Süddeutsche Zeitung - 30.10.2019

(C. Jardin) #1
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von christian endt

München − Die jungen Thüringer unter
30 Jahren wählen keine Partei häufiger
als die AfD. Diese Erkenntnis ergibt sich
aus den Nachwahlbefragungen der For-
schungsgruppe Wahlen für die Landtags-
wahl am vergangenen Sonntag. Ein Be-
fund, der viele überraschte Reaktionen her-
vorrief (obwohl es bei der Sachsen-Wahl
im September genauso war) – sind die
jungen Leute nicht die, die freitags für den
Klimaschutz auf die Straße gehen, welt-
offene, liberale Grünen-Wähler? Und ist
die AfD nicht vielmehr die Partei der alten,
unzufriedenen, engherzigen Männer?
Ein Blick in die Wahlforschung zeigt,
dass all dies nicht ganz richtig und nicht
ganz falsch ist. Ältere Menschen wählen in
der Tat vergleichsweise selten AfD. Die ver-
lässlichste Anhängerschaft der Rechtsau-
ßen-Partei ist im mittleren und gesetzte-
ren Alter: In den Altersgruppen zwischen
35 und 70 Jahren erreicht sie den größten
Stimmanteil. Bei den Jungen schneidet die
AfD unterdurchschnittlich ab; durch die
Schwäche von Union und SPD bei dieser Al-
tersgruppe ist die Hürde für den ersten
Platz aber auch besonders niedrig. Man-
cherorts profitieren davon die Grünen, et-
wa in Baden-Württemberg und Branden-
burg, anderswo eben die AfD.

Das lässt sich aus der repräsentativen
Wahlstatistik ablesen, die der Bundeswahl-
leiter herausgibt. Sie gibt Aufschluss über
das Wahlverhalten nach Geschlecht und Al-
ter. Anders als die Daten der Meinungsfor-
scher beruht die Wahlstatistik nicht auf
Befragungen am Wahltag, sondern aus ei-
ner anonymen Auswertung von repräsenta-
tiv ausgewählten Stimmzetteln. Die Wahl-
statistik ist daher zuverlässiger und ermög-
licht präzisere Auswertungen als die Nach-
wahlbefragungen. Ihre Erstellung dauert
einige Zeit, darum sind die neuesten Zah-
len jene für die Europawahl vom Mai
dieses Jahres. Vorteilhaft ist, dass der
Europawahlkampf weniger von starken
Persönlichkeiten geprägt war, was die
Daten verzerren würde.

Zusätzlich zur Altersverteilung lohnt es
sich, Geschlecht und Wohnort genauer an-
zusehen. Aus der Kombination aller drei
Merkmale ergibt sich eine dramatische
Spanne: Mit 2,9 Prozent der Stimmen hat
die AfD bei Frauen zwischen 18 und 24 Jah-
ren in Westdeutschland den geringsten Er-
folg; bei ostdeutschen Männern zwischen

45 und 59 Jahren erreicht sie mit 32,4 Pro-
zent mehr als den zehnfachen Anteil.
Zur multiplen Spaltung zwischen Män-
nern und Frauen, Ost und West, Jungen
und nicht ganz so Jungen kommt ein gro-
ßes Stadt-Land-Gefälle: Bei der Landtags-
wahl wählten in den sechs kreisfreien Städ-
ten Thüringens 19 Prozent die AfD, in den
Landkreisen dagegen 25 Prozent. Insbe-
sondere in Ostdeutschland spielt die regio-
nale Entwicklung außerdem eine große
Rolle: In Landkreisen mit schrumpfender
Bevölkerung ist der Anteil der rechten Wäh-
ler deutlich höher als dort, wo Menschen
zuziehen. In Westdeutschland lässt sich
ein solcher Effekt nicht festmachen.
Parallel zu den Erfolgen der AfD werden
bei vielen Wahlen steigende Beteiligungen
festgestellt. Tatsächlich deuten Nachwahl-
befragungen darauf hin, dass die AfD viele
Nichtwähler für sich gewinnen kann. Eine
Studie der Politikwissenschaftler Stefan
Haußner und Arndt Leiniger kann jedoch
keinen klaren Zusammenhang feststellen.
Einen anderen Blick auf die AfD-Wähler-
schaft und die Gesellschaft insgesamt
ermöglicht eine aktuelle Studie unter dem
Titel „Die andere deutsche Teilung“. Die
Autoren von der Organisation More in Com-
mon glauben, dass soziodemografische In-
dikatoren wie Alter, Geschlecht, Wohnort
und Einkommen als Erklärungsmuster für

