Die Welt - 13.11.2019

(Martin Jones) #1

Unsicherheit größer als in der Finanzkrise


*Global Economic Policy Uncertainty Index, Angaben in Punkten, Quelle: IMK


    


Unsicherheitsindex der


Weltwirtschaftspolitik*


Spread zwischen der Umlaufrendite von


Unternehmens- und Bundesanleihen


Finanz-
krise



















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Euro-
krise

Brexit-
Referen-
dum

Trump


Han-


dels-


streit


Wachstum fällt um bis zu �,� Prozent niedriger aus


*Veränderungen ggü. der Basis bei jährlicher Betrachtung in Prozent, Quelle: IMK


Maximale BIP-Verluste bei einem Handelskonflikt zwischen
den USA und der EU für die USA, die EU und Deutschland *

kurzer Handels-


konflikt


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langer Handels-


konflikt ohne ...


... und mit fiskalischer


Stabilisierung


D


as ganze Jahr über tanzt
die deutsche Wirtschaft
schon an der Grenze zur
Rezession. Ob Europas
größte Ökonomie dem
Abschwung noch einmal entkommen
kann, wird sich diese Woche klären,
wenn die Statistiker die Zahlen für das
Bruttoinlandsprodukt (BIP) im dritten
Quartal vorlegen.

VON DANIEL ECKERT

Doch selbst wenn Deutschland ein
zweimal in Folge schrumpfendes BIP
2019 noch einmal knapp vermeiden
könnte – ein Ereignis würde eine Rezes-
sion unausweichlich machen: eine Ver-
schärfung im Handelskonflikt.
Tatsächlich ist eine Eskalation im
transatlantischen Zollkonflikt womög-
lich das größte Einzelrisiko für die ex-
portabhängige deutsche Wirtschaft.
Forscher des Instituts für Makroökono-
mie und Konjunkturforschung (IMK)
der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-
Stiftung haben jetzt durchgerechnet,
wie hart ein protektionistischer Schlag-
abtausch zwischen Europa und den USA
die hiesige Wirtschaft treffen würde.
Sollten sich die Streitigkeiten zwi-
schen den Handelspartnern 2020 deut-
lich zuspitzen, droht Deutschland ein
Rückgang des Wirtschaftswachstums
um bis zu 0,7 Prozent, kalkulieren die
IMK-Forscher Sebastian Dullien, Sabine
Stephan und Thomas Theobald. Damit
wäre die Rezession nahezu unvermeid-
lich. Denn zuletzt war dem deutschen
Bruttoinlandsprodukt 2020 selbst unter
günstigen Voraussetzungen nur mehr
ein Plus von 0,5 bis ein Prozent zuge-
traut worden.
Die Zuspitzung könnte schneller
kommen, als viele annehmen. Bis zum


  1. November muss Donald Trumpent-
    scheiden, ob er die Zölle auf Auto-Im-
    porte aus der EU erhöhen will. Der ame-
    rikanische Präsident hat bereits mehr-
    fach damit gedroht, die Einfuhrzölle auf
    Autos aus der EU deutlich nach oben zu
    schrauben.
    Durch diese Maßnahmen will er hei-
    mischen Produzenten einen Vorteil ver-
    schaffen und damit den Aufbau von
    Jobs fördern, ein Kalkül, das sich in an-
    deren Branchen bereits als Trugschluss
    erwiesen hat. Meist mussten die US-
    Konsumenten für die Zölle mit höheren
    Preisen büßen, die Schaffung neuer
    Jobs blieb aus.
    Sollte Trump die Importzölle wie an-
    gedroht auf 25 Prozent anheben, würde
    das die deutsche Wirtschaft zweifelsoh-
    ne empfindlich treffen. Damit würde
    mit großer Wahrscheinlichkeit eine Es-
    kalationsspirale in Gang gesetzt.
    Da die Europäische Union(EU) der-
    artige Zölle als unberechtigte und ver-
    tragswidrige Störung des Welthandels
    ansieht, würde sie mit großer Wahr-
    scheinlichkeit ihrerseits höhere Zölle
    auf US-Produkte verhängen. Trump
    könnte darauf mit neuen protektionisti-
    schen Maßnahmen reagieren. Der Han-
    delskrieg wäre da – zum Schaden der
    Exportnation Deutschland.
    Automobile und Kfz-Teile machen
    circa 20 Prozent der deutschen Waren-
    exporte in die USA aus, die ihrerseits


