Süddeutsche Zeitung - 30.10.2019

(C. Jardin) #1
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von ronen steinke

N


iemand hat ihn gezwungen. Der
Mann, der jetzt in Deutschland
vor Gericht kommen soll, weil er
mutmaßlich einer der grausamsten Fol-
terknechte des syrischen Regimes von
Präsident Baschar al-Assad war, ist ein-
fach in eine deutsche Polizeiwache hin-
einmarschiert. Ein skurriler Moment für
die Geschichtsbücher. Er hat alles offen-
gelegt, von Reue jedoch keine Spur. An-
war R., einst Herr über das Foltergefäng-
nisdersyrischen Geheimdienstabteilung
251 in Damaskus, bat um Schutz und er-
klärte, er habe nichts zu verbergen. Was
erdamalsinSyriengetanhabe,vor seiner
Flucht, sei halt Teil des Jobs gewesen. So
seien die Regeln gewesen in Syrien, sagte
Anwar R. – und nahm an, dass es damit
sein Bewenden haben würde.
Nein. Egal, was die Regeln waren, egal
was in Gesetzen oder Dienstanordnun-
gen ganz gleich welchen Staates steht: Es
gibt Verbrechen, die so pechschwarzes
Unrecht darstellen, dass kein Federstrich
des Gesetzgebers und kein Bellen eines
Befehlshabers sie je legal machen kann.
AuchnichtimKrieg.DieserGedanke,eta-
bliertdurchdieAlliiertenindenNürnber-
ger Prozessen gegen die deutschen
Hauptkriegsverbrecher, gilt für Verbre-
chen gegen die Menschlichkeit, wie sie
dersyrischeGeheimdienstjedenTagver-
übt, und er gilt auch heute. Dies ist der
große Wert der Anklage gegen Anwar R.
und einen zweiten, weniger prominenten
Geheimdienstler, Eyad A., die jetzt in
Deutschland erhoben worden ist.
Es ist das erste Mal weltweit, dass eine
solche Anklage gegen Schergen des As-
sad-Regimes kommt. Viele haben es ver-
sucht, die internationale Justiz in Den
Haag hat sich bemüht, der Menschen-
rechtsrat der Vereinten Nationen auch.
Aber selbst Carla Del Ponte, die ehemali-
ge Chefanklägerin gegen den serbischen

Kriegsherren Slobodan Milošević, ist an
dieser Aufgabe gescheitert. Sie hat vor
den mächtigen politischen Freunden
Assads, die bei den Vereinten Nationen
vieles blockieren, kapituliert und ent-
nervt hingeworfen. Nun ist es so: Es
klappt. Die kleine Anklagebehörde in
Karlsruhe macht es. Man soll es nicht
übertreiben mit dem Wort historisch.
Aber das ist historisch.

Doch ist es nicht nur symbolisch? Zwei
Angeklagte. Zwei von wie vielen? Das Re-
gime des Baschar al-Assad ist riesig, Ge-
heimdienstler gibt es Zigtausende, über-
all wird gefoltert und exekutiert, Straflo-
sigkeit ist die Regel und bleibt auch fort-
an die Regel. Ja, selbstverständlich ist es
nur symbolisch. Was sollte es auch ande-
ressein.Diedeutschen AnklägerinKarls-
ruhe bekommen nur einen winzigen Zip-
fel dieses Regime des Grauens zu greifen,
das 4000 Kilometer entfernt liegt. Aber
was für eine Symbolik es ist: Die Karlsru-
her Juristen packen zu. Sie stellen auch
für die Nachwelt einige Dinge klar, dem
deutschen Staat ist das ein Anliegen,
auch weil viele Syrer hier leben.
Er hat nur gehorcht? Der Foltermeis-
ter, der von seinem Schreibtisch aus un-
sagbare Gräuel angeordnet haben soll,
hat nur getan, was in seiner Position je-
der getan hätte? Das wird vor dem deut-
schen Gericht nicht als Ausrede gelten,
da sind die gesetzlichen Regeln zum
Glück sehr klar, da dürfte vom Oberlan-
desgerichtKoblenzeineBotschaftausge-
hen, die man auch in Flüchtlingsheimen
aufmerksam verfolgen wird. So leicht
kannsichkeinMenschenschinderrausre-
den. Niemand hat das Recht zu gehor-
chen.

von arne perras

A


ngela Merkel wird am Donnerstag
nach Indien reisen. Es ist ein Land,
von dem keiner so recht weiß, was
alles in ihm steckt. Indien provoziert eine
Fülle konkurrierender, oft widersprüchli-
cherInterpretationen.Unddasliegtansei-
ner ausufernden Vielfalt, die sich jeder
Eindeutigkeit entzieht.
EsbeginntschonmitderWirtschaft.Ei-
nerseitswirddasLandalsaussichtsreichs-
ter Markt der Zukunft gehandelt, schon
bald wird Indien China als bevölkerungs-
reichste Nation der Welt überholt haben.
Andererseitsrätselndochauchviele,obIn-
dien jemals als Motor der globalen Wirt-
schaft taugen wird. Vorerst sieht es da-
nach nicht aus. Die indische Ökonomie
stottert, schlimmer als in den Jahren zu-
vor.
Politisch ist das Land nicht minder ver-
wirrend. Gerne wird der Staat als größte
Demokratie der Welt gepriesen. Aber
wahr ist auch, dass sich die Regierung in
Delhischwerdamittut,Frauenvor Gewalt
zu schützen; dass sie, wie jüngst in Kasch-
mir, die Freiheitsrechte ihrer Bürger be-
schneidet.AußerdemhabenHindu-Extre-
mistenhiernichtvielzufürchten.Diereli-
giösen Eiferer jagen Menschen schon auf
den bloßen Verdacht hin, dass sie eine
Kuh geschlachtet haben könnten.
Es ist demnach für Europäer schwer,
sichimDickichtderindischenWidersprü-
che zurecht zu finden. Die deutsche Wirt-
schaft, die im Tross der Kanzlerin reist,
wird Mut brauchen, um sich stärker in
den Markt vorzuwagen. Seine besten Zei-
ten hat er im Idealfall noch vor sich. Es
lohnt sich, Brücken zu bauen. Für Koope-
rationen im Klimaschutz, etwa durch den
Ausbau erneuerbarer Energien und der
Umwelttechnik, bietet Indien allemal eine
riesigeArena. Es wären gute Investitionen
in die Zukunft, sie sind von globalem Nut-
zen und könnten noch dazu Arbeitsplätze

schaffen. Indien und Deutschland haben
dieChance,alstreibendeKräfteeinesöko-
logischen Umbaus voranzugehen, wenn
sie die Mühen nicht scheuen.
Der indische Markt mag für eine Ex-
portnation wie Deutschland im Vorder-
grundstehen,dochersolltenichtdazuver-
leiten, ausschließlich auf die Wirtschaft
zu blicken. Weil Indien ein demokratisch
verfasster Staat ist, wirkt das Land auf
denerstenBlickwieeinidealer politischer
Partner. Die Realität ist dann aber doch
komplizierter. Zwar wird Delhi als Gegen-
gewicht zum diktatorisch regierten China
auf internationaler Bühne immer wichti-
ger.Dennochwäreesnaiv,dieoffenkundi-
gen Schattenseiten der indischen Politik

auszublenden.Siezeigensichimmerdeut-
licher,jelängerNarendraModiinDelhire-
giert.DerPremierwirdgetragenvoneiner
hindu-nationalistischen Bewegung, die
sich weit vom Geist der einstigen indi-
schen Freiheitskämpfer entfernt hat. Die
Ideale Mahatma Gandhis und Jawaharlal
Nehrus verblassen, ein religiös gefärbter
Nationalismus erstarkt und untergräbt
denreligiösenPluralismus,derbisherden
inneren Frieden Indiens garantierte.
Modi bringt den Hindu-Nationalismus
vor allem rhetorisch gegen das muslimi-
sche Pakistan in Stellung, so gelingt es
ihm, von den ökonomischen Schwächen
undderdrückendenArbeitslosigkeitabzu-
lenken, die er selbst mitzuverantworten
hat.DerPopulismusnützteihmbisherpo-
litisch, der Ökonomie hilft er nicht. Und er
stärkt auch nicht das Vertrauen ausländi-
scher Investoren, die Indien so dringend
braucht, wenn es sich an die Fersen Chi-
nasheftenwill.NochistdieGroßmachtIn-
dien mehr Vorstellung als Realität.