Populismus und andere Entwicklungen zu
kurz greifen. In ihrer repräsentativen Stu-
die, für die sie mit dem Institut Kantar
Public mehr als 4000 Menschen befragt
haben, verwenden sie stattdessen einen
sozialpsychologischen Ansatz, der die Men-
schen gemäß ihren Überzeugungen und ih-
rer Selbsteinschätzung in sechs Gruppen
einteilt. Zwei dieser Gruppen wählen
besonders häufig die AfD, und diese bei-
den Gruppen sind grundverschieden. „Die
Gruppe der Wütendenden zeichnet ein ge-
schlossen nationales Weltbild aus“, sagt
Laura-Kristine Krause, eine der Autorin-
nen der Studie. „Sie lehnen Migration
rundheraus ab und misstrauen dem demo-
kratischen System in Deutschland grund-
sätzlich.“ Die Wütenden sind politisch
stark engagiert, vor allem in den sozialen
Medien. Die Gruppe der Enttäuschten sei
ebenfalls migrationskritisch eingestellt,
vor allem wünsche sie sich aber eine ge-
rechtere Gesellschaft. „Das sind häufig
Menschen, die hart arbeiten müssen, etwa
in der Pflege, und sich von der Gesellschaft
nicht wertgeschätzt fühlen“, sagt Krause.
Zu dieser Gruppe gehören der Studie zufol-
ge viele junge Menschen und mehrheitlich
Frauen. Neben AfD-Anhängern sind beson-
ders häufig Nichtwähler bei den Enttäusch-
ten zu finden, von der Politik haben sich
viele entfernt.

Berlin – Acht Wochen lagen zwischen den
Wahlniederlagen in Sachsen und Branden-
burg und dem Triumph von Thüringen.
Acht Wochen, in denen sie sich bei der Lin-
ken fest vorgenommen haben, keine öffent-
lichen Personaldebatten zu führen. Mit
Blick auf die ausgeprägte Streitkultur die-
ser Partei lässt sich nun bilanzieren: Es ist
ein kleines Wunder geschehen. Sie haben
tatsächlich acht Wochen durchgehalten.
Andererseits sind jetzt auch schon fast
acht Monate vergangen, seit Sahra Wagen-
knecht ihren Rücktritt von der Spitze der
Bundestagsfraktion ankündigte, am Sonn-
tag saß sie aber immer noch als Fraktions-
vorsitzende bei Anne Will. An Wagen-
knecht liegt es nicht, dass aus dem Vollzug
ihres Rückzugs bislang nichts wurde. Auch
in der Parteispitze und der Fraktion dürf-
ten die meisten erleichtert sein, wenn es

endlich vorbei ist. Wagenknecht mag wei-
terhin die beste Talkshow-Option der Lin-
ken sein, aber die Streitereien und Intrigen
rund um sie herum haben auf allen Seiten
Kraft gekostet. Es gibt nur einen Grund,
weshalb sich die Partei seit März ein sol-
ches Führungsvakuum leistet: weil sich al-
le gut genug kennen, um zu ahnen, dass
die Besetzung der Planstelle an der Seite
von Fraktionschef Dietmar Bartsch nicht
geräuschlos ablaufen dürfte – und es keine
gute Idee gewesen wäre, damit den Wahl-
kämpfer Bodo Ramelow zu stören.
Aber nun ist die selbstverordnete Schon-
zeit vorbei. Am Dienstag hat die stellvertre-
tende Fraktionsvorsitzende Caren Lay, 46,
ihre Kolleginnen und Kollegen in der Frak-
tion darüber informiert, dass sie sich um
die Nachfolge Wagenknechts bewirbt. „Ich
möchte die Fraktion aus der Mitte heraus
führen“, heißt es in ihrem Bewerbungs-
schreiben, das derSüddeutschen Zeitung
vorliegt. Die Wahl findet am 12. November
statt. Wer vorhat, gegen Lay anzutreten,
muss sich nach dem achtmonatigen Schne-