Deutschlands wichtigster Handelspart-
ner sind. „Im vergangenen Jahr expor-
tierten VW, BMW und Daimler insge-
samt fast eine Million Fahrzeuge in die
USA, knapp die Hälfte davon aus deut-
scher Produktion“, vermerken die IMK-
Forscher.
Hinzu kommt, dass mittelbar auch
der Maschinenbau und die Chemiein-
dustrie betroffen wären, zwei weitere
Schlüsselbranchen. In beiden Branchen
sind viele Unternehmen von Aufträgen
der Automobilindustrie abhängig.
Die IMK-Forscher haben in Simulati-
onsberechnungen untersucht, wie sich
eine Zuspitzung im Konflikt auf die be-
teiligten Ökonomien auswirken würde.
Dazu haben sie verschiedene Szenarien
mit unterschiedlicher Dauer und Inten-
sität durchgespielt: von einem kurzen
Konflikt, der sich über eineinhalb Jahre
erstreckt und auf Autozölle beschränkt
bleibt, bis hin zu einem langen Handels-
krieg, der sich über die nächsten fünf
Jahre hinzieht und große und anhalten-
de Unsicherheit mit sich bringt.
Das Ergebnis: Ein Zoll, der sich allein
auf Autos und Kfz-Teile bezieht und kei-
ne weitere Unsicherheit erzeugt, wäre
für die deutsche Wirtschaft gerade noch
zu verkraften. „Die Unternehmen könn-
ten Importzölle ausgleichen, indem sie
ihre Margen kurzzeitig senken. Sie wür-
den also weniger Gewinn machen, dafür
aber ihre Marktanteile halten können“,
heißt es in der IMK-Studie.
Der gesamtwirtschaftliche Effekt wä-
re schmerzlich, aber noch erträglich:
Das deutsche Bruttoinlandsprodukt fie-
le um 0,3 Prozent per annum niedriger
aus als ohne Erhöhung der Zölle. „Die-
ses Szenario ist allerdings nicht wahr-
scheinlich“, dämpfen die Wissenschaft-
ler den Optimismus auf einen glimpfli-
chen Ausgang.
Je länger sich der Handelskonflikt
hinzieht, desto größer wird laut IMK die
Wahrscheinlichkeit, dass die deutschen
Autobauer und andere Unternehmen
die Zölle nicht mehr durch niedrigere
Margen kompensieren können, sondern
an die Endverbraucher weiterreichen.
Die Folge wären sinkende Absatzzahlen
und ein Einbruch der Exporte.
„Schädlicher noch als die Zölle selbst
wäre die zunehmende Unsicherheit,
weil sich die Unternehmen mit Investi-
tionen zurückhalten – davon wären
rasch auch andere Branchen betroffen“,
heißt es in der Studie. Dies alles würde
das Bruttoinlandsprodukt stärker belas-
ten und auch die Arbeitslosigkeit stei-
gen lassen. Schon jetzt ist das Ausmaß
der Unsicherheit höher als in der Fi-
nanzkrise2008/09.
Im schlimmsten Fall würde das BIP
in Deutschland um 0,7 Prozent jährlich
niedriger ausfallen als ohne Konflikt –
und zwar dauerhaft, solange die Ausei-
nandersetzung anhält. Da die deutsche
Wirtschaft sich nach Prognose des IMK
im kommenden Jahr ohnehin an der
Grenze zur Stagnation bewegt, wäre ein
solcher Schlag gefährlich.
„Eine Verschärfung des Konflikts hat
das Potenzial, die deutsche Wirtschaft
in eine echte Rezession zu stoßen“, ma-
chen die IMK-Ökonomen klar. Die nega-
tiven Effekte könnten den Forschern
zufolge bis Mitte des nächsten Jahr-

