Süddeutsche Zeitung - 30.10.2019

(C. Jardin) #1
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Washington – Noch bis vor wenigen Ta-
gen war Alexander Vindman selbst in Wa-
shington nur wenigen Leuten ein Begriff.
Nun ist er zu einer der zentralen Figuren
im Drama um das Impeachment-Verfah-
ren gegen den US-Präsidenten geworden.
Ein Held und Patriot für Donald Trumps
Gegner – ein Doppelagent für einige von
dessen lautesten Unterstützern. Vindman
arbeitet im Nationalen Sicherheitsrat des
Präsidenten, jenem Gremium, das die Si-
cherheitspolitik der USA koordiniert. Er ist
dort zuständig für die Beziehungen zur
Ukraine. Am Dienstag erschien der Oberst-
leutnant in Uniform vor einem Ausschuss
des Repräsentantenhauses, um über die
Ukraine-Affäre auszusagen – als nächster
Mitarbeiter der Trump-Regierung, der
den Präsidenten in dieser Sache belastet.
Vindmans Auftritt fand hinter verschlos-
senen Türen statt. Die Stellungnahme, die
er verlas, fand aber bereits am Vorabend
den Weg in US-Medien. Darin beschreibt
Vindman, wie er und andere Berater mit-
hörten, als Trump am 25. Juli mit dem
ukrainischen Präsidenten Wolodimir Se-
lenskij telefonierte. Im Gespräch forderte
Trump Selenskij auf, gegen den demokrati-
schen Präsidentschaftskandidaten Joe Bi-
den und dessen Sohn Hunter eine Untersu-
chung wegen Korruption aufzunehmen.
„Ich war über den Anruf beunruhigt“,
schreibt Vindman in der Stellungnahme.
Eine fremde Regierung aufzufordern, ge-
gen US-Bürger zu ermitteln, erschien ihm
„nicht korrekt“. Er machte sich auch Sor-
gen, dass die für die Ukraine wichtige Un-
terstützung durch die USA durch partei-
politische Manöver gefährdet würde.
Seine Bedenken teilte Vindman dem
Chefjuristen des Nationalen Sicherheits-
rats mit. Es war das zweite Mal, dass er sich
an diesen wandte. Bereits am 10. Juli hatte
eine Gruppe von Trump-Mitarbeitern un-
ter der Führung von Gordon Sondland,
dem US-Botschafter in Brüssel, eine ukrai-
nische Delegation in Washington empfan-

gen. Dabei habe Sondland den Ukrainern
klargemacht, dass es einen von Selenskij
angestrebten Besuch im Weißen Haus nur
geben werde, wenn dieser gegen die Bi-
dens ermittle. „Ich habe Sondland anschlie-
ßend mitgeteilt, dass seine Aussagen unan-
gebracht waren“, schreibt Vindman. Und
er habe auch diesen Vorgang dem Juristen
der Behörde gemeldet.