B


isher hängt das Amtsenthebungs-
verfahren gegen US-Präsident Do-
nald Trump etwas in der Luft. Die
Demokraten haben den offiziellen Beginn
der Ermittlungen verkündet, aber sie ha-
ben das Abgeordnetenhaus nicht darüber
abstimmen lassen. Sie laden Zeugen vor
und vernehmen diese. Doch das passiert
in einem abgeschotteten Raum im Kapi-
tol. Was dort über Trumps möglicher-
weise illegale politische Tauschgeschäfte
mit der Ukraine gesagt wird, erfährt die
Öffentlichkeit nur aus den Medien.
Das macht es den Republikanern leicht
zu behaupten, das Impeachment sei ein
„Putsch“ – ein parteipolitisch motivierter
Angriff der Demokraten auf den gewähl-

ten Präsidenten. Zwar ist es in Wahrheit
ein legitimes, verfassungsmäßiges Parla-
mentsverfahrenzurKontrollederExekuti-
ve. Aber wen kümmert in diesen Zeiten
schondieWahrheit?JelängerdieRepubli-
kaner ihre Lügen verbreiten können, des-
to mehr Menschen glauben ihnen.
Deswegen ist es höchste Zeit, dass die
Impeachment-Ermittlungen durch das
nun geplante Votum des gesamten Abge-
ordnetenhauses autorisiert und formali-
siert werden. Die Republikaner können ja
dagegen stimmen. Noch besser wäre es,
künftig auch die Zeugen öffentlich anzu-
hören. Die Amerikaner haben das Recht,
sich ihre eigene Meinung über die Taten
Trumps zu bilden. hubert wetzel

S


ie kann verdammt lang sein, die Lis-
temit denKita-Terminen,bei denen
die Anwesenheit, besser aber noch
dasEngagementderElterngefragtist:Ad-
ventsbasteln, Gruppenelternabend, Ge-
samtelternabend, Sankt-Martinsfest, Fa-
sching, Sommerfest. All das verwandelt
den Terminkalender der Eltern in ein
noch diffizileres Gesamtkunstwerk, und
dennoch: Im Kindergarten findet soziales
Leben statt. Nicht nur die Kinder finden
dort manchmal schon Freunde fürs Le-
ben. Auch ihre Eltern lernen sich kennen,
tauschen sich aus, können sich gegensei-
tig helfen, Netzwerke knüpfen.
Das ist gesellschaftlich noch viel be-
deutsamer,alsesaufdenerstenBlickaus-

sieht. So zeigt eine neue Studie, dass ge-
flüchtete Familien, allen voran die Müt-
ter, wesentlich besser integriert sind,
wenn ihre Kinder eine Kita besuchen. Sie
sprechen besser Deutsch, haben häufiger
einen Integrationskurs besucht und ha-
ben mehr deutsche Bekannte.
MehralszehnJahrenachBeginnderKi-
ta-Offensive warnen manche zwar immer
noch, dass „Fremdbetreuung“ ein großes
Übel sei. Und in der Tat müssen die Kitas
noch viel besser werden. Fakt aber ist,
dassdiese Orte für kleineMenscheneinen
Wert haben, der über die Bewältigung von
Familie und Beruf oder die Anbahnung
von Sandkastenfreundschaften weit hin-
aus geht. henrike roßbach

