Süddeutsche Zeitung - 30.10.2019

(C. Jardin) #1
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V


or drei Jahren hat Manuela
Polaszczyk ihre Mutter das letz-
te Mal getroffen, in Cottbus, auf
einem Geburtstagsfest. Mutter
und Tochter saßen am selben
Tisch, zwei Plätze voneinander entfernt.
Sie haben sich Guten Tag gesagt, am Ende
Auf Wiedersehen. Ins Gespräch gekom-
men sind sie nicht. Seit 51 Jahren nicht.
Manuela Polaszczyk weiß bis heute
nicht, warum ihre Mutter den Kontakt zu
ihr abgebrochen hat. Die Geschwister sa-
gen: Mama hat ein schlechtes Gewissen.
Weil ihr neuer Mann Manuela nicht wollte.
Weil sie Manuela mit zwei Jahren dem Va-
ter überlassen hat. Weil sie, die Mutter, von
Papas Stasi-Job gewusst habe.
Die Mutter schweigt. Seit 51 Jahren.
Ihren Vater kann Manuela Polaszczyk
nicht mehr fragen. Er liegt in Rheinzabern
begraben, einer Stadt bei Karlsruhe. Bei
der Beerdigung 2002 hat die Tochter ge-
weint. Sie wusste nicht, dass er sie ausspio-
niert und verraten hatte. „Er war mein Be-
schützer, mein Held“, sagt sie, „der einzige
Mensch, dem ich blind vertraut habe.“
Jetzt geht sie nur noch einmal im Jahr
ans Grab, schaut nach, ob Erde nachgefüllt
werden muss. Sie empfindet seit 2006
keine Trauer mehr für Manfred Pola-
szczyk, ihren Vater. Damals bekam sie
Einblick in ihre Stasi-Akte.
Immer wieder hat Manuela Polaszczyk
ihrer Mutter Briefe geschrieben „Ich will es
nur verstehen“, hat sie geschrieben, verste-
hen, wie ein Vater die eigene Tochter verra-
ten kann. Sie bekam keine Antwort. Bei der
Geburtstagsfeier in Cottbus hat die Mutter
ihr „Auf Wiedersehen“ gesagt und noch
einen Satz wie eine Ohrfeige: „Du hättest ja
auch mal lachen können.“
Einmal, sagt Manuela Polaszczyk, hat
sie einen Job in einem Hotel in Sindelfin-
gen nach der Probezeit verloren. Der Perso-
nalchef habe gesagt, sie lache nie, Zimmer-
mädchen müssten auch mal lächeln.

Nach dem Geburtstagsfest fuhr Manue-
la Polaszczyk zurück nach Rülzheim,
Rheinland-Pfalz, wo sie heute lebt. Sie
weinte. Warum hatte ihre Mutter sich vom
Vater getrennt, als sie zwei Jahre alt war?
Warum musste sie als einzige von vier Ge-
schwistern beim Vater aufwachsen? Was
hat die Mutter über den Vater gewusst?
„Ich bin erstaunt, solch eine Anfrage zu
erhalten“, hat sie in der ersten E-Mail
geschrieben. Wieso sollte sich jemand für
ihre Geschichte interessieren?
Sie öffnet die Wohnungstür. Flocke, der
Yorkshire Terrier, kläfft. Den Hund hat sie
sich vor zwei Jahren zugelegt, so hat sie
einen Grund, die Wohnung zu verlassen.
Auf dem Wohnzimmertisch brennt eine
Kerze, Manuela Polaszczyk reicht Sprudel
und Kaffee. Dann erzählt sie von ihrem Le-
ben. Ein Leben in zwei deutschen Staaten.
Ihre Gesichtszüge wirken wie eingefro-
ren. Gefühle zeigt sie nicht vor anderen. Ge-
fühle zeigen, das habe sie in der DDR ge-
lernt, „wird dir nur als Schwäche ausge-
legt“. Ihre Stimme hat kaum Nuancen.