Grundlegend neu ist das nicht. Doch es
verfestigt das Bild, das ein anonymer
Whistleblower in der Beschwerde gezeich-
net hatte, die das Verfahren losgetreten hat-
te. Dass Mitarbeiter wie Vindman nun rei-
henweise gegen den Willen des Weißen
Hauses vor dem Kongress aussagen, ist ein
Rückschlag für Trump. In seiner Stellung-
nahme schreibt Vindman, der als Sohn
ukrainischer Einwanderer in die USA kam
und als Infanterieoffizier im Irak verwun-
det wurde, dass er aus Patriotismus hand-
le. Es sei seine Pflicht, unabhängig von Par-
teipolitik für Amerika einzustehen. Einige
konservative Kommentatoren zogen dage-
gen bereits seinen Charakter in Zweifel:
Vindman sei aufgrund seiner ukraini-
schen Herkunft nicht zu trauen, so der Te-
nor beim TV-Sender Fox News.
So oder so sind die Demokraten daran,
das Impeachment-Verfahren zu beschleu-
nigen. Für Donnerstag hat die Mehrheits-
führerin Nancy Pelosi erstmals eine Ab-
stimmung im Repräsentantenhaus ange-
setzt, mit der die laufenden Untersuchun-
gen formalisiert werden sollen. Die Opposi-
tion reagiert damit auf Kritik der
Republikaner. Diese werfen den Demokra-
ten vor, das Amtsenthebungsverfahren
auf intransparente Weise durchzuführen,
indem sie Zeugen hinter verschlossenen
Türen vernehmen und deren Aussagen se-
lektiv an die Medien durchstechen wür-
den. An dieser Kritik hält Trumps Partei
nach wie vor fest. Die morgige Abstim-
mung ändere nichts daran, dass es sich um
einen „Scheinprozess“ handle, sagte der re-
publikanische Abgeordnete Jim Jordan.
Die Demokraten planen nun offenbar,
den Anwälten des Präsidenten eine Rolle
im Verfahren einzuräumen, die diese bis-
her nicht hatten. Erwartet wird auch, dass
die Demokraten bald zur nächsten Phase
der Untersuchung schreiten werden, die
aus öffentlichen Anhörungen besteht. Eini-
ge in der Partei hoffen darauf, dort auch
prominente Zeugen wie den früheren Si-
cherheitsberater John Bolton aufbieten zu
können. Das Weiße Haus könnte dies je-
doch gerichtlich anfechten und damit die
Erarbeitung von konkreten Anklagepunk-
ten gegen Trump verzögern. An einer
Verzögerung haben die Demokraten aber
offenbar kein Interesse: Noch vor Weih-
nachten soll es im Repräsentantenhaus
zur Abstimmung über eine Anklage gegen
Trump kommen. Der von den Republika-
nern dominierte Senat würde dann wohl
Anfang 2020 über einen Schuldspruch be-
finden. alan cassidy  Seite 4

von nadia pantel

Paris – Ein 84-jähriger Mann, Claude S.,
hat am Mittwochnachmittag versucht, die
Moschee im südfranzösischen Bayonne in
Brand zu stecken. Er wurde an der Ein-
gangstür des Gebäudes von zwei Männern
überrascht und eröffnete das Feuer. Die
zwei Männer, ein 74-Jähriger und ein
78-Jähriger, wurden schwer verletzt, befin-
den sich aber außer Lebensgefahr. Der Tat-
verdächtige wurde noch am Abend in sei-
nem Haus, im 20 Kilometer entfernten
Saint-Martin-de-Seignanx verhaftet.
Laut Präfektur leistete S. bei seiner Ver-
haftung Widerstand und drohte damit,
Handgranaten einzusetzen. Bei einer Haus-
durchsuchung fand die Polizei Schusswaf-
fen, aber keine Sprengsätze. Der ehemali-
ge Soldat verfügte über Lizenzen, die ihm
das Recht gaben, Schusswaffen zu besit-
zen. Der 84-Jährige gestand noch in der
Nacht auf Donnerstag.
Auch wenn es noch keine offiziellen Er-
mittlungsergebnisse zum Tatmotiv gibt,
zeichnen die Informationen, die sein Um-
feld über ihn gibt, das Bild eines Mannes,
der von politischen Fragen besessen war
und ein rassistisches Weltbild hatte. Der
Fernsehsender BFM hat Nachbarn und Be-
kannte von S. befragt und zitiert diese mit

den Worten: „Er hatte rassistische Ansich-
ten und verbarg sie nicht.“ Mitarbeiter des
Rathauses von Bayonne sagten der Presse-
agentur AFP, dass S. seit Längerem das Rat-
haus nicht mehr betreten durfte, da er so-
wohl den Bürgermeister als auch dessen
Mitarbeiter verbal angegriffen hatte.
S. hatte in der Rente begonnen, als
Hobby-Bildhauer zu arbeiten und wollte
die Verwaltung überreden, seine Werke in
öffentlichen Räumen auszustellen. „Das
war jemand, der Obsessionen hatte“, sagte
Francis Giraudie, Mitarbeiter des Bürger-
meisters, der AFP. Der Regionalzeitung
Sud-Ouestliegt ein Leserbrief von S. vor, in
dem er ankündigt, Frankreichs Präsident
Emmanuel Macron verklagen zu wollen.
Sud-Ouest hatte entschieden, den Brief
nicht zu veröffentlichen, „wegen seines xe-
nophoben, diskriminierenden und diffa-
mierenden Inhalts“.
2015 hatte S. für den rechtsradikalen
Front National bei den Regionalwahlen
kandidiert. Die Partei wurde in den 70er-
Jahren von dem offen rassistischen und an-
tisemitischen Jean-Marie Le Pen gegrün-
det, heute leitet Le Pens Tochter Marine
die Partei und hat sie in Rassemblement
National (RN) umbenannt, doch die Kern-
identität des RN beruht nach wie vor auf
der Ablehnung all dessen, was als „fremd“