Inder vergangenen Woche gabes einpaar
Leute, die ganz genau zu wissenglaubten,
was Dennis Muilenburg jetzt tun werde:
zurücktreten. Warumum alles in derWelt
sollte er sich das antun? Am Dienstag und
Mittwoch vor gleich zwei Ausschüssen
des amerikanischen Senats aufzutreten,
sich zwei Tage lang abwatschen zu lassen
für die Fehler rund um die beiden Abstür-
ze der Boeing737 MAX, die seinen Kon-
zern in die größte Krise der Firmenge-
schichte gestürzt haben? Und all das am
JahrestagdesAbsturzesderLion-Air-Ma-
schine, bei dem 189 Menschen umsLeben
gekommen waren?
Muilenburg aber scheint sich vorge-
nommen zu haben, die Sache jetzt durch-
zuziehen, und der Boeing-Verwaltungs-
rat scheint ihn noch gewähren zu lassen.
Das Ziel ist: Boeing, die Sicherheitskultur
und interne Verfahren so zu verändern,
dass ein Desaster wie jene der737 MAX
nie wieder passieren kann. Er selbst, der
55-jährigeKonzernchef,derniefüreinan-
deres Unternehmen gearbeitet hat, will es
richten, mögen ihn Weggefährten noch so
sehrals„Roboter“verspotten,dernieech-
te Gefühle zeigen könne.
Muilenburgs taktischer Plan war spä-
testensklar,seitBoeingamMontagabend
die Rede verteilte, die er vor dem Aus-
schuss halten würde. Mit seinem Auftritt
will Muilenburg die Stimmung wenden,
und das Dokument zeigt, wie das gesche-
hen soll. Mitgefühl zeigen, Fehler einge-
stehen. Denn eine falsch konstruierte
Flugsteuersoftware namens MCAS (Ma-
neuvering Characteristics Augmentation
System) war die Hauptursache der beiden
Abstürze der Lion Air und der Ethiopian
Airlines mit 346 Toten. Seit März gilt des-
wegen ein weltweites Flugverbot für die

MAX, und dieses wird nach aktuellem
Stand wohl erst Anfang kommenden Jah-
res aufgehoben.
„Wir wissen, wir haben Fehler ge-
macht“, sagt Muilenburg nun. Am Jahres-
tag des Absturzes wolle er betonen, „wie
sehr es uns leid tut“. Die Tragödien wür-
den„unsantreiben,alleszutun,umunse-
re Flugzeuge (...) sicherer zu machen.“
Und: „Wir haben gelernt und lernen wei-
terausdiesenUnfällen.“Alleindasisteine
Wende in der bisher von vielen als katas-
trophal eingeschätzten Kommunikation
Boeings, denn lange haben sich Muilen-
burg und seine Anwälte gewunden,

irgendwelcheSchuldzuzugeben, stattdes-
sen das Können der Piloten zumindest in-
direkt angezweifelt – nicht ganz zu Un-
recht übrigens. Nachdem nun aber Indo-
nesiendenmehrals320SeitenlangenAb-
schlussberichtzumLion-Air-Crashveröf-
fentlichhat,lässtsichBoeingsVerantwor-
tung ohnehin nicht mehr abstreiten.
Muilenburg tut nun sogar das, was er
sonst so gar nicht mag – er wird sehr per-
sönlich. Er sei auf einem Bauernhof in Io-
wa aufgewachsen und habe dort mit sei-
nen Geschwistern Kühe gemolken und
Heu gemacht. Dann, während des Studi-
ums, habe ihm Boeing ein Praktikum an-
geboten,underseimitdemAutodengan-
zen Weg bis Seattle über die Rocky Moun-
tainsgefahren.JenseitsderBergeeröffne-
te sich ihm eine faszinierende neue Welt,
die er bis heute nicht verlassen hat.
Viele zweifeln genau deswegen daran,
dasserderRichtigeistfürdieVeränderun-
gen, die bei Boeing nötig seien. Kann ei-
ner, der seit 1985 bei dem Unternehmen
arbeitet,dieKulturüberJahrzehnteverin-
nerlicht hat und sie in den letzten Jahren
als Konzernchef maßgeblich in Richtung
Gewinnmaximierung verändert hat, nun
glaubwürdig einen Kurswechsel vollzie-
hen? Muilenburg betont, Boeing habe ein
neues Gremium installiert, das sich um
das Thema Sicherheit kümmert, aber es
istnurinternbesetzt.Dereinzigehochran-
gige Manager, der seinen Job verloren
hat, ist Kevin McAllister. Der Chef der Zi-
vilflugzeugspartewarerst seitdreiJahren
an Bord und hatte mit derMAX-Zulas-
sung wenig zu tun. Muilenburg verlor sei-
nen Posten als Chairman und ist nun nur
noch Vorstandschef. Bleibt es dabei, wird
er es angesichts seiner Lebensgeschichte
verschmerzen können. jens flottau