Wenn sie mit Flocke redet, nur dann, wird
ihre Stimme weich.
Bald ist Weihnachten, sie fürchtet sich
vor den Feiertagen. An Heiligabend vor
13 Jahren steckte im Briefkasten ein Stapel
Akten vom Stasi-Unterlagen-Archiv in
Frankfurt an der Oder. Eine Mitarbeiterin
hatte sie am Telefon gewarnt. Man habe
die Akten gefunden, die Kopien gingen per
Post raus, habe die Frau gesagt, und noch
etwas: „Ich empfehle Ihnen, unsere Post
erst nach Weihnachten zu öffnen.“
Manuela Polaszczyk reißt das Päckchen
auf. Beginnt zu lesen. Der Boden tut sich
auf. Sie sitzt allein im Wohnzimmer, sie hat
damals keinen Partner, sie hat keine
Kinder. Nur Nachbarn, die für sie einkau-
fen und ihre Wäsche aufhängen, seit sie
wissen, dass sie Multiple Sklerose hat und
sich nur unter Schmerzen bewegt. Der
Schmerz, den sie jetzt empfindet, ist mit
nichts zu vergleichen. Seit ihrem zwölften
Lebensjahr wurde eine Stasi-Akte über sie
geführt. Sie erfährt, wer sie bespitzelt und
verraten hat: ihr Vater.
Manfred Polaszczyk hat alles, was ihm
seine Tochter erzählt hat, an seine Füh-
rungsoffiziere weitergeleitet. Sie hatte vie-
le Freunde, die aus der DDR fliehen woll-
ten, die sich nicht anpassen wollten an das
sozialistische Regime. Das hat die Stasi in-
teressiert. Für den Verrat an seiner Tochter
hat der Vater Geld bekommen. Sogar ein
Reihenhaus. In den Akten liegen Rechnun-
gen, mal hat er 50 DDR-Mark erhalten,
mal 100. „Mein Vater“, sagt Manuela Pola-
szczyk, „hat mich an die Stasi verkauft.“
Heiligabend vor 13 Jahren. Manuela
Polaszczyk versucht, den Schmerz mit Al-
kohol zu betäuben. Sie sagt das Weih-
nachtsessen bei der Nachbarin ab.
Sie hat nur wenige Fotos, die ihren Vater
und sie zusammen zeigen. Es gibt eines, da
ist sie 21 oder 22 Jahre alt, ihr Vater hält sie
an Silvester im Arm. Sie schweigt, wenn sie
das Bild heute betrachtet. Auf einem ande-
ren, aufgenommen etwa zwei Jahre später,
kuschelt sie mit ihrem Vater auf einem wei-
ßen Sessel in ihrer ersten Wohnung. Er
schmiegt den Kopf an ihre Schulter. „Die-
ser Mann“, sagt Manuela Polaszczyk, „hat
mein Urvertrauen in Menschen zerstört.“
Damals, an Heiligabend und den Tagen
danach, liest sie, dass sie auch von ihrer
Stiefmutter bespitzelt wurde. Der Vater
hatte die Frau 1971 geheiratet, er zog mit
der siebenjährigen Manuela zu ihr auf ein
Gehöft bei Cottbus. Wort für Wort hat die
Stiefmutter weitergegeben, was Manuela
mit Freunden am Telefon besprochen hat.
Die Frau, von der Manuela Polaszczyk heu-
te sagt: „Sie war mehr Mutter in all den Jah-
ren als meine eigene. Sie hat mir was zu es-
sen gegeben, mich in den Arm genommen,
und sie ist dazwischengegangen, wenn
mein Vater mich verprügelt hat.“
Manuela Polaszczyk hat gespürt, dass et-
was nicht stimmt. Sie hat sich gewundert,
warum sie von der Stasi verhört wurde.
Warum Freunde verhaftet wurden, die flie-
hen wollten, kurz nachdem sie ihrem Vater
oder ihrer Stiefmutter von diesen Freun-
den erzählt hat. Damals fanden ihre Freun-
de es cool, dass ihr Vater mit ihnen in Knei-
pen ging. Heute weiß sie: Er hat über diese
Abende Berichte geschrieben und diese an
seinen Führungsoffizier geschickt. Einer
ihrer Bekannten kam ins Gefängnis nach

Bautzen. Polaszczyk hatte mit ihrem Vater
davor über ihn gesprochen. Sie weiß nicht,
ob der Vater diese Informationen an die Sta-
si weitergegeben hat. Aber sie weiß, dass
der Bekannte sich in seiner Zelle aufge-
hängt hat.
Manuela Polaszczyk steht auf, verzieht
das Gesicht, das rechte Bein schmerzt. Die
Fragen, auf die sie keine Antworten be-
kommt, haben sie wahnsinnig gemacht.
Bis ihr eine Bekannte riet: Schreib alles
auf. Drei autobiografische Bücher hat sie
geschrieben, ein kleiner Verlag hat sie ver-
öffentlicht, sie holt sie aus dem Wohnzim-
merregal. Dann wärmt sie die Kürbissuppe
auf, die ihr Freund gemacht hat. „Ich hatte
Sie gewarnt“, ruft sie aus der Küche, „dass
Sie viel Zeit mitbringen müssen.“