deklariert wird. Über S. heißt es in einer
Stellungnahme, er sei nach der Wahl 2015
aus der Partei ausgeschlossen worden, da
er „Äußerungen“ gemacht habe, die „dem
Geist und der politischen Linie des Rassem-
blement National widersprechen“. Welche
Äußerungen dies waren, gibt der RN nicht
bekannt. Auf Twitter reagiert RN-Chefin
Le Pen auf den Angriff auf die Moschee
und sprach von einem „Attentat“, einer
„unglaublichen Tat“, die „im Widerspruch
zu allen Werten unserer Bewegung“ stehe.

Auch Emmanuel Macron äußerte sich am
Mittwochabend auf Twitter: „Die Republik
darf niemals den Hass tolerieren. Alles
wird in die Wege geleitet, um die Täter zu
bestrafen, und um unsere muslimischen
Mitbürger zu beschützen. Dafür engagiere
ich mich.“
Der versuchte Anschlag trifft Frank-
reich in einer Zeit, in der das Land wieder
einmal über den Platz des Islam in der Ge-
sellschaft streitet. Aktuell entzünden sich
die Debatten an der Frage, ob muslimische
Frauen, die ein Kopftuch tragen, ihre eige-

nen Kinder auf Schulausflügen begleiten
dürfen. Das Gesetz hat diese Fälle klar gere-
gelt: Sie dürfen, da sie als Privatpersonen
handeln und nicht zum pädagogischen Per-
sonal zählen. Macron und sein Premiermi-
nister Édouard Philippe haben mehrfach
versucht, die Debatte um das Kopftuch zu
entdramatisieren, indem sie auf die Geset-
ze verwiesen. Gleichzeitig steht die öffentli-
che Debatte jedoch noch unter dem Ein-
druck des Attentats eines mutmaßlichen
Islamisten in der Pariser Polizeipräfektur.
Am 3. Oktober hatte ein Mitarbeiter der Be-
hörde vier seiner Kollegen getötet.
Seit dem Attentat sprechen Macron und
sein Innenminister Christophe Castaner
verstärkt davon, dass der „Kommunitaris-
mus“, also das Entstehen islamisch gepräg-
ter Parallelgesellschaften, und der Islamis-
mus entschieden bekämpft werden müss-
ten. Allerdings gelingt es Castaner dabei
nicht immer, eine klare Linie zu ziehen zwi-
schen berechtigter Wachsamkeit und der
Gefahr, Muslime unter Generalverdacht
zu stellen. Der Präsident der Nationalen Be-
obachtungsstelle gegen Islamophobie, Ab-
dallah Zekri, sagte der AFP über das Atten-
tat von Bayonne: „In diesem aktuellen Kli-
ma der Stigmatisierung des Islams und der
Muslime muss man sich nicht wundern,
dass solche Taten verübt werden.“