ANKLAGE GEGEN SYRER

Ein starkes Signal


INDIEN

Asiatische Wundertüte


IMPEACHMENT

Vorhang auf


KITAS

Hort der Integration


sz-zeichnung: pepsch gottscheber

W


enn es noch eines Bewei-
ses bedurfte, dass man in
der Politik auf Treuebe-
kundungen nicht viel ge-
ben soll, dann hat ihn
Friedrich Merz erbracht. Der ehemalige
Unionsfraktionschef gab jetzt eine kurze
Stellungnahme zur Lage der CDU ab, und
in den wenigen Sätzen schafft er es, die
ganze Zwiespältigkeit seines Agierens zu
offenbaren.ErhabeAnnegretKramp-Kar-
renbauer seine Unterstützung zugesagt,
dazu stehe er auch in schwierigen Zeiten,
beteuert Merz. Doch im selben Statement
sagter,Kramp-Karrenbauer sei„nicht die
Einzige, die im Mittelpunkt der Kritik zu
stehen hat“ – was ja bedeutet, dass sie
ebenfallsimMittelpunktderKritikzuste-
hen habe. Und Merz sagt auch, dass die
CDU-Chefin „kaum eine negative Rolle“
spiele–wasmannicht geradealseuphori-
sche Unterstützung für die Vorsitzende
werten kann.
Das gilt erst recht für seine Klage, das
Erscheinungsbild der Bundesregierung,
dessen Mitglied Kramp-Karrenbauer ist,
sei „grottenschlecht“. Wer solche Freunde
hat, braucht keine politischen Gegner
mehr. Das musste auch Paul Ziemiak
schon erleben. Auf dem Deutschlandtag
derJungenUniongriff Merzden CDU-Ge-
neralsekretär frontal an.

Friedrich Merz gibt sich gern als Mann
der deutlichen Sprache, der klaren Bot-
schaften, der Tatkraft. Wenn er mit der
Führung seiner Partei derart unzufrieden
ist, dann sollte er nicht nur ständig von
der Seitenlinie Kommentare abgeben.
Dann müsste er auch auf dem Parteitag
im November noch einmal selbst antre-
ten. Noch ist es rechtlich möglich, die
Wahl eines Parteivorsitzenden auf die Ta-
gesordnung zu setzen. Besser eine Ent-
scheidungimNovemberalsweitereMona-
te der Zersetzung.
Das gilt erst recht für die zweite Perso-
nalie.DenndieAttackevonMerzgiltjavor
allem Angela Merkel. Die „Untätigkeit
und die mangelnde Führung“ der Kanzle-
rin hätten sich seit Jahren „wie ein Nebel-
teppich“ über das Land gelegt, sagt Merz.
Das dürfe nicht so weitergehen. Er könne
sich „schlicht nicht vorstellen, dass diese
Art des Regierens in Deutschland noch
zweiJahredauert“.DaskönntensichEuro-
pa und Deutschland nicht leisten.
Wenn Merz dieser Auffassung ist, und
wenn er so unerschrocken ist, wie er im-
mer tut, dann muss er auch dafür sorgen,
dass auf dem Parteitag über die Kanzlerin