ckenrennen plötzlich beeilen. Dietmar
Bartsch, 61, der die Fraktion seit März de
facto alleine führt, wird ebenfalls wieder
kandidieren. Ihm wird nachgesagt, dass er
an seiner Solorolle Gefallen gefunden ha-
be. Ihm sei aber auch deutlich signalisiert
worden, dass er wieder eine Frau an seine
Seite gestellt bekomme.
Caren Lay wurde in Rheinland-Pfalz ge-
boren, wuchs in der Eifel auf, machte als
Erste in ihrer Familie Abitur, studierte So-
ziologie in Frankfurt am Main, lehrte an
der FU Berlin, tanzte gerne im Berghain,
schrieb Reden für die frühere Bundesmi-
nisterin der Grünen, Renate Künast, und
trat 2004 in die PDS ein. Über den Umweg
des Sächsischen Landtags gelangte sie
2009 in den Bundestag. Ihr Wahlkreis liegt
in Bautzen. Sie ist weder Wessi noch Ossi,
sondern Wossi.
Sie gilt auch innerhalb der komplexen
Machtarithmetik der Linken als Brücken-
bauerin, sie war schon Parteivize und Frak-
tionsvize, Parlamentarische Geschäftsfüh-
rerin und Bundesgeschäftsführerin. Mit
Lay verbinden viele führende Linke die
Hoffnung auf ein Ende des Rosenkriegs
zwischen der Fraktionsspitze und dem Par-
teivorstand um Katja Kipping und Bernd
Riexinger. Was die Außendarstellung be-
trifft, strebt Lay einen Neuanfang an. Das
kann nur bedeuten, dass sie sich um die so-
genannten Sachthemen kümmern will.
Es dürfte ihrer Kandidatur nicht abträg-
lich sein, dass sie das derzeit prominentes-
te linke Sachthema seit Jahren maßgeblich
vorangetrieben hat: den Mietendeckel.
Seit 2016 ist sie die wohnungspolitische
Sprecherin der Linken im Bundestag. Als
Fraktionsvorsitzende will sie die Mieten-
frage über Berlin hinaus zu einem Marken-
kern der Linken machen. Unter anderem
so soll es gelingen, die Fraktion „wieder
nach vorne, in die Offensive zu bringen“,
wie Lay schreibt.
Jetzt muss sie nur noch gewählt werden.
Es ist nicht auszuschließen, dass es zu
einer Kampfabstimmung kommt, die die-
sen Namen auch verdient. Die Fraktion
wurde zuletzt bestimmt vom sogenannten
Hufeisen, einem Zweckbündnis zwischen
Bartschs Reformer-Lager und dem linken
Wagenknecht-Flügel. Bei einer Doppelspit-
ze Bartsch/Lay wäre die treue Anhänger-
schaft, die Sahra Wagenknecht immer
noch hat, in der ersten Reihe gar nicht
mehr repräsentiert. boris herrmann

Leipzig – Im Thüringer Landesverband
der CDU hat ein Ringen um die richtigen
Schlüsse aus der Landtagswahl am Sonn-
tag begonnen. Nachdem der Landesvorsit-
zende und Spitzenkandidat Mike Mohring
sich am Montagmorgen noch offen für ei-
ne Zusammenarbeit mit der Linkspartei
gezeigt und mit Blick auf die Ablehnung ei-
ner solchen Zusammenarbeit durch sei-
nen Bundesverband erklärt hatte, er „brau-
che nicht Berlin, um zu wissen, was für Thü-
ringen nützlich ist“, äußerte sich Mohring
am Montagabend zurückhaltender. Nach
einer Beratung erklärte der Landesver-
band, es gelte „nach der Wahl das Gleiche
wie vor der Wahl: Keine Koalition mit LIN-
KE oder AfD“. Mohring selbst sagte, er kön-
ne sich „keine Situation vorstellen“, in der
die amtierende rot-rot-grüne Landesregie-
rung durch die CDU „in eine neue Regie-
rungsverantwortung gehoben wird. Das
schließe ich aus“.

