Handelsblatt - 30.10.2019

(Barry) #1

Worte des Tages


„Die Politik hat lange Zeit über alle


Parteigrenzen hinweg die Justiz schlicht


vernachlässigt. Ein Staat, der geltendes Recht in


so offenkundiger Weise nicht durchsetzen kann,


entzieht den Bürgern das Vertrauen in die


Handlungsfähigkeit des Rechtsstaats.“


Hans-Jürgen Papier, früherer Präsident des Bundesverfassungsgerichts


Frankreich


Zorn der


Verlierer


B


ahnfahren wird in diesen Ta-
gen in Frankreich zum Ha-
sardspiel. Die staatliche

SNCF weiß selbst nicht mehr sicher,


wann welche Züge fahren werden.


Seit zehn Tagen unterbrechen im-


mer wieder Streiks ohne Ankündi-


gung den Betrieb.


Mit minimalem Aufwand richten


die radikalen Gewerkschaften maxi-


malen Schaden an. Sie brechen die


Gesetze über die Bedingungen für


Ausstände und für Mindestversor-


gung, um den Eindruck einer wuch-


tigen Bewegung zu erwecken. In ei-


nem Reparaturwerk in Westfrank-


reich streiken 200 von 700


Mitarbeitern und legen drei Viertel


des Hochgeschwindigkeitsverkehrs


lahm. Ihre Forderung: 3 000 Euro


auf die Hand, sonst rollt kein Zug.


Die wilden Streiks sind nur der


Aufgalopp für eine größere Aktion:


Ab Anfang Dezember wollen die Or-


ganisationen CGT und SUD mit Ar-


beitsniederlegungen die Rentenre-


form von Präsident Emmanuel Ma-


cron zu Fall bringen. Der will über


40 Sonderkassen mit der regulären


Rentenversicherung vereinen und


dabei Privilegien wie die Rente mit


52 abschaffen. Diese „régimes spé-


ciaux“ sind nicht mehr finanzier-


bar. Heute zahlt der Steuerzahler


drei Viertel der Rente eines frühe-


ren Eisenbahners.


Die Bahnreform von 2018 konn-


ten CGT und SUD nicht verhindern,


nun wollen sie die Rentenreform


stoppen. Macron fürchtet, dass ein


großer Streik bei der SNCF die Initi-


alzündung für landesweite Proteste


werden könnte: eine Art Gelbwes-


ten-Bewegung, diesmal nicht auf


den Straßen, sondern in den Unter-


nehmen und damit gefährlicher.


Die Stimmung ist angespannt,


auch weil gerade eine harte Reform


der Arbeitslosenversicherung in


Kraft tritt. Der Präsident spürt, dass


noch zu wenig positive Effekte sei-


ner Politik bei den Menschen an-


kommen. Er reagiert mit einer Mi-


schung aus Flexibilität und Härte.


Die Gewerkschaften bezieht er stär-


ker ein als früher, den Start der


Rentenreform hat er verschoben.


Doch am Prinzip will er nicht rüt-


teln, es soll eine Rente für alle ge-


ben. Die zweite Hälfte seiner Amts-


zeit beginnt mit einer Kraftprobe.


Radikale Bahngewerkschaften
wollen Macrons Rentenreform
stoppen – und schaden dem Land,
findet Thomas Hanke.

Der Autor ist Korrespondent in


Paris. Sie erreichen ihn unter:


[email protected]


D


er Bundesgesundheitsminister hat vie-
le Ideen und keineswegs nur schlech-
te. So versuchte Jens Spahn, den Wett-
bewerb zwischen den gesetzlichen
Krankenkassen zu forcieren; denn be-
kanntlich senkt Wettbewerb die Kosten und steigert
die Effizienz. Was der CDU-Politiker übersah oder
zumindest unterschätzte, war die geballte Macht des
Bundesrats. Denn der stimmt Versuchen des Bun-
des, die Kompetenzen der Länder zu beschneiden,
höchstens dann zu, wenn dafür ordentlich gezahlt
wird. Und so schmetterten die 16 Landesfürsten den
Vorstoß für ein „Faire-Kassenwahl-Gesetz“ ab, mit
dem Spahn die regional abgeschotteten Allgemeinen
Ortskrankenkassen (AOK) einem bundesweiten Wett-
bewerb aussetzen wollte.
In keinem modernen Staat wird die Absicherung
des Gesundheitsrisikos allein dem freien Markt über-
antwortet. Stets werden Teile der Bereitstellung, Fi-
nanzierung und Zuteilung medizinischer Leistungen
vom renditeorientierten Marktmechanismus ausge-
nommen – freilich in Abstufungen. Dies heißt aber kei-
neswegs, dass Wettbewerb im Gesundheitssektor fehl
am Platz wäre. Denn Wettbewerb ist ein wichtiger ge-
sellschaftlicher Steuerungsmechanismus, der keines-
wegs nur auf gewinnorientierten Märkten sinnvoll ist.
Vor 25 Jahren setzte der damalige Bundesgesund-
heitsminister Horst Seehofer (CSU) im „Kompromiss
von Lahnstein“ die freie Kassenwahl für die Mitglie-
der der gesetzlichen Krankenversicherung durch.
Seitdem können Versicherte problemlos ihre Kran-
kenkasse wechseln, wenn sie ihnen zu teuer ist oder
der Service missfällt. Diese Möglichkeit erhöht den
Druck auf die Kassen, einen guten Service zu bieten
sowie gleichermaßen gute wie kostengünstige Bedin-
gungen bei den Leistungsanbietern auszuhandeln.
Um einen halbwegs fairen Wettbewerb zwischen den
Krankenkassen zu gewährleisten, wurde 1996 ein Aus-
gleich der kassenspezifischen Risikounterschiede
etabliert. Dadurch erhalten Kassen mit vielen alten
oder chronisch kranken Versicherten Geld von Kas-
sen mit vielen guten Risiken.
Im Frühjahr überraschte Spahn mit einem klugen
Plan, die noch bestehenden Wechselbarrieren zwi-
schen regionalen Ortskrankenkassen, geöffneten Be-
triebskrankenkassen und Innungskrankenkassen zu
überwinden. So sollten nicht nur die Wahlrechte der
Versicherten erweitert, sondern auch die Aufsicht
über die gesetzlichen Kassen sollte vereinheitlicht
werden. Denn bislang kontrollieren regionale Behör-
den die nicht bundesweit tätigen Kassen, während die
übrigen der strengeren Aufsicht des Bundesversiche-
rungsamts unterliegen.