zehnts auf der Wohlstandsentwicklung
lasten.
Der Ökonom Daniel Stelterglaubt,
dass ein möglicher Handelskrieg die oh-
nehin bestehenden strukturellen Pro-
bleme der Industrie noch verstärken
würde. „Wir werden die Krise im Auto-
sektor bekommen, und die wird das Ge-
schäftsmodell von Deutschland er-
schüttern“, sagt der Buchautor voraus.
Wenn gleichzeitig auch noch die Kon-
junktur im Maschinenbau abflaue, wer-
de es für Deutschland kritisch.
Doch wie könnte die Bundesrepublik
reagieren, um die Effekte des Ab-
schwungs abzufedern? Donald Trump
wird mit einiger Wahrscheinlichkeit
noch mehr Schulden in Kauf nehmen,
um seinen Handelskrieg zu gewinnen.
Schon jetzt hat er das US-Haushaltsde-
fizit auf eine Billion Dollar getrieben.
Dullien und seine Kollegen im IMK
bringen höhere öffentliche Investitio-
nen ins Spiel, die wie eine Art Konjunk-
turpaket wirken würden. „Das würde
die Exportpreise kaum beeinflussen
und hätte einen stimulierenden Effekt
auf die Binnenkonjunktur. Die schädli-
chen Effekte des Handelskonflikts auf
das BIP könnten so etwas abgemildert
werden“, argumentieren sie. Allerdings
habe Deutschland aufgrund der Schul-
denbremse und der EU-Fiskalregeln
weniger Spielraum für Defizit-finan-
zierte Investitionen.
Solche Ausgaben könnten einen Un-
terschied machen. Wie eine weitere Si-
mulation zeigt: Im Fall eines lang an-
dauernden Handelskriegs würde auch
die US-Wirtschaft stark unter Trumps
Konfrontationskurs leiden: Infolge von
höheren Preisen, Exporteinbußen
durch Gegenzölle und Investitionszu-
rückhaltung dürfte das US-amerikani-
sche BIP-Wachstum um 0,9 Prozent-
punkte niedriger ausfallen als ohne den
Konflikt, prognostizieren die Wirt-
schaftswissenschaftler. Durch ein
schuldenfinanziertes Gegensteuern lie-
ße sich das Minus aber auf 0,5 Punkte
begrenzen.
Jedoch hat Europa, was Defizite an-
belangt, nicht die gleichen Freiheitsgra-
de wie die Vereinigten Staaten. „Die
USA hätten die Möglichkeit, den Scha-
den aus dem Konflikt im eigenen Land
zu begrenzen, während der Handels-
konflikt in der EU voll durchschlägt“,
heißt es in der Studie. Sollte Deutsch-
land im Szenario eines jahrelangen
Handelskrieges stoisch an der „schwar-
zen Null“ festhalten, wäre der Wohl-
standsverlust laut IMK hierzulande
deutlich größer als jenseits des Atlan-
tiks.
„Bei einer länger andauernden Ausei-
nandersetzung ist eine aktive Fiskalpo-
litik unabdingbar“, lautet daher die
Schlussfolgerung der gewerkschaftsna-
hen Ökonomen. Abhilfe könnte eine Lo-
ckerung der EU-Fiskalregeln sowie der
Schuldenbremse bieten, regt Dullien an,
etwa indem eine Kreditfinanzierung
von zusätzlichen Investitionen über die
bisherigen Möglichkeiten der Schulden-
regeln hinaus möglich gemacht werde.
Auch Stelter zweifelt daran, dass sich
die „schwarze Null“ durchhalten lässt:
„Sie wird so oder so fallen, wenn die
Wirtschaft schwächelt“, sagt er voraus.

Schulden gegen


den Zollknüppel


Eine Eskalation im Handelsstreit mit den USA


würde Deutschland in die Rezession treiben


Containerterminal am Hamburger Hafen: Die deutsche Exportwirtschaft
leidet unter dem Handelskrieg

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10 WIRTSCHAFT DIE WELT MITTWOCH,13.NOVEMBER


Gesellschaft Norm und Mitte war, wird
selber zum Rand, und es gibt nur noch
eine Vielzahl unterschiedlicher Rand-
gruppen, aber keine Volksparteien
mehr.
Bei allen Unterschieden, die es inner-
halb einer Gesellschaft natürlich schon
immer gab, existierte in der Vergangen-
heit für die Masse der Leute so etwas
wie eine allgemein akzeptierte Norm
darüber, was ökonomisch machbar, po-
litisch konsensfähig und moralisch ver-
tretbar ist – und was eben nicht. Es gab
einen „Durchschnittsdeutschen“, des-
sen Biografie, Lebensform und Verhal-
tensweise einen Normalfall widerspie-
gelte, der für einen Großteil der Bevöl-
kerung in etwa zutraf und für viele nicht
allzu weit entfernt von der eigenen Rea-
lität lag. Dazu gehörte beispielsweise
ein typisches Familienmodell als le-
benslange, von der Trauung bis zum Le-
bensende ungebrochen währende Ver-
sorgungs- und Versicherungsgemein-
schaft. Der Mann war erwerbstätig und
sorgte für das Familieneinkommen. Die
Frau blieb zu Hause, um sich um das
Aufwachsen und die Erziehung der ge-
meinsamen Kinder zu kümmern. Diese
Sicht der Dinge prägte Wirtschaft, Ge-
sellschaft und Politik der deutschen
Nachkriegszeit.
Das 21. Jahrhundert jedoch „wird als
das Jahrhundert in die Geschichte ein-
gehen, in dem die Normalität endete“,
schreibt der langjährige Chefredakteur
und frühere Herausgeber des „Handels-
blatts“, Gabor Steingart, in seinem
Buch „Das Ende der Normalität.“ Wenn
das Verrückte normal und das Normale
verrückt wird, wird die Ausnahme zur
neuen Norm, der bis dahin geltende All-