Die Beziehung zwischen Tochter und Va-
ter war symbiotisch, Manuela Polaszczyk
aber verwendet ein anderes Wort: „Ich war
der Lückenbüßer für meinen Vater. Ich
wollte, dass alles gut ist.“ Hatte der Vater
schlechte Laune, bekam sie Prügel. Wollte
er sich ausheulen, war sie seine Freundin.
Brauchte er Streicheleinheiten, nahm sie
ihn in den Arm. Er war Inoffizieller Mitar-
beiter (IM) mit Namen „Paul“.
Das Ministerium für Staatssicherheit
war Geheimpolizei, Ermittlungsbehörde,
Auslandsnachrichtendienst. Es verfügte
über Untersuchungsgefängnisse und Waf-
fen. Wer abwich, die SED ablehnte, raus-
wollte aus der DDR, war „Staatsfeind“.
Etwa 91000 Menschen arbeiteten haupt-
amtlich für die Staatssicherheit, etwa
180 000 als Inoffizielle Mitarbeiter. Einer
von ihnen war „Paul“.
In den Tagen und Wochen nach dem Ak-
tenfund spricht Manuela Polaszczyk mit ih-
ren drei Geschwistern. Die wollen von der
DDR nichts mehr wissen. Sie ruft ihre Mut-
ter an, ihre Stiefmutter, beide blocken ab.
Einmal fährt Manuela Polaszczyk nach

Calau bei Cottbus, klingelt am Gehöft, wo
sie mit ihrem Vater und der Stiefmutter ge-
lebt hat. Die Stiefmutter verscheucht sie.
Manuela Polaszczyk klammert sich da-
mals an eine Hoffnung: dass ihr Vater ge-
zwungen wurde, für die Stasi zu arbeiten.
Vier Jahre lang hofft sie das. Dann, 2010, be-
kommt sie die Erlaubnis zur Einsicht in die
Akten des Vaters. „Es hat ihn niemand ge-
zwungen. Mein Vater hat sich freiwillig für
die Stasi verpflichtet.“ Er hat die eigene
Tochter, Freunde, Nachbarn ausgehorcht,
hat Seminare über Zersetzungsmaßnah-
men besucht. Würde er noch leben, sagt
Polaszczyk, „würde ich ihn in seinem eige-
nen Scheiß verrecken lassen.“
Sie hat die DDR gehasst, dabei wurde sie
nicht dort geboren. Sie war ein halbes Jahr
alt, als ihre Mutter dem Vater von Sindelfin-
gen nach Cottbus nachgezogen ist. Er hatte
dort einen Job gefunden. Nach zwei Jahren
ging die Ehe in die Brüche, die Geschwister
wurden getrennt. Manuela blieb bei ihrem
Vater. Die Mutter wollte das so.
Eine Weile wohnen Manuela und ihr Va-
ter noch im selben Mietshaus wie die Mut-
ter und die Geschwister, in Cottbus, Schil-
lerstraße, oben unterm Dach. Sie schläft
mit ihrem Vater in einem Bett. Wenn er ei-
ne Freundin mit nach Hause bringt, muss
sie auf einer Matratze vor der Tür schlafen.
Damals denkt sie: Das muss so sein, das ist
normal. „Ich wusste, meine Mutter wollte
mich nicht“, sagt sie, „also gab es nur mei-
nen Vater, der war mein Anker.“
Der Vater bietet sich dem Ministerium
für Staatssicherheit an. Tagsüber arbeitet
er im Mitropa-Restaurant oder erledigt Bo-
tengänge für den Bürgermeister von Ca-
lau. Manchmal holt er die Tochter ab, isst
mit ihr zu Mittag. Zurück in der Dachge-
schosswohnung, schaut sie aus dem Fens-
ter. Sieht sie ihre Geschwister im Hof,
rennt sie vor Freude hinunter. Bis ihre Mut-
ter sie vertreibt. Der Vater heiratet die Stief-
mutter, trennt sich von ihr, dann finden sie
wieder zusammen. Manuela geht zur Schu-
le und wundert sich, dass sie immer eine
Note schlechter bekommt als ihr Sitznach-
bar, der von ihr abschreibt. Sie wundert
sich auch, dass sie aus dem Unterricht ab-