Das Wahlergebnis in Thüringen lässt
keine logischen Mehrheiten im Landtag
zu, mathematisch möglich wären aber
zum Beispiel die Tolerierung einer rot-rot-
grünen Minderheitsregierung etwa durch
die CDU oder auch ein Bündnis dieser CDU
mit der Linkspartei, dem allerdings nicht
allein Beschlusslagen in Bund und Land
entgegenstehen. Mohring erklärte, er
wolle der Einladung von Ministerpräsi-
dent Ramelow zu Gesprächen „aus staats-
politischer Verantwortung nachkommen –
nicht mehr und nicht weniger“. Die seiner
Einschätzung nach schlechteste aller Lö-
sungen für Thüringen bestehe darin,
„wenn eine abgewählte Regierung nach
der Wahl geschäftsführend im Amt bleibt“.
Möglich wäre dies allerdings, die Thürin-
ger Verfassung setzt keine Frist für die
Wahl eines neuen Regierungschefs.
Neben der Ablehnung einer Kooperati-
on mit der Linken aus dem Bundesvor-
stand der CDU bekommt es Mohring auch
mit Unruhe in seinem Landesverband zu
tun. Vor diesem Hintergrund ist auch ein
Interview zu verstehen, dass der stellver-
tretende Landesvorsitzende Mario Voigt
nach der Wahl derOstthüringer Zeitungge-
geben hat. Voigt wies darin darauf hin,
dass bei der Wahl die CDU-Direktkandida-
ten in den Kreisen deutlich besser abge-
schnitten hätten, als die Partei Zweitstim-
men geholt habe. Eine Ursache für den Ab-
sturz der CDU um 11,7 Prozentpunkte auf
nur noch 21,8 Prozent bestehe in der Zu-
spitzung auf das Duell Ramelow gegen
Mohring zu Ungunsten des Letzteren.
Voigt sagte zudem, er finde es „irritierend,
dass Gesprächsangebote in Richtung Lin-
ke verbreitet werden“, ein Wortbruch in
der Frage der Zusammenarbeit mit dieser
wäre „der Todesstoß für die Union und ein
Konjunkturprogramm für die AfD“. Mit
ihm jedenfalls sei kein Angebot an die Lin-

ke inhaltlich abgesprochen gewesen. Voigt
sagte: „Mit mir hat niemand dazu geredet.“
Indes sprach sich Thüringens Altminis-
terpräsident Bernhard Vogel (CDU) in der
Thüringer Allgemeinendafür aus, zumin-
dest Gespräche mit der Linkspartei zu füh-
ren. „Für uns gilt: erst das Land, dann die
Partei, dann die Person.“ Klar sei für ihn al-
lerdings auch, „eine Koalition mit der Lin-
ken kommt für uns weiterhin nicht infra-
ge“. In der Anhängerschaft der CDU wieder-
um sind laut dem Wahlforschungsinstitut
Infratest Dimap gut zwei Drittel der An-
sicht, dass über die Frage einer Koalition
mit der Linkspartei neu entschieden wer-
den solle.
Diese Linkspartei will mit den bisheri-
gen Partnern SPD und Grüne an diesem
Mittwoch ausloten, wie es mit dem Bünd-
nis weitergehen kann, das nun über keine
eigene Mehrheit im Landtag mehr verfügt.
Fakt sei dennoch, sagte die Landesvorsit-
zende der Linken, Susanne Hennig-Well-
sow, dass ihr Verband mit SPD und Grünen
erneut versuchen wolle, eine Regierung zu
bilden. SPD-Fraktionschef Matthias Hey
sagte, „wir stellen uns nicht in die Ecke und
trotzen, weil wir ein schlechtes Wahlergeb-
nis erzielt haben“. Der Chef des Thüringer
Landesverbandes der Sozialdemokraten,
Wolfgang Tiefensee, äußerte sich ähnlich.
Er sagte, „die SPD steht bereit, Verantwor-
tung zu übernehmen“. Bei den Grünen
hieß es, Stabilität für Thüringen habe Vor-
rang. Ob in diesem Sinne allerdings eine
Minderheitsregierung der richtige Weg
sei, „werden wir besprechen müssen“, sag-
te Grünen-Fraktionschef Dirk Adams.
Bei der Landtagswahl am Sonntag hatte
die Linke zwar zulegen können (+ 2,8), die
Grünen aber hatten leicht (- 0,5), die SPD
sogar deutlich verloren (- 4,2). Während
Rot-Rot-Grün in der vergangenen Amts-
periode noch über eine Stimme Mehrheit
im Landtag verfügt hatte, fehlen zu dieser
Mehrheit nun vier Sitze. Die Regierungsbil-
dung in Erfurt ist nach der Wahl auch des-
wegen so kompliziert, weil mit der von
Björn Höcke geführten AfD eine Partei fast
ein Viertel aller Wählerstimmen gebunden
hat, mit der keine der anderen zusammen-
arbeiten möchte. cornelius pollmer