Brüssel/Singapur – Zwei Tage vor dem Be-
such von Bundeskanzlerin Merkel in Indi-
en sorgt eine Gruppe von EU-Parlamentari-
ern für Aufsehen, die nach einem Treffen
mit Premier Narendra Modi ins Krisenge-
biet Kaschmir reisen durfte. Es war die ers-
te Delegation dieser Art, seitdem die Zen-
tralregierung das Gebiet für ausländische
Besucher Anfang August abgeriegelt hatte.
Doch schon vor dem Abflug nach Srinagar
brach ein Streit los um die knapp 30 Besu-
cher, die überwiegend rechtsgerichteten
europäischen Parteien angehören.
Sechs Abgeordnete sind Mitglieder des
französischen Rassemblement National
von Marine Le Pen, vier gehören der Brexit-
Partei an und fünf zu Polens rechtsnationa-
ler Regierungspartei PiS. Mit Lars Patrick
Berg, Nicolaus Fest und Bernhard Zimniok
reisten auch drei AfD-Europaabgeordnete
nach Indien. Die Reise wurde von dem in
Neu-Delhi ansässigen Thinktank „Interna-
tional Institute for Non-Aligned Studies“
(IINS) organisiert, sagte Berg der SZ. Er
war aus Termingründen nicht nach Kasch-
mir gereist. Zwei IINS-Mitarbeiter hätten
in Brüssel Vertreter aller Fraktionen ange-
sprochen, so Berg. Auch ein britischer Libe-
raldemokrat sowie ein Sozial- und Christ-
demokrat aus Italien seien mitgereist. „Ich
bewerte meine Teilnahme als wertvoll,
denn die Gespräche haben einen guten Ein-
blick in die indische Sichtweise vermit-
telt“, sagt Berg, der Indien als sicherheits-
politisch wichtigen Partner der EU ansieht.
Die Regierung in Delhi hatte der Krisen-
region im Himalaya Anfang August die Au-
tonomie entzogen, bis vor Kurzem waren
dort Internet und Telefon komplett blo-
ckiert und weitreichende Ausgangssper-
ren verhängt. Delhi beansprucht das über-
wiegend von Muslimen bevölkerte Kasch-
mir komplett für sich, doch auch Pakistan
und China kontrollieren Teile davon. Das
sorgt immer wieder für Spannungen zwi-
schen den drei Atommächten. Im August
kamen Tausende Politiker in Haft, um
gewalttätigen Unruhen vorzubeugen, wie
es in Delhi hieß. Inzwischen sind einige wie-
der auf freiem Fuß, die Beschränkungen
wurden gelockert, doch für ausländische
Journalisten bleibt das Gebiet gesperrt.
Der Modi-nahe TV-Sender „Times
Now“ titelte zum Treffen des Premiers mit

den EU-Abgeordneten bereits: „Die Welt
wird Zeuge der Normalität sein“. Auf Social
Media wurden unzählige Bilder gezeigt,
die Modi beim Händeschütteln mit den
Gästen zeigen: vor sorgfältig drapierten
Fahnen Indiens und der EU. Die Regierung
in Neu-Delhi hatte zuletzt wegen seiner ei-
sernen Politik in Kaschmir Kritik von Men-
schenrechtsgruppen auf sich gezogen.
Auch der US-Senat äußerte sich kritisch
zum „Lockdown“ in Kaschmir, der die
Bewohner stumm schaltete, ihren Bewe-
gungsraum einschränkte und die Wirt-
schaft im Berggebiet nahezu zum Erliegen
brachte. Heftige Kritik kam von Mebooba
Mufti, die Kaschmir einst als Ministerpräsi-
dentin führte und seit Anfang August inhaf-
tiert ist. Ihren Twitter-Account führt nach
eigenen Angaben ihre Tochter, die dort die
„orchestrierte Normalität“ eines „betreu-
ten Picknicks“ für EU-Abgeordnete beklag-
te. Sie fragte, weshalb die indische Opposi-
tion von Kaschmir weiterhin ausgesperrt
bleibt, während rechts-gerichtete EU-Par-
lamentarier in die Region reisen dürften.
Dass indischen und amerikanischen Ab-
geordneten der Zugang verweigert wurde,
habe er nicht gewusst, sagt der AfD-Politi-
ker Berg, der vor der Reise auch mit pakis-
tanischen Diplomaten gesprochen hat. Im
Gespräch mit Modi seien die Verhaftungen
und Internet-Sperren nicht thematisiert

worden, sagte Berg, doch diese Punkte sei-
en später mit Beamten des Außenministe-
riums diskutiert worden.
Die EU-Vertretung in Delhi betonte,
dass die Parlamentarier nicht in offizieller
Mission reisen, sondern privat unterwegs
seien. Eine ähnliche Klarstellung kam
auch vom Europaparlament, das im Sep-
tember über Kaschmir diskutiert hatte.
Damals forderte die Außenbeauftragte Fe-
derica Mogherini, die Einschränkung von
Grundrechten für die Menschen in Kasch-
mir aufzuheben. In der Debatte hatte der
Pole Ryszard Czarnecki Verständnis für
Indien geäußert, das nur auf Terrorbedro-
hung reagiere, und Pakistan beschuldigt:
„Diese Terroristen sind nicht vom Mond
gekommen. Sie kommen aus dem Nachbar-
land. Wir sollten Indien unterstützen.“
Czarnecki ist einer der EU-Abgeordne-
ten, die nicht nur eine halbe Stunde mit Pre-
mier Narendra Modi sprechen konnten.
Sie wurden auch ausführlich von dessen
Sicherheitsberater Ajit Doval gebrieft, was
das hohe Interesse der Regierung an die-
sem Besuch dokumentiert. Das Außenmi-
nisterium in Delhi versicherte, es habe kei-
ne tendenziöse Auswahl der ersten Besu-
cher in Kaschmir getroffen, und dass man
auch anderen ausländischen Gruppen
künftig den Zugang erleichtern wolle.
matthias kolb, arne perras