Die laxere Aufsicht durch die Landesbehörden hat-
te und hat zur Folge, dass Regionalkassen beim Aus-
handeln von Verträgen mit Leistungserbringern oder
bei speziellen Angeboten für ihre Mitglieder größere
Spielräume haben. Zudem resultieren Kostenvorteile
der Regionalkassen oft daraus, dass sie in Regionen
agieren, in denen die Kosten aufgrund eines geringen
Leistungsangebots unter dem Bundesdurchschnitt lie-
gen, und solche regionalen Kostenunterschiede bis-
lang im Risikostrukturausgleich unberücksichtigt blie-
ben. Dass solche Unterschiede bestehen, ist unstrittig.
Wie damit umzugehen ist, freilich nicht.
Während Spahn durch die bundesweite Öffnung
Anreize setzen wollte, dass alle Kassen ihre Ausgaben-
risiken auch in regionaler Hinsicht poolen und aus-
gleichen, pochten „reiche“ Länder – wie zum Beispiel
Bayern – auf eine neue Regionalkomponente im Risi-
kostrukturausgleich, um zu verhindern, dass zu viel
Beitragsgeld „ihrer“ Versicherten aus der Region ab-
fließt. Ebenso forderten die bundesweit tätigen Kas-
sen solch einen regionalen Ausgleich gegenüber den
in kostengünstigen Regionen operierenden Kassen.
Dies ist jedoch problembehaftet. Schließlich beein-
flussen zahlreiche Faktoren die regionalen Ausgaben.
Ein einziger Regionalfaktor kann daher keinen verzer-
rungsfreien Ausgleich gewährleisten. Zudem erwächst
aus solch einem eindimensionalen Ausgleich die Ge-
fahr, dass ineffiziente Versorgungsstrukturen konser-
viert werden. Denn warum sollten Kassen in teuren Re-
gionen darauf hinwirken, kostengünstige Versorgungs-
angebote zu entwickeln, wenn ihnen die Mehrkosten
ausgeglichen werden? Und für alle nur regional tätigen
Kassen ist es ohnehin klüger, sich mit dem regionalen
Schutzpatron in der Staatskanzlei gut zu stellen.
Die bundesweite Öffnung aller Krankenkassen hätte
eine derartige Regionalkomponente überflüssig ge-
macht. Die Folge wäre eine umfassendere Mischung
aus günstigen und teuren Regionen gewesen – so wie
dies heute bei bundesweiten Krankenkassen üblich
ist. Leider ist dieser wettbewerbspolitisch sinnvolle
Plan an den Ländern gescheitert: Sie wollten ihre Auf-
sichtsbefugnis und ihre Regionalkassen unbedingt er-
halten. Dem Bundesgesundheitsminister blieb also
nichts anderes übrig, als klein beizugeben, und so
fehlt in seinem überarbeiteten Gesetzentwurf ein zen-
trales Element der Reform.
Schade! Aber in Sachen Taktik dürfte der nach hö-
heren politischen Weihen strebende Jens Spahn eini-
ges gelernt haben.

Leitartikel


Spahn und die


16 Schutzpatrone


Die Bundesländer
sind erfolgreiche
Lobbyisten der
regionalen
Krankenkassen.
Das schwächt
den Wettbewerb
und schädigt die
Allgemeinheit,
meint Bert Rürup.

Wettbewerb ist


ein wichtiger


gesellschaft -


licher


Steuerungs -


mechanismus,


der keineswegs


nur auf gewinn-


orientierten


Märkten


sinnvoll ist.


Der Autor ist Chefökonom des Handelsblatts und
Präsident des Handelsblatt Research Institute. Sie
erreichen ihn unter: [email protected]

Meinung

& Analyse

MITTWOCH, 30. OKTOBER 2019, NR. 209


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