Handelsblatt - 30.10.2019

(Barry) #1

entfernt. „Blasen kommen und gehen“, meint


Eventures-Partner Miele. „Aufgrund dieser natürli-


chen Bewegung der Märkte mache ich mir da auch


keine großen Sorgen.“ Von den schwankenden Be-


wertungen will er sich nicht irritieren lassen: „Als


Investor ist es uns jetzt wichtig, dass wir diszipli-


niert unserer Investmentstrategie folgen und uns


nicht vom Momentum der Märkte hin und her rei-


ßen lassen.“


Neuhaus-Partner Grychta sieht in einem neuen


Realismus sogar Chancen. Wenn sein neuer Fonds


in einigen Monaten investitionsbereit ist, könnten


die Bewertungen schon wieder zurückgegangen


sein, spekuliert er: „Daher wäre es eigentlich


falsch, gerade jetzt nicht in einen Fonds zu investie-


ren.“ Schließlich könnte ein frischer Fonds dann


günstig einsteigen – und womöglich eine gute Wert-


entwicklung erzielen.


Noch entspannter ist Christian Saller, Partner bei


Holtzbrinck Ventures (HV). Für ihn ist WeWork ei-


ne unrühmliche Ausnahme – und kein echtes Tech-


Geschäftsmodell. „Wir sehen bisher nicht im


Markt, dass dies eine Auswirkung auf Tech- und


Start-up-Bewertungen im Allgemeinen hat“, sagt


Saller. Auch EY-Experte Peter Lennartz sieht kein


Risiko eines Crashs wie im Jahr 2000 im Neuen


Markt: „Die Investoren kennen die Märkte heute


teilweise besser als die Gründer und können daher


die Chancen und Risiken ihres Investments viel


besser einschätzen als noch vor 19 Jahren.“ Die ho-


hen Investitionen seien ein Zeichen dafür, dass


mehr Start-ups als früher die Frühphase überste-


hen und weitere Finanzierungsrunden stemmen.


Klar ist: Die Gründer nehmen dabei zurzeit mit,


was sie bekommen können – und das ist einiges.


Benchmark sind die stolzen 484 Millionen Euro,


die der Berliner Reise-Event-Vermittler GetYourGui-


de im Mai einsammeln konnte. „Der Vorteil ist,


dass die Gründer wegen der größeren Runden


schneller skalieren können. Der Nachteil ist, dass


der Druck steigt, schnell zu monetarisieren“, sagt


ein Insider der Berliner Szene. Gerade Fonds aus


den USA und Asien trieben die Bewertung der we-
nigen wirklich herausragenden Start-ups. Zugleich
allerdings sei die Qualität der Gründungen durch-
gängig höher – auch weil sich öfter erfahrene Seri-
engründer engagieren.
Denn Start-up ist nicht gleich Start-up. Jahrelang
dominierten E-Commerce-Modelle die Szene – an-
geführt vom Erfolgsbeispiel Zalando. Doch der gro-
ße Onlinehandelstrend ist vorbei, der Markt an vie-
len Stellen aufgeteilt. Die EY-Auswertung zeigt, dass
der E-Commerce weniger Geld anzieht. Wurden in
den ersten drei Quartalen 2018 noch 1,4 Milliarden
Euro in diesen Start-up-Sektor investiert, waren es
im gleichen Zeitraum 2019 nur noch 324 Millionen.
Für Axel Krieger, Mitgründer der Beteiligungsge-
sellschaft Digital+ Partners, geht der Trend aber
auch mit einer Erkenntnis einher: „Es ist schwierig,
aus Deutschland heraus mit einem Geschäftsmo-
dell global zu skalieren, das sich an den Endver-
braucher richtet“, sagt er. Das liege vor allem am
relativ kleinen Heimatmarkt. Sehr gut hingegen sei-
en die Chancen für Start-ups, die Lösungen für an-
dere Unternehmen anbieten und zunächst in dem
bestehenden lokalen Ökosystem Fuß fassen: „Die
deutschen Stärken liegen traditionell im Bereich
Maschinenbau und Automobil – hier können hiesi-
ge Start-ups komparative Wettbewerbsvorteile ha-
ben und Trends definieren.“ Er sagt: „Business-to-
Business war bislang bei Investoren und Start-ups
nicht so angesagt. Das ändert sich aktuell.“