München – Es waren dürre eineinhalb Sei-
ten, auf denen die Bundesanwaltschaft am
Dienstag einen Aufsehen erregenden Er-
folg vermeldete. Den Karlsruher Ermitt-
lern ist es gelungen, Anklage zu erheben ge-
gen die syrischen Staatsbürger Anwar R.
und Eyad A., die als Asylbewerber nach
Deutschland gekommen waren. Sie waren
jedoch keine Opfer des Regimes von Macht-
haber Baschar al-Assad, sie waren Täter.
Die nüchternen Ausführungen der Er-
mittler fassen das Schicksal von mindes-
tens 4000 Menschen zusammen, die in Sy-
rien ab 2011 für mehr Freiheit auf die Stra-
ßen gingen und stattdessen das Grauen
kennenlernten. Sie wurden im Gefängnis
der Abteilung 251 von Assads Sicherheits-
apparat gefoltert, in dem „selbst für die
Maßstäbe syrischer Geheimdienste“ bruta-
le Methoden angewandt wurden, wie der
Bundesgerichtshof in einem Haftent-
scheid feststellte. Von „Schlägen mit Fäus-
ten, Stöcken, Rohren, Kabeln, Peitschen
und Schläuchen“ ist nun in der Anklage die
Rede, von Elektroschocks, Vergewaltigun-
gen und Häftlingen, die an den Handgelen-
ken aufgehängt wurden.

Überwacht und geleitet haben soll das
Gefängnis Anwar R., der in der Abteilung
251 des Geheimdienstes als Oberst diente
und die Unterabteilung für „Untersuchun-
gen“ leitete. Die Menschen, die im Keller
des Gebäudes in der Bagdadstraße in Da-
maskus misshandelt wurden, führte ihm
unter anderem Eyad A. zu, der eine Greif-
truppe in der Abteilung 40 angeführt ha-
ben soll: Seine Männer jagten laut den
Karlsruher Ermittlern Demonstranten auf
den Straßen der Hauptstadt und in Voror-
ten; brachten, wem sie habhaft wurden, zu
Anwar R. Was die Aufgegriffenen zu erwar-
ten hatten, wusste Eyad A.: „Wenn jemand
an Demonstrationen teilgenommen hat,
wurde er in das Gefängnis gebracht und
ihm dort mit dem Wasserkocher der Rü-
cken verbrannt. Stromschläge gab es im-
mer“, sagte er bei einer Vernehmung.
Mittäterschaft bei Verbrechen gegen die
Menschlichkeit wirft die Bundesanwalt-
schaft nun Anwar R. vor. Freiheitsberau-
bung und Folterung von mindestens 30
Menschen Eyad A., die Verfahren sollen
vor dem Oberlandesgericht Koblenz eröff-
net werden. Weil solche monströsen Ver-

brechen nach dem Weltrechtsprinzip auch
in Drittstaaten angeklagt werden können,
die weder Schauplatz der Taten waren,
noch eine Beteiligung eigener Staatsbür-
ger verfolgen, haben das Bundeskriminal-
amt und die Bundesanwaltschaft vor Jah-
ren Ermittlungen begonnen. Mit der nun
erhobenen Anklage müssen sich weltweit
erstmals Mitglieder von Assads Unterdrü-
ckungsapparat für ihre Taten verantwor-
ten – selbst die Institutionen der Vereinten
Nationen waren daran bislang gescheitert.

