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Berlin – Ungeachtet aller Bekenntnisse
zum Klimaschutz ist die Bundesregierung
im Begriff, den Ausbau der Windenergie
drastisch zu beschneiden. Das geht aus
einem Gesetzentwurf des Wirtschaftsmi-
nisteriums hervor, der seit Dienstag zwi-
schen den Ressorts abgestimmt wird.
Danach soll künftig bundesweit ein Min-
destabstand von 1000 Metern zwischen
Windrädern und Häusern gelten. Ziel sei
es, „die Akzeptanz des Ausbaus erneuer-
barer Energien zu erhöhen“, heißt es in
dem Entwurf.
Die Folgen könnten nach Auffassung
von Experten gravierend sein. Die ohnehin
knappen Flächen für Windräder würden
durch diese Regelung „erheblich einge-
schränkt“, sagte Maria Krautzberger, Che-
fin des Umweltbundesamtes, derSüddeut-
schen Zeitung.„Die Klimaziele erreichen
wir aber nur, wenn wir auch neue Flächen
ausweisen.“ Bislang gilt der Ausbau erneu-
erbarer Energien als wichtigster Beitrag
zum Klimaschutz in Deutschland. Erst am
Montag waren Zahlen bekannt geworden,
nach denen ein gestiegener Anteil von Öko-
energien die deutschen CO 2 -Emissionen
in diesem Jahr erneut sinken lassen dürfte.
Dem Gesetzentwurf zufolge sollen die
Abstandsregeln gelten, wenn eine „zusam-
menhängende Wohnbebauung“ von mehr
als fünf Häusern vorliegt. Damit kommt
der 1000-Meter-Radius schon bei kleins-
ten Ansiedlungen zum Tragen. Auch soll er
schon gelten, wenn ein Gebäude irgendwo
„errichtet werden kann“. Ältere Regional-
pläne, die Vorranggebiete für Wind auswei-
sen, verlieren die Gültigkeit. Länder und
Kommunen können abweichen – wenn sie
Mehrheiten dafür organisieren können.
Die Umweltstiftung WWF rechnet da-
mit, dass die Windkraft-Flächen um etwa
60 Prozent kleiner werden – und sich letzt-
lich auch die Menge des Windstroms eben-
so verringert. „Mit diesem Gesetz wird die
Axt an den Grundpfeiler des Klimaschut-
zes gelegt“, sagte WWF-Klimaexperte Mi-
chael Schäfer. Zumal die Regeln nicht nur
neue, sondern auch bestehende Anlagen
träfen. In den nächsten Jahren erreichen
Tausende Windräder ihre Altersgrenze. Da
viele ältere Anlagen im 1000-Meter-Ra-
dius liegen, wäre ihr Ersatz unmöglich.
„Die Energiewende wird beerdigt“, sagte
Greenpeace-Chef Martin Kaiser.
Das Gesetz, das auch die Konditionen
des Steinkohle-Ausstiegs regelt, ist Teil
des Klimapakets der Koalition. Es schreibt
auch das Ziel fest, bis 2030 einen Öko-
strom-Anteil von 65 Prozent zu erreichen.
Experten halten dies angesichts der Ab-
standsregeln für unrealistisch. „Ohne Aus-
bau der Windkraft ist der Kohleausstieg
nicht zu schaffen“, sagte Grünen-Frakti-
onschef Anton Hofreiter. Der Entwurf sei
„ein weiterer Sargnagel für die Windkraft“.
Erst vorige Woche war bekannt geworden,
dass rund um den Windkraft-Marktführer
Enercon um die 3000 Jobs wegfallen.
Nach bisheriger Planung soll das Gesetz
schon am kommenden Montag das Kabi-
nett passieren. Das Bundesumweltministe-
rium hat allerdings schon Diskussions-
bedarf angemeldet. Über viele Punkte müs-
se noch „intensiv gesprochen werden“,
hieß es. michael bauchmüller
Politik
Wie China Griechenland hofiert,
um sein Projekt „Neue
Seidenstraße“ voranzutreiben 7
Panorama
In Schweden eskalieren
Bandenkriminalität
und Gewalt 10
Feuilleton
Ein Dokumentarfilm zeichnet die
Liebe zwischen Leonard Cohen
und Marianne Ihlen nach 13
Wirtschaft
Produkte aus dem
Westjordanland müssen in der
EU gekennzeichnet werden 22
Sport
Tag mit Nachhall: Vor 25 Jahren
gewann Michael Schumacher
seinen ersten WM-Titel 27
Medien, TV-/Radioprogramm 31,
Forum & Leserbriefe 9
München · Bayern 30
Rätsel & Schach 8
Traueranzeigen 22
Berlin – Amira Mohamed Ali und Dietmar
Bartsch sind das neue Führungsduo der
Linken im Bundestag. Die Fraktion bestä-
tigte den bisherigen Co-Vorsitzenden im
Amt und wählte die niedersächsische Bun-
destagsabgeordnete zur Nachfolgerin von
Sahra Wagenknecht. Wagenknecht war
nicht noch einmal angetreten. Die Rechts-
anwältin Ali wird dem linken Flügel der
Partei zugerechnet. Sie setzte sich gegen
Caren Lay durch.dpa Seite 5
München – Ola Källenius, der Vorstands-
chef des Autobauers Daimler, mahnt
angesichts schwacher Margen bei Elektro-
autos eindringlich zum Sparen. „Wir
müssen uns alle Kosten anschauen, auch
die Personalkosten“, sagt er beim SZ-Wirt-
schaftsgipfel. „Es geht um die Frage: Was
ist wirklich notwendig? Und wo haben wir
die größte Chance auf Renditen? Da wird
der Bleistift jetzt sicherlich spitzer
werden.“sz Wirtschaft
München – Die zweite Auflage der Euro-
pean Championships findet im Sommer
2022 in München statt. Von 11. bis 21. Au-
gust werden mehr als 4000 Athletinnen
und Athleten erwartet. In den Sportarten
Leichtathletik, Rad, Golf, Turnen, Rudern
und Triathlon kämpfen sie um Europa-
meisterschafts-Medaillen. Die Wettkämp-
fe werden das größte Sportereignis in Mün-
chen seit den Olympischen Spielen 50
Jahre zuvor.sz Sport, Lokales
Regierung gefährdet eigene Klimaziele
Ein neuer Mindestabstand zwischen Häusern und Turbinen könnte die Strommenge aus Windkraft sogar sinken lassen
Matratzen hochwuchten, Betten machen,
im Bad in jede Ecke kriechen: Reinigungs-
kräfte müssen sich ziemlich anstrengen,
um Hotelzimmer in Ordnung zu bringen.
Doch obwohl sie die medizinischen Emp-
fehlungen für regelmäßige Bewegung lo-
cker erfüllen, haben viele das Gefühl, kör-
perlich inaktiv zu sein. Das änderte sich
bei einigen Putzfrauen, als Harvard-Psy-
chologinnen ihnen für ein Experiment
erklärten, dass ihr aktiver Berufsalltag
durchaus gesund sei. Fortan fühlten die
Reinigungskräfte sich im Vergleich zu Kol-
leginnen besser, nahmen an Gewicht ab,
und ihr Blutdruck normalisierte sich.
Klar, das Leben ist hauptsächlich Kopf-
sache – und wozu der Körper in der Lage
ist, eher eine Frage des sogenannten
Mindsets als der Muskeln. Wie stark sich
die Selbstwahrnehmung auf handfeste
physiologische Messwerte auswirkt, wur-
de vielen Ärzten und Psychologen jedoch
erst klar, nachdem der erwähnte Harvard-
Versuch vor mehr als zehn Jahren publi-
ziert worden war. „Das passende Selbst-
bild beeinflusst die Gesundheit positiv“,
so die Folgerung der Psychologinnen.
An trüben Novembertagen, an denen
sich die Laune allenfalls auf Höhe des
Bodennebels erhebt und Neujahrsvorsät-
ze scheitern, noch bevor sie formuliert
worden sind, lohnt der Griff in den Erste-
Hilfe-Kasten des sanften Selbstbetrugs.
Warum also nicht den trägen Körper mit
einem entsprechend präparierten Geist
überlisten? Anregungen dazu gