignet für: Erfolgsgranaten.
laura hertreiter

Zu sehen auf: Netflix, 8 Folgen.

„Dass wir kostenlos bleiben,
halte ich insofern
für unsere Pflicht.“

„Die Jüngeren definieren sich
selbst als so etwas
wie die letzte Hoffnung.“

Der frühere Verfassungsschutzpräsident
Hans-Georg Maaßen und die sogenannte
Werteunion trafen sich am Samstag in Bux-
tehude, die RegionalzeitungStader Tage-
blattallerdings durfte nicht über die Veran-
staltung berichten. Denn die Werteunion,
in der sich besonders konservative Politi-
ker der CDU zusammen finden, entzog der
Redaktion vor ihrer Nordkonferenz die Ak-
kreditierung und erteilte Hausverbot. Der
Sprecher der Veranstalter warf demStader
Tageblattaus unerfindlichen Gründen vor,
für die Gegendemo einer Satirepartei ver-
antwortlich zu sein. „Hanebüchen“, sagt
Chefredakteur Wolfgang Stephan. Bisher
war hauptsächlich die AfD dafür bekannt,
zuweilen Journalisten auszuschließen. Ent-
setzt ist auch der Stader Kreisvorsitzende
der CDU. Die Art und Weise, wie der Presse-
sprecher der Werteunion mit demTage-
blattumgehe, als auch als auch „die haltlo-
sen Vorwürfe an sich“, so Kai Seefried,
gleichzeitig Generalsekretär der CDU Nie-
dersachsen, „machen mich sprachlos.“ Da
gerade die Werteunion für sich in An-
spruch nehme, die Werte der Union zu ver-
treten, „so muss ich mindestens mit Blick
auf das Handeln des Pressesprechers fest-
stellen, dass dies ganz sicher nicht der Fall
ist.“ pb

DIE SERIEN DES MONATS Hausverbot für
„Stader Tageblatt“

„Wir sind weiter die


Stimme der Jugend“


Das Portal Vice war mal Punk – heute steckt dahinter ein
großer Konzern. Ein Gespräch mit dem internationalen
Chef von Vice Media über Glaubwürdigkeit

„Natürlich wollen wir den eher anarchischen Ton und das chaotische Mantra beibehalten“, sagt Dominique Delport. Vor
Kurzem hat Vice Media die feministische Lifestyle-Plattform Refinery29 übernommen. FOTO: FRANKHOERMANN/SVEN SIMON

DEFGH Nr. 251, Mittwoch, 30. Oktober 2019 (^) MEDIEN 27
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