Nach Recherchen vonSüddeutscher Zei-
tung,NDR und WDR und stützt sich die An-
klage der Ermittler auf die Aussagen von
52 Zeugen, die wie die Verdächtigen aus Sy-
rien geflohen sind. Als die beiden Männer
im Februar in Berlin und Zweibrücken ver-
haftet wurden, sprach sich das schnell in
der Exilgemeinde herum. Syrer aus ganz
Europa sagten aus, zum Prozess werden
Zeugen aus Frankreich, Schweden und der
Schweiz anreisen, um – teils aus Angst vor
Repressionen anonym – die Gräueltaten in
der Abteilung 251 zu beschreiben. Die meis-
ten kennen die Zustände dort sehr genau,
40 von ihnen waren hier selbst inhaftiert,
ein Mann „im weitesten Sinne“ für die Ab-
teilung tätig.
Anwar R. und Eyad A. haben ihre Taten
nie verleugnet, sie im Gegenteil gegenüber
den Ermittlern als normalen Teil ihres
Jobs beschrieben. Und auch wenn Eyad A.
angegeben hat, er sei „absolut gegen Ge-
walt gegenüber Zivilisten“ und deshalb de-
sertiert, glauben die Karlsruher Ermittler
nach Recherchen von NDR, WDR und SZ
nicht an solch hehre Motive: Beide Verdäch-
tigen haben Syrien im Herbst 2012 wohl
verlassen, weil ihnen die Situation dort „zu
heiß“ geworden sei: Anwar R. etwa stamm-
te aus Homs, das bald zu einer Rebellen-
hochburg wurde, Angehörige der Freien Sy-
rischen Armee bedrohten dort wohl die Fa-
milie des Geheimdienstlers. Mit seiner
Flucht nach Deutschland, dachte Anwar
R., sei diese Vergangenheit abgehakt –
nicht wissend, dass die Ermittler in Karls-
ruhe das ganz anders sehen.
moritz baumstieger, lena kampf,
ronen steinke  Seite 4

Simmern – Landrat Marlon Bröhr (CDU)
aus dem rheinland-pfälzischen Hunsrück
wirbelt die Pläne der Landespartei für die
Nominierung des Spitzenkandidaten für
die Landtagswahl 2021 durcheinander.
Der 45 Jahre alte Bröhr kündigte am
Dienstag in Simmern an, auf dem Landes-
parteitag am 16. November gegen Partei-
und Fraktionschef Christian Baldauf an-
zutreten. Baldauf war seit Längerem fest
gesetzt als Herausforderer von Minister-
präsidentin Malu Dreyer (SPD) und sollte
im November zum Spitzenkandidaten ge-
kürt werden.
Der als ehrgeizig bekannte Bröhr emp-
fahl sich vor Journalisten in Simmern als
ein Mann, der größere Chancen habe, der
rheinland-pfälzischen CDU nach fast drei
Jahrzehnten wieder einen Sieg bei einer
Landtagswahl zu bescheren. Er sei ein
Seiteneinsteiger, nicht verwoben in Partei-
netzwerke, kenne aus seiner kommunalen
Tätigkeit die politische Praxis und sei
vergleichsweise jung. Er könne für einen
Neuanfang der Union stehen. In den Mittel-
punkt seiner Bewerbung will er die desola-
te Lage der vielen verschuldeten Kommu-
nen in Rheinland-Pfalz stellen.
In der Parteispitze in Mainz werden
dem einstigen Zahnarzt, der seit 13 Jahren
kommunalpolitisch aktiv ist, aber nur
Außenseiterchancen eingeräumt. Baldauf,
der seine Spitzenämter in Partei und
Fraktion von der als Agrarministerin nach
Berlin gewechselten Julia Klöckner über-
nommen hatte, kann sich der Unterstüt-
zung bedeutender Teile der Landespartei,
darunter auch die der Jungen Union,
sicher sein. Der Jurist gilt als verbindlich
und bodenständig, ist aber in seiner lan-
gen politischen Tätigkeit stets eher etwas
blass geblieben.
Der Parteitag in Neustadt an der Wein-
straße muss auch darüber entscheiden, ob
die CDU-Mitglieder Mitsprache bei der
Spitzenkandidatenkür bekommen. Einen
entsprechenden Antrag stellte die CDU aus
Kirchberg im Hunsrück. Bröhr unterstützt
eine Mitgliederbefragung, er erhofft sich
davon offenkundig mehr Zustimmung.
Die Führung der Landes-CDU, die eine
Mitgliederbefragung eher skeptisch sieht,
reagierte betont gelassen auf die Ankündi-
gung Bröhrs. Der Landesvorstand habe Bal-
dauf einstimmig nominiert, entscheiden
würden die Delegierten des Parteitages,
betonte Generalsekretär Gerd Schreiner in
Mainz. susanne höll