München – Der libanesische Premier Saad
al-Hariri hat nach Massenprotesten im
ganzen Land am Dienstag seinen Rücktritt
und den seines Kabinetts bei Staatspräsi-
dent Michel Aoun eingereicht. „Ich habe ei-
ne Sackgasse erreicht“, sagte er mit Blick
auf vergebliche Bemühungen, seine Regie-
rung der nationalen Einheit zu einschnei-
denden Reformen zu bewegen. Er müsse
nun „einen großen Schock“ verursachen,
um die Situation aufzulösen, sagte er in ei-
ner Fernsehansprache. Er habe sich 13 Ta-
ge seit Beginn der Proteste um eine Lösung
bemüht, den Forderungen des Volkes ge-
recht zu werden. Dies sei nicht gelungen.
Hariri hatte seine politischen Widersacher
am 18. Oktober per Ultimatum aufgefor-
dert, seine Reformpläne zu unterstützen.

Präsident Aoun hat sich noch nicht zu dem
Rücktritt geäußert. Er müsste ein Über-
gangsregierung benennen.
Der sunnitische Politiker machte seine
Entscheidung bekannt, nachdem Schläger-
trupps der schiitischen Hisbollah-Miliz
und der Amal-Bewegung ein Protestcamp
von Regierungskritikern auf dem Märty-
rerplatz im Zentrum von Beirut attackiert
und zerstört hatten und Demonstranten
auf einer nahegelegenen Brücke verprügel-
ten. Damit zeichnete sich ab, dass die bis-
lang friedlichen Proteste eine gewaltsame
Wendung nehmen könnten. Die Hisbollah
hatte ihre Anhänger aufgerufen, nicht an
den Demonstrationen teilzunehmen, nach-
dem selbst in den von ihr beherrschten
Stadtteilen im Süden Beiruts oder in ihren
Hochburgen im Süden des Landes die Men-
schen gegen Korruption und Misswirt-
schaft auf die Straßen gegangen waren.
Die Proteste, die vor 13 Tagen begonnen
hatten, richteten sich ursprünglich gegen
den Plan der Regierung, auf Telefonate
über den populären Kurznachrichten-
dienst WhatsApp eine Steuer zu erheben.
Die Mobilfunktarife in Libanon gehören zu
den höchsten in der gesamten Region, was
die Menschen auf Korruption zurückfüh-
ren. Schon bald richteten sich die Demons-

tranten aber über alle religiösen und ethni-
schen Trennlinien hinweg allgemein ge-
gen die als korrupt und unfähig angesehe-
ne politische Elite des Landes und forder-
ten eine grundlegende Erneuerung der po-
litischen Ordnung, die auf einem Proporz-
System zwischen den insgesamt 18 Glau-
bensgemeinschaften des Landes beruht.
Die Demonstranten, die zu Hunderttau-
senden in allen größeren Städten des Lan-
des auf die Straßen gingen, skandierten:
„Alle von ihnen heißt alle von ihnen!“ His-
bollah und Amal hatten allerdings deutlich
gemacht, dass sie eine Herausforderung ih-
res Machtanspruchs nicht akzeptieren
würden. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah
hatte jüngst verlangt, die von den Demons-
tranten blockierten Straßen wieder zu öff-
nen. Er unterstellte ihnen öffentlich, sie
würden von „ausländischen Feinden“ fi-
nanziert und würden deren Ziele verfol-
gen. Es ist eine kaum verhüllte Schuldzu-
weisung an Saudi-Arabien und die verei-
nigten Arabischen Emirate, Irans Rivalen
in der Region. Das sunnitische Königshaus
in Riad hatte Libanon die finanzielle Unter-
stützung entzogen, nachdem die von Iran
kontrollierte Hisbollah bei der Bildung der
von Hariri geführten Regierung ihre Forde-