geholt und in der Stasi-Zentrale von Calau
verhört wird. Was wollen die? Woher wis-
sen die, mit wem ich mich getroffen habe?
Zum Abitur wird sie nicht zugelassen, sie
macht eine Ausbildung zur Facharbeiterin
für Textiltechnik, lernt Lkw-Planen zusam-
menzunähen. Als ihr Vater wieder mal die
Stiefmutter verlässt, ziehen sie zusammen
in ein Reihenhaus. So ein Haus bekommen
nur verdiente Stasi-Mitarbeiter, aber die
Tochter schöpft keinen Verdacht.
Februar 1984. Der Vater bekommt eine
Ausreiseerlaubnis für vier Tage, um Ver-
wandte in Westdeutschland zu besuchen.
Er kehrt nicht zurück. Seine Tochter,
18 Jahre alt, ist ohne Held, ohne Anker. Zu-
sammen mit einer Freundin beschließt sie
zu fliehen. Sie fahren an die Ostsee, nach
Warnemünde. Manuela will zu ihrem Va-
ter. Am 23. Juli 1984, der Morgen dämmert
über dem Strand von Boltenhagen, gehen
sie ins Meer und schwimmen los. Die Lübe-
cker Bucht ist ihr Ziel. Ein DDR-Patrouillen-
boot nimmt Kurs auf die beiden. Sie keh-
ren um, legen sich in Strandkörbe, tun so,
als seien sie Touristinnen, die sich ver-
schwommen hätten. Die Grenzsoldaten
glauben ihnen nicht, sie kommen in Unter-
suchungshaft, ein paar Monate später das
Urteil: zwei Jahre und vier Monate Frauen-
gefängnis Hoheneck bei Chemnitz.
Knapp neun Monate sitzt Manuela Pola-
szczyk mit Mörderinnen, Republikflücht-
lingen, Diebinnen. Es ist so voll, dass sie bis
heute keine großen Menschenansammlun-
gen erträgt. Wer aufmuckt damals wie sie,
kommt in eine Zelle, die mit eiskaltem Was-
ser gefüllt wird. Es gibt Momente, in denen
sie denkt, der Tod wäre jetzt die Erlösung.
Sie denkt an ihren Vater. Sie hofft, dass er
sie rausholt.
Von den Wärterinnen erfährt sie, dass er
ihr einen Brief geschrieben hat. Sie dürfe
ihn erst lesen, wenn sie sich „gebessert“ ha-
be. Die Wärterin drückt ihr einen Löffel in
die Hand, mit dem sie Bohnerwachs vom
Boden kratzen muss. Ihren 21. Geburtstag
verbringt sie im Gefängnis.
Heiligabend vor 13 Jahren. In ihren Stasi-
Akten findet Polaszczyk auch einen Brief,
den sie damals an ihre Stiefmutter ge-
schrieben hat. Die Stiefmutter hat ihn nie
erhalten. „Heute, Mittwoch, hat man mir
gesagt, dass ich den Brief von meinem Va-
ter nicht bekomme. Nach fast einem Jahr
bekomme ich ein paar Zeilen von meinem
Vater, die ich nicht mal lesen darf. Den ein-
zigen Menschen, den man auf dieser be-
schissenen Welt hat. So eine Ungerechtig-
keit ist nicht zu ertragen. Ich muss ins Ge-
fängnis, bloß weil ich bei meinem Vater le-
ben möchte. Haben diese Menschen hier
überhaupt menschliche Gefühle?“
In den Stasi-Akten liegt auch der Brief
des Vaters, den die Wärterinnen ihr vorent-
halten haben. „Schatz“, schreibt er am


  1. April 1984, „ich bin auch allein, du, kom-
    me mir ohne dich richtig verlassen vor.“
    Was ist Glück?
    Manuela Polaszczyk krault Flocke den
    Nacken, die Hündin ist eingeschlafen.
    Glück ist immer nur ein Augenblick, sagt
    sie. Ein Augenblick, der ihr Glück bereitet
    hat, war der 11. September 1985. Manuela
    Polaszczyk sitzt in einem Bus, der sie ins
    zentrale Notaufnahmelager für DDR-
    Flüchtlinge nach Gießen bringt. Sie hat ge-
    rade neun Monate Frauengefängnis hinter


sich. Sie ist damals 21 Jahre alt, schaut aus
dem Bus, sieht bunte Häuser, sie kann
nicht fassen, dass es so etwas gibt: Häuser,
die nicht grau sind. Der Busfahrer ruft,
jetzt könnt ihr alle schreien, ihr seid in der
BRD. Alle schreien.
Als der Bus mit den Passagieren, die von
Westdeutschland freigekauft worden
waren, den Schlagbaum passiert, „das war
der beste Augenblick in meinem Leben“,
sagt Manuela Polaszczyk. „Einen besseren
wird es nicht geben.“
Abends kommt der Bus in Gießen an, sie
küsst westdeutschen Boden. Sie möchte
den Vater anrufen, er soll sie abholen, aber
die Nummer ist falsch. Sie ruft einen Onkel
an, der verspricht, er kümmere sich. Sie
bleibt die halbe Nacht wach, will den Anruf
ihres Vaters nicht verpassen. Am nächsten
Tag, kurz vor elf Uhr, klopft er auf ihre
Schulter. Vater und Tochter liegen sich in
den Armen, Manuela Polaszczyk hat keine
Angst mehr. „Ich war ja bei meinem Papa.“
Das bunte Westdeutschland fliegt am
Autofenster vorbei. Der Vater will wissen,
wie die Ausreise war, wie sie die Zeit im Ge-
fängnis überlebt hat, er sagt, jetzt kann dir
nichts mehr passieren. Die Tochter hat
einen Wunsch. Sie möchte eine Stunde
lang in einer Badewanne liegen. Der Vater
sagt, er habe nur eine Dusche.

Kurz vor seinem Tod saßen die beiden
in seiner Küche. Manfred Polaszczyk und
seine Tochter. Sie wollte Antworten, sagt
sie heute, im Wohnzimmer in Rülzheim,
zwischen all den Porzellanengeln, die sie
beschützen sollen. Papa, warum hast du
mich verhauen? Warum will meine Mutter
mich bis heute nicht? Aber der Vater wech-
selt das Thema, sagt, ich habe nie was Bö-
ses getan, ich war immer gut zu dir.
Als die Mauer fällt, ruft eine Bekannte
an, schalt den Fernseher ein. Manuela Pola-
szczyk ist auf dem Weg zur Arbeit, sie ist
Zimmermädchen in einem Hotel in der
Pfalz. Im Fernseher sieht sie Menschen,
die von der DDR nach Westdeutschland
spazieren. Sie denkt: Die hätten fünf Jahre
früher aufmachen können, dann wäre mir
einiges erspart geblieben.
Die Aktenordner, die Polaszczyk für das
Gespräch aus dem Keller geholt hat, sollen
am selben Tag dorthin zurück. Sie möchte
die tausend Seiten nicht im Wohnzimmer
haben. Das ist Gift. Die Blicke zurück tun
ihr nicht gut. Sie möchte nach vorne schau-
en. Sie ist doch erst 55 Jahre alt.
Es gibt auch hellere Momente. Manuela
Polaszczyk hat einen Freund, der weiß,
dass sie Kürbissuppe mag, und der alles
stehen und liegen lässt, wenn sie sich nicht
meldet. Seit Kurzem hat sie ein neues
Hobby. Zweimal im Monat trifft sie sich
mit anderen MS-Patienten in der Indoor-
kletterhalle in Landau. Sie holt ihr Handy
hervor, zeigt ein Video. Man sieht sie in
zwanzig Metern Höhe, sie klettert eine stei-
le Wand hoch. Mit der Kraft ihrer Arme
schafft sie es bis ganz nach oben. Ein „jun-
ger Bursche“ sichert sie vom Boden aus.
Sie vertraut ihm.

„Er war mein Beschützer, mein Held, der einzige Mensch, dem ich blind vertraut
habe.“ Vater und Tochter, damals in der DDR. FOTO: PRIVAT / BOSTELMANN

Sie klammerte sich lange an die Vorstellung, er sei gezwungen worden zu der Zusammenarbeit mit der Stasi. Aber dem war nicht so. Manuela Polaszczyk, heute in ihrer Wohnung. FOTO: BERT BOSTELMANN/BILDFOLIO

DEFGH Nr. 251, Mittwoch, 30. Oktober 2019 (^) DIE SEITE DREI 3
Mein Vater, der Verräter
Es ist das Jahr 2006, als sie erfährt, wer sie und ihre Freunde all die Jahre in der DDR bespitzelt hat.
Über eine Frau, die täglich neu lernen muss, wie das geht: Vertrauen zu haben
vonthorstenschmitz
Die Frau am Telefon warnt sie:
„Ich empfehle Ihnen, unsere Post
erst nach Weihnachten zu öffnen.“
Sie wird aus dem Unterricht
gerufen, in der Stasi-Zentrale
verhört. Was wollen die von ihr?
Die Aktenordner müssen weg.
Sie muss nach vorne schauen.
Sie ist doch erst 55 Jahre alt

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