In der 2018 vom Regime wiedereroberten Gegend Ghouta bei Damaskus regte sich
früh Opposition. Eyad A. verhaftete hier 2011 Demonstranten. FOTO: A. EASSA/AFP

Ende der Schonzeit


Nach Thüringen-Wahl: Linke eröffnet Kampf um Fraktionsspitze


Kuck mal, wer


da spricht


In Thüringen wollen viele Parteien reden, mehr aber noch nicht


Anfällig für die Populisten


Nach den jüngsten Erfolgen der AfD in Thüringen richtet sich der Fokus auf deren viele junge Wähler.
Doch eine bessere Erklärung könnte ein sozialpsychologischer Ansatz liefern

„Stromschläge gab es immer“


Bundesanwaltschaft klagt Mitglieder von Syriens Folterregime an – weltweit erstmals


Kampfkandidatur


bei der Mainzer CDU


Strebt an die Frakti-
onsspitze: Caren
Lay, bisherige Stell-
vertreterin in die-
sem Amt. Die 46-Jäh-
rige ist wohnungspo-
litische Sprecherin
der Linken und will
einen bundesweiten
Mietendeckel.FOTO: DPA

Wer wählt die AfD?


18 bis 24 Jahre
25 bis 34 Jahre
35 bis 44 Jahre
45 bis 59 Jahre
60 bis 69 Jahre
70 und älter

18 bis 24 Jahre
25 bis 34 Jahre
35 bis 44 Jahre
45 bis 59 Jahre
60 bis 69 Jahre
70 und älter

9,

Alter und Geschlecht Frauen Männer Wo die Bevölkerung schrumpft, ist die AfD besonders stark Sozialpsychologische Gruppen

Wahlabsicht für die AfD

Ostdeutschland

Westdeutschland

15,
17,
18,
17,
11,
15,
23,
29,
32,
29,
20,

2,
4,
6,
7,
7,
4,
6,
10,
13,
14,
13,
9,

Landkreise und kreisfreie Städte in
Die Größe der Punkte steht für die Zahl der Einwohner

aus der Studie „Die andere deutsche Teilung“,
Bevölkerungsanteile in Deutschland, in Prozent

Die Offnenen
Selbstentfaltung, Weltoffenheit,
kritisches Denken

16 %


Die Pragmatischen
Erfolg, privates Fortkommen,
16 % Kontrolle vor Vertrauen

Die Enttäuschten
(Verlorene) Gemeinschaft, (fehlende)
14 % Wertschätzung, Gerechtigkeit

Die Wütenden
Nationale Ordnung, Systemschelte,
19 % Misstrauen

Die Involvierten
Bürgersinn, Miteinander, Verteidigung
von Errungenschaften
17 %

Die Etablierten
Zufriedenheit, Verlässlichkeit,
17 % gesellschaftlicher Frieden

Die Wütenden

Die Pragmatischen

Die Enttäuschten

Die Etablierten

Die Involvierten

Die Offenen
3

3

5

17

28

51

Ostdeutschland bzw. Westdeutschland

Wahlergebnis der AfD in Prozent bei der Europawahl 2019

Bevölkerungsentwicklung 2017 in Prozent

0

10

20

30

Quellen:
Bundeswahlleiter,
Statistischen Ämter des
Bundes und der Länder,
More in Common Deutschland

Europawahl 2019, in Prozent

-2 -1 0 +1 +

Im Harz schrumpfte die in Prozent
Bevölkerung um 1,5 %,
die AfD erzielte 17,9 %.

In Gera wuchs die Bevölkerung
um 0,1 Prozent, die AfD
erzielte 29,6 Prozent.

GRAFIK: CHRISTIAN ENDT UND SARAH UNTERHITZENBERGER

DEFGH Nr. 251, Mittwoch, 30. Oktober 2019 (^) POLITIK 5
Der Thüringer CDU-Chef Mohring
bekommt es nun mit Unruhe in
seinem Landesverband zu tun

Mike Mohring und die CDU suchen nach
einer Haltung zur Linken. F.: M. KAPPELER / DPA
Es gibt 52 Zeugen, manche reisen
aus Frankreich, Schweden
und der Schweiz zum Prozess
In den Städten wählten 19 Prozent
die Höcke-Partei, auf dem Land
waren es 25 Prozent

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