gesprochen wird. Dann muss es eine Ent-
scheidung der Delegierten darüber ge-
ben, ob Angela Merkel weiterhin Regie-
rungschefin bleiben soll. Ja, so etwas hat
es noch nie gegeben. Und ja, die Delegier-
ten können Merkel rechtlich gar nicht zu
einem Rücktritt zwingen. Aber es hat
auch noch nie jemandversucht, mit Ansa-
gefreiwilligaus demAmtzu scheiden,wie
es Merkel gerade versucht.
Der SPD wird zu Recht vorgeworfen,
endlosdarüberzustreiten,obmandiegro-
ße Koalition verlassen sollte. Auch des-
halb steht die Partei in den Umfragen da,
wo sie steht. Die CDU beschäftigt sich nun
seit geraumer Zeit mit der Frage, ob
Kramp-Karrenbauer die richtige Vorsit-
zende und Kanzlerkandidatin ist. In der
Partei gibt es auch Zweifel, ob Merkel tat-
sächlichbiszumEndederLegislaturperio-
de Regierungschefin bleiben sollte – oder
ob sie nicht durch einen Rücktritt den
WegzueinemNeuanfangfreimachensoll-
te, obwohl das verfassungsrechtlich nicht
einfach ist. Es ist an der Zeit, dass die CDU
diese Fragen klärt. Stützen oder stürzen,
heißt es in der Politik. Die Debatte einfach
weiter treiben zu lassen, wäre in jedem
Fall die schlechteste Lösung.
Kramp-Karrenbauer hat bereits das
Richtige getan. Wer meine, dass die Füh-
rungsfragejetztentschiedenwerdenmüs-
se, der habe auf dem Parteitag die Gele-
genheit dazu, hat die CDU-Chefin gesagt.
Das ist angesichts der schlechten Lage, in
der sie steckt, eine mutige Kampfansage.
Man wird sehen, ob Merz und seine politi-
schen Freunde den Mumm dazu haben,
sie anzunehmen.
In jedem Fall sollte die Attacke von
Merz ein Weckruf für Merkel sein. Denn
richtiganseinerKlageistja,dassdieKanz-
lerin sich kaum noch für die Innenpolitik
und ihre eigene Partei zu interessieren
scheint. In Thüringen hat fast jeder vierte
Wähler für die AfD des rechtsradikalen
Björn Höcke gestimmt. Was jetzt zu tun
sei, darüber hat man von Merkel noch
nichtsgehört.InderCDUgibtesStreitdar-
über, ob man perspektivisch mit der Lin-
ken zusammenarbeiten muss. Die Gegner
sagen unisono: Wenn wir das jetzt auch
noch machen, sind wir endgültig beliebig.
Das ist auch ein Stöhnen über die vielen
Kurswechsel der CDU unter Merkel. Aber
von der Kanzlerin hört man nichts zu der
Debatte. Und richtig ist auch, dass Merkel
seit vielen Jahren über den Klimaschutz,
den digitalen Wandel und all die anderen
Herausforderungen redet, dass Deutsch-
lands Bilanz beim Netzausbau oder bei
der CO 2 -Reduktion aber erbärmlich ist.
Merz mag – neben seiner Illoyalität –
das Problem haben, dass er zu schnell zu
viel will. Von Merkel kann man das schon
länger nicht mehr behaupten.

PROFIL


Kein Menschenschinder
kann sich darauf berufen,
er habe nur Befehle befolgt

Merz sollte den Mumm
haben, die Machtfrage
auch offen zu stellen

HERAUSGEGEBEN VOM SÜDDEUTSCHEN VERLAG
VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
CHEFREDAKTEURE:
Kurt Kister, Wolfgang Krach
NACHRICHTENCHEFS:
Iris Mayer, Ulrich Schäfer
AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
INNENPOLITIK:Ferdos Forudastan; Detlef Esslinger
SEITE DREI:Alexander Gorkow; Karin Steinberger
INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
Nicolas RichterKULTUR:Andrian Kreye, Sonja Zekri
WIRTSCHAFT: Dr.Marc Beise
SPORT:Klaus Hoeltzenbein WISSEN: Dr.Patrick Illinger
PANORAMA:Felicitas Kock, Michael Neudecker
GESELLSCHAFT UND WOCHENENDE:Christian Mayer,
Katharina RiehlMEDIEN:Laura Hertreiter
REISE, MOBILITÄT, SONDERTHEMEN:Peter Fahrenholz
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E