rungen weitgehend durchgesetzt hatte.
Offen ist, ob die Proteste nun abflauen –
die ersten Anzeichen am Dienstagnachmit-
tag sprachen dagegen. Demonstranten ver-
sammelten sich erneut im Zentrum von
Beirut und bejubelten Hariris Ankündi-
gung. Unklar blieb auch, ob es nach der ge-
waltsamen Machtdemonstration von His-
bollah und Amal zu konfessionellen Aus-
einandersetzungen kommen würde oder
die Protestierenden eine Einheit über die
unterschiedlichen Religionen hinweg be-
wahren können. Hariri rief alle Libanesen
auf, den Frieden zu bewahren und zu ver-
hindern, dass sich die wirtschaftliche Lage
des Landes weiter verschlechtert.
Zentralbankchef Riad Salamé hatte am
Montag gewarnt, das Land stehe vor dem
wirtschaftlichen Kollaps, wenn nicht bin-
nen Tagen eine Lösung für die politische
Krise gefunden werde. Die Staatsverschul-
dung beträgt mehr als 150 Prozent der Wirt-
schaftsleistung und ist eine der höchsten
weltweit. Das Bankensystem droht zu kolla-
bieren. Schon seit Monaten können Libane-
sen an Geldautomaten nur noch begrenzt
Dollar abheben, der de facto als Zweitwäh-
rung dient; Ausländer bekommen über-
haupt keine Dollars mehr. Eine Abwertung
des libanesischen Pfunds scheint zuneh-
mend unausweichlich zu sein. Die Banken
und viele Geschäfte sind seit zehn Tagen
geschlossen, ebenso Schulen und staatli-
che Einrichtungen. Das öffentliche Leben
ist durch die Proteste weitgehend gelähmt.
Das seit Jahrzehnten währende politi-
sche Patt in Libanon und die von dem Pro-
porzsystem begünstigte Klientelwirt-
schaft hat dazu geführt, dass der Staat
grundlegende Dienstleistungen nicht er-
bringt. So wird selbst in der Hauptstadt Bei-
rut rollierend der Strom abgeschaltet, was
in besseren Vierteln durch den Betrieb von
Generatoren ausgeglichen wird. Die Müll-
deponien des Landes quellen über, ohne
dass sich die Regierung in den vergange-
nen Jahren auf neue Standorte hätte eini-
gen können. Der Abfall wird daher am Flug-
hafen von Beirut an einem Strand aufge-
türmt. Stürme haben die weißen Säcke auf-
gerissen und ins Mittelmeer gespült. Des-
sen Wasserqualität ist auch durch die Ein-
leitung von Abwässern inzwischen misera-
bel. paul-anton krüger

Der nächste Mitarbeiter


belastet den US-Präsidenten


Demokraten wollen das Verfahren gegen Trump beschleunigen


Rassistische Obsession


Der Attentäter auf eine Moschee in Bayonne war sogar den extremen Rechten zu radikal. Die Tat trifft Frankreich
in einer Zeit, in der das Land wieder einmal erbittert über den Platz des Islam in der Gesellschaft streitet

Orchestrierte Normalität


Indiens Regierung inszeniert den Besuch einer Gruppe EU-Abgeordneter in Kaschmir


Die Demokraten haben es nun
eilig: Vor Weihnachten soll über
eine Anklage abgestimmt werden

Die Proteste entzündeten sich an
einer Whatsapp-Steuer – nun geht
es längst ums große Ganze

Libanons Premier reicht Rücktritt ein


Die Regierung Hariri hat keine Antwort auf anhaltende Massenproteste gefunden


Dürfen Frauen, die ein Kopftuch
tragen, ihre eigenen Kinder
auf Schulausflügen begleiten?

Vorsichtsmaßnahmen: Ein Polizist bewacht den Eingang einer Moschee im Südwesten Frankreichs. FOTO: STR/AP/DPA

DEFGH Nr. 251, Mittwoch, 30. Oktober 2019 (^) POLITIK 7
Die Demokratin Nancy Pelosi hat das
Impeachment angeschoben. FOTO: REUTERS
Indiens Regierungschef Narendra Modi (in weißer Kleidung) im Kreise einer Dele-
gation von EU-Parlamentariern in Delhi. FOTO: GOVERNMENT OF INDIA VIA AP
Seit 13 Tagen demonstrieren die Men-
schen in Libanon. FOTO: MARWAN NAAMANI/DPA
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