Standortwettbewerb


Adjust ist so ein Unternehmen, das sich an andere
Firmen statt an den Endkunden richtet. Das Berli-
ner Start-up analysiert Nutzerverhalten in Apps,
zum Beispiel, wie viel Geld Menschen darüber aus-
geben und woher sie die App kennen. Etwa 200
Millionen hat es für seine Expansionsbestrebungen
im Juni bekommen. „Fast alle deutschen Start-ups
sind Kunden von Adjust, einige davon haben einen
erfolgreichen Börsengang hingelegt“, sagt Mitgrün-
der und Geschäftsführer Christian Henschel. Insge-
samt sei es einfacher geworden, Investoren zu fin-
den. Es gäbe heute mehr Risikokapital. „Wir wach-
sen seit Jahren gemeinsam mit unseren Kunden auf
globaler Ebene“, sagt Henschel. So haben es die In-
vestoren gern, auch die Marketingkosten für Hen-
schels Start-up sind gering. Dabei profitiert es auch
vom Boom der Szene insgesamt.
Die Zahl der Software-Deals nimmt insgesamt
deutlich zu – ohne dass die Summen deutlich stei-
gen. Hier bringt oft wenig Geld große Ergebnisse.
Härter werden könnte es künftig für Trends der
letzten Monate. So ist viel Geld in Micromobility ge-
flossen – doch nach dem Boom der E-Scooter
zeichnet sich Ernüchterung ab. Bei Fintechs zeigt
die Verdopplung der Investitionssumme, dass auch
hier inzwischen hohe Marketingaufwendungen an-
fallen – wie etwa bei den Werbekampagnen für die
Onlinebank N26, die durch technische Probleme
Negativschlagzeilen macht.
Bei der Anzahl der Finanzierungsrunden und
der Summe liegt Berlin deutlich vor anderen Bun-
desländern. „Es kommt immer wieder zu regiona-
len Verschiebungen. München war ja lange abge-
schlagen, profitiert aber derzeit stark von Technik-
themen wie Software“, sagt Grychta. Die
Hamburger Wirtschaftsförderung versucht derweil,
die Hafenstadt als Platz für Logistik-Start-ups zu
etablieren, nachdem die dortige Szene bis auf Fin-
techs zurückgefallen ist. Wie auch in NRW sind die
Summen, die in der Hansestadt in Start-ups geflos-
sen sind, laut EY 2019 zurückgegangen – der Ab-
stand zu Berlin und Bayern wächst.
Im internationalen Vergleich hat die deutsche
Hauptstadt aber starke Konkurrenz. Frankreichs
Präsident Emmanuel Macron hat die Start-up-För-
derung zur Chefsache erklärt – bis hin zu vergüns-
tigten Wohnungen für Talente und verbilligte Bü-
ros. „Die Politik unterstützt die Start-ups einfach
besser – mit hohen Förderfonds und politischen
Rahmenbedingungen wie Steuererleichterungen”,
sagt ein Investor. Dazu komme ein Start-up-Ökosys-
tem, das mindestens ebenso stark ist wie die ge-
wachsene Berliner Szene. Bis zum Sommer konnte
Paris sogar kurzzeitig Berlin auf Platz zwei hinter
dem unbestrittenen Spitzenreiter London ablösen.
Doch es gibt Entwarnung für die deutsche Szene:
Die EY-Daten zeigen, dass aktuell wieder Berlin klar
vor Paris liegt.

Gewächshaus
von Infarm: Viel
Geld gibt es
derzeit auch für
recht spezielle
Ideen.

3 387


5 010


439


506


Gesamtvolumen der
Investitionen in Mio. Euro

Zahl der Deals


Berlin


Bayern


Rheinland-Pfalz


Hamburg


Baden-Württemberg


Nordrhein-Westfalen


Sachsen


Hessen


Brandenburg


Sachsen-Anhalt


Bremen


Niedersachsen


Thüringen


Schleswig-Holstein


Saarland


Mecklenburg-Vorpommern


2 896


1 017


304


230


20


18


76


14


12


6


4


2


2


2


1 96


439


1


1


63


19


41


103


7


1


8


6


21


0


0


9


Volumen
in Mio. Euro


  1. bis 3. Q. 2018 1. bis 3. Q. 2019


201


90


6


36


3


17


22


11


3


2


10


7


3


1


3


179


80


6


31


28


48


1


21


2


2


13


1


0


3


Zahl der Deals


7, 7


9, 9


11


21


Durchschnittliches
Dealvolumen
in Mio. Euro

Zahl der Deals
größer als 50 Mio. Euro

Start-ups in Deutschland


Boom oder Blase?
Investitionen und Deals im Vergleich zum Vorjahreszeitraum

Bundesland


Sektoren
Mobilität

Fintech (Finanzdienstleistungen)


Health (Gesundheit)


Software & Analytics


eCommerce


Adtech (Werbung)


Professional Services


Proptech (Immobilien)


Agtech (Agrar)


Hardware


Energie


Recruitment


Media & Entertainment


Bildung


Cannabis


Sonstiges*


1 406


1 076


67


324


207


200


139


89


87


82


44


43


12


10


116


199


127


471


1 409


91


90


99


28


10


89


19


72


39


0


0


Volumen
in Mio. Euro
37

64


139


68


7


1


23


4


13


20


16


9


8


1


28


31


39


111


7


17


10


19


2


24


13


11


2


12


0


0


Zahl der Deals


HANDELSBLATT *Sonstiges/noch nicht zugeordnet • Quelle: EY

Start-up-Finanzierung


MITTWOCH, 30. OKTOBER 2019, NR. 209


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