in 84-jähriger Franzose will eine
Moschee anzünden. Als zwei Män-
ner ihn dabei überraschen, schießt
er sie nieder. Ermittler werden nun dar-
über nachdenken müssen, in welchen An-
teilendieserAngriffinBayonnedavonaus-
gelöst wurde, dass der Täter psychische
Problemehatte,undinwelchenTeilenda-
von, dass er Rassist war. Das Umfeld des
Mannes berichtet, dass beides wahr ist.
Sicher ist, wem der Täter schaden woll-
te: Muslimen. In Frankreich gab es keine
rassistische Mordserie wie durch den NSU
in Deutschland. Doch das Land steht vor
ähnlichen Herausforderungen. Im Okto-
ber 2017 wurden Männer mit Verbindun-
gen ins rechtsradikale Milieu festgenom-

men, die Anschläge auf Politiker geplant
hatten; im Juni 2018 eine rechtsradikale
Gruppe, die Imame und verschleierte
Frauen attackieren wollte.
Genährt wird der Hass von drei Grup-
pen. Da wären Berufspolemiker, wie der
Publizist Éric Zemmour, die auf allen Ka-
nälen ihre Abneigung gegen Muslime und
Eingewanderte verbreiten. Dann all jene,
die dazu übergegangen sind, die Politike-
rin Marine Le Pen zu behandeln, als sei sie
„die Stimme des Volkes“ und nicht Chefin
einer im Faschismus verwurzelten Partei.
Und schließlich jene, die im Namen der
Terrormiliz IS Tod und Angst brachten.
Das Kalkül geht auf: Die tolerante Gesell-
schaft ächzt. nadia pantel

DerGeneralstabschefderUS-
Streitkräfte, Mark Milley,
sagte bei einer Pressekonfe-
renz,diesterblichenÜberres-
te des IS-Anführers Abu
Bakr al-Bagdadi seien „angemessen“ auf
hoherSeebeigesetztworden.GenaueAn-
gaben über Ort und Ablauf machte er
nicht. Diese Art der Bestattung erinnert
an die von Osama bin Laden: Der Grün-
der von al-Qaida war 2011 von einem
Team der Navy Seals in Pakistan getötet
worden. Anschließend war die Leiche in
einweißesLakengewickeltundvomFlug-
zeugträgerUSS Carl Vinsonausaufhoher
See bestattet worden. Die Seebestattung
ist eine Form der Naturbestattung und
nichts für Traditionalisten. In Deutsch-
land wurde 1925 festgelegt, dass Besat-
zungsmitglieder der Marine auf See be-
stattet werden können. Das Feuerbestat-
tungsgesetz aus dem Jahr 1934 legte fest,
dass die Feuerbestattung der Erdbestat-
tung gleichstellt ist, erlaubte so mit Aus-
nahmegenehmigung grundsätzlich die
Seebestattung. Erst in den Siebzigerjah-
ren wurde sie langsam populär. Heute ist
sie vor allem in den norddeutschen Bun-
desländern verbreitet. Seebestattungen
finden außerhalb der Reichweite von Fi-
schern und Wassersportlern im Abstand
vonmindestensdreiSeemeilenzurKüste
statt. Die Urne mit der Asche besteht aus
wasserlöslichem Material, zum Beispiel
aus Pappmaché. areu

(^4) MEINUNG Mittwoch, 30. Oktober 2019, Nr. 251 DEFGH
FOTO: REUTERS
FRANKREICH
Hass und Kalkül
CDU
Stürzen oder stützen
von robert roßmann
AKTUELLES LEXIKON
Seebestattung
Dennis
Muilenburg

Boeing-Chef,
der plötzlich
Mitgefühl zeigt
Als Demokratie wirkt das Land
wie ein idealer Partner, gäbe es
nicht die vielen Schattenseiten

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