gemeinfall zur Randerscheinung. Die
Verschiebung des politischen Gravitati-
onszentrums von den traditionellen
Volksparteien hin zu Gruppierungen an
den Rändern ist nichts anderes als das
Spiegelbild des demografischen Alte-
rungsprozesses von jung zu alt und der
neuen sozioökonomischen Vielfalt in
Deutschland. Für Menschen mit und
ohne Migrationshintergrund, für Alte
und Junge, Gesunde und Gebrechliche,
Gebildete und Unqualifizierte, Familien
mit und ohne Kindern, Stadt- und Land-
bevölkerung wird der größte gemeinsa-
me Nenner immer kleiner.
Wenn es immer weniger gemeinsame
Themen gibt, wird es natürlich nicht
einfacher, einen gesellschaftlichen Kon-
sens über wichtige Zukunftsfragen oder
einen politischen Kompromiss zur Lö-
sung kommender Herausforderungen
zu erzielen. Sondern immer schwieri-
ger, eine von unterschiedlichen Rand-
gruppen mitgetragene gemeinsame Po-
litik zu finden und umzusetzen, die auf
einen Durchschnitt ausgerichtet ist, der
für das Volkrepräsentativ ist.
Eine Zersplitterung der Parteienland-
schaft ist nur eine Folge. Eine zuneh-
mende Zahl von Parteien, die zusam-
men eine regierungsfähige Koalition bil-
den (müssen), eine andere. Offen
bleibt, ob das genügt, um einen allge-
mein akzeptierten Kompass zu finden,
in welche Richtung sich Deutschland
weiterentwickeln und was die Gesell-
schaft zusammenhalten soll. Mit einem
Verlust einer allgemein getragenen und
als gut und richtig erachteten gemeinsa-
men Norm wächst der Anspruch der
Ränder auf eine Einzelfallpolitik, die
der Vielfalt unterschiedlicher Erwar-

tungen Rechnung trägt. Einzelfälle lie-
fern der Politik jedoch keine brauchbare
Orientierung. Sie sind kein guter Maß-
stab für allgemeingültige gesamtheitli-
che Lösungen. Deshalb kann Einzelfall-
gerechtigkeit nicht das Ziel guter Politik
sein. Sie ist schlicht zu teuer und zu an-
fällig für Eigeninteressen.
Der demokratische Rechtsstaat muss
das große Ganze verfolgen, er darf sich
nicht von Einzelschicksalen oder Parti-
kularinteressen leiten lassen. Er soll
Gleiches gleich, aber Ungleiches eben
auch ungleich behandeln. In einer ho-
mogenen Gesellschaft ist die Frage, was
gleich und was ungleich ist, vergleichs-
weise einfach zu beantworten. Je größer
die Vielfalt innerhalb einer Bevölkerung
jedoch wird, umso schwieriger ist es, ei-
ne für alle gleichermaßen akzeptable
Wassertemperatur festzulegen.
Wenn aber Demokratie und Rechts-
staat die für sie grundlegende Funktion
einer Gleichbehandlung gleicher Sach-
verhalte nicht mehr garantieren kön-
nen, weil Vielfalt dazu führt, dass sich
eine gemeinsame Norm für Maß und
Mitte nicht mehr so einfach feststellen
lässt, dürfte ihre Legitimation von der
Bevölkerung zusehends angezweifelt
werden. Es ist kein Zufall, dass sich
mancherorts namhafte Persönlichkei-
ten – wie etwa der renommierte Wirt-
schaftswissenschaftler Xavier Sala-i-
Martín, Professor der New Yorker Co-
lumbia University, oder der erfolgreiche
Investor und Philanthrop George Soros


  • fragen, ob Demokratie zwar wunder-
    bar zur Vergangenheit der Industriali-
    sierung passte, sich jedoch im Zeitalter
    der Vielfalt überlebt habe – genau wie
    die Volksparteien.


Volkswillen wiedergibt. Das aber ist nur
so lange möglich, wie der Volkswille
mehr oder weniger den durchschnittli-
chen Normalfall der Bevölkerung abbil-
det. Wenn die Masse der Bevölkerung
von der Politik Wassertemperaturen
zwischen 28 und 32 Grad fordert, erfüllt
eine Politik des 30 Grad warmen Was-
sers genau diese Erwartung. Wenn aber
alle in einem Spektrum von 10 bis 50
Grad völlig unterschiedliche individuel-
le Wassertemperaturen haben wollen,
wird eine Politik des 30 Grad warmen
Wassers kläglich scheitern. Niemand ist
dann damit zufrieden, und alle werden
sehr unterschiedliche Parteien wählen,
die den ebenso unterschiedlichen Wün-
schen Rechnung tragen – eine Heißwas-
ser- wird ebenso Zulauf haben wie eine
Eiswasserpartei. Das, was früher in der

E


rst tauschte die SPD ihre Füh-
rungskräfte aus, nun tobt in der
CDU ein Personalstreit. Als ließe
sich der dramatische Niedergang der
einst staatstragenden Volksparteien
durch neues Spitzenpersonal aufhalten
und korrigieren. Dabei liegt die wesent-
liche Ursache für die tektonische
Machtverschiebung von der Mitte hin
zu den Rändern zur Linken und Rech-
ten an ganz anderer Stelle als bei einzel-
nen Personen. Entscheidender ist, dass
es den durchschnittlichen Normalfall,
der in der Vergangenheit Maß und Mitte
der Volksparteien repräsentiert hat,
nicht mehr gibt.
Wenn gleiche Mengen von Wasser
einmal mit einer Temperatur von 28
Grad und einmal von 32 Grad zusam-
mengeschüttet werden, entsteht ein
Gemisch mit einer Durchschnittstem-
peratur von 30 Grad. Die 30 Grad sind
dann eine Norm, die nicht so weit weg
von ihren Rändern liegt. Wer gerne bei
32 Grad duscht, der wird bei 30 Grad
nicht gleich erfrieren, wer gerne bei 28
Grad duscht, kann mit den 30 Grad ge-
rade noch leben. Was aber ist, wenn die
Ausgangstemperaturen 10 Grad bzw. 50
Grad betragen? Auch dann entsteht ein
Wassergemisch mit einer Durch-
schnittstemperatur von 30 Grad. Nun
aber sind die 30 Grad eine Norm, die
weit weg von ihren Rändern liegt und
von niemandem akzeptiert wird. Für
den einen sind schon 20 Grad viel zu
warm, für den anderen zu kalt, und bei-
de sind mit dem Gemisch unzufrieden.
Was für die Temperaturen von
Duschwasser gültig ist, gilt auch für die
Politik. Eine Partei kann nur dann das
Volk vertreten, wenn ihr Programm den

KOLUMNE


Deutschland


hat seine Mitte


verloren


THOMAS STRAUBHAAR


D


er Anteil der Frauen, die Teil-
zeit arbeiten, hat in Deutsch-
land in den letzten Jahrzehnten
stark zugenommen. Das gilt auch für
Frauen mit hohem Bildungsstand. Der
Ausbau der Kinderbetreuung hat nichts
daran geändert, dass die Teilzeitquote
bei weiblichen Arbeitnehmern deutlich
höher ausfällt als bei männlichen. Das
geht aus einer Studie des Deutschen In-
stituts für Wirtschaftsforschung (DIW)
hervor, die WELT vorab vorlag.
Am höchsten ist der Anteil der Teil-
zeitbeschäftigten bei Frauen in West-
deutschland, wo das DIW Berlin für das
Jahr 2017 eine Quote von fast 40 Pro-
zent vermeldet. Mitte der 1990er Jahre
waren es ungefähr 25 Prozent. In Ost-
deutschland verläuft die Entwicklung
ähnlich, allerdings auf einem niedrige-
ren Niveau. Zuletzt waren dort 27 Pro-
zent teilzeitbeschäftigt, verglichen mit
15 Prozent Mitte der 1990er Jahre.
Dass die Teilzeitquote auch bei gut
ausgebildeten Frauen steigt, mag über-
raschen. Schließlich hat der Staat in den
vergangenen Jahren Milliarden in den
Ausbau von Kindertagesstätten und an-
deren Betreuungsmöglichkeiten inves-
tiert, nicht zuletzt mit dem Ziel die Er-
werbsbeteiligung von Frauen zu för-
dern. Tatsächlich stehen heute weitaus
mehr Frauen im Erwerbsleben als frü-
her. Nach Angaben des Statistischen
Bundesamts gingen 2018 gut 72 Prozent
der Frauen einer bezahlten Tätigkeit
nach. Noch Mitte der Neunzigerjahre
lag die Quote bei 55 Prozent.
Der Studie zufolge ist der Anstieg der
Teilzeitbeschäftigung zum erheblichen
Teil darauf zurückzuführen, dass Frau-
en, die noch in den 1990er Jahren nicht
erwerbstätig gewesen wären, es heute
sind, aber eben mit reduzierter Stun-
denzahl. Aus Menschen außerhalb des
statistisch erfassten Berufslebens wur-
den also Teilzeitbeschäftigte. Nicht im-
mer aber ist die stundenreduzierte Ar-
beit das, was die Frauen eigentlich wol-
len.
„Viele Frauen würden ihre Arbeits-
zeit gerne erhöhen“, sagt Katharina
Wrohlich, Studienleiterin beim DIW
Berlin und Mitautorin der Studie. Das
sei im Alltag aber oft nicht möglich. Ei-
ne wichtige Rolle spielt dabei das, was
die Ökonomen die „ungleiche Vertei-
lung von Sorgearbeit“ nennen. Kom-
men Kinder hinzu, sind es im überwie-
genden Teil der Fälle die Mütter, die be-
ruflich kürzer treten und ihre Stunden-
zahl reduzieren. Ähnliches gilt, wenn es
einen Pflegefall in der Familie gibt.
„Auch dann, wenn die Kinder älter sind,
gelingt Frauen oft keine Rückkehr in die
Vollzeit“, merkt Wrohlich an.
Die größte Zunahme der Teilzeit fin-
det bei Arbeitnehmerinnen zwischen
dritten und vierten Lebensjahrzehnt
statt. Bewegen sich die Teilzeitquoten
von Männern und Frauen vor dem 30.
Lebensjahr noch in einer ähnlichen
Größenordnung, driften sie danach aus-
einander. So ist denn die Teilzeitquote
bei jüngeren Frauen in ihren Zwanzi-
gern mit 25 Prozent am geringsten.
Doch schon bei den 35-Jährigen springt
die Quote auf ungefähr 40 Prozent. Im
Vergleich dazu arbeiten Männer nach
dem 35. Geburtstag eher seltener in
Teilzeit. Männliche Berufstätige weiten
ihre Arbeitszeit in der Phase der Famili-
engründung eher noch aus. „Danach
bleibt die Teilzeitquote der Männer
niedrig, während sie bei Frauen über
das ganze restliche Erwerbsleben hin-
weg hoch ist“, heißt es in der Studie.
Das hat Auswirkungen auf das Le-
benseinkommen. Denn Teilzeitbeschäf-
tigte Frauen verdienen deutlich weniger
als ihre Kolleginnen, die Vollzeit arbei-
ten. Bei Frauen mit mittlerem Bildungs-
abschluss lag diese Lohnlücke („Part-
time Wage Gap“) in den Jahren 2015 bis
2017 bei zwölf Prozent. Frauen mit ho-
hem Bildungsabschluss mussten sogar
noch höhere Abstriche bei der Vergü-
tung machen. In den Neunzigern ver-
dienten sie relativ gesehen mehr als
Vollzeitbeschäftigte. Zuletzt, im Jahr
2017, waren die Stundenlöhne um zehn
Prozent geringer.
„Das 2019 in Kraft getretene Rück-
kehrrecht in Vollzeit ist daher ein
Schritt in die richtige Richtung“, sagt
Wrohlich. Die Forscherin schlägt jedoch
weitere Maßnahmen vor, um die Chan-
cen auf eine Vollzeitbeschäftigung zu
verbessern. Dazu zählen ein weiterer
Ausbau der Kindertagesbetreuung und
die Schaffung von mehr Ganztagsschul-
plätzen. Darüber hinaus bringt das DIW
eine Reform des Ehegattensplittings ins
Spiel. DANIEL ECKERT

AAAuch gebildeteuch gebildete


Frauen arbeiten


häufiger Teilzeit


Kluft zu den Männern geht


ab 30deutlich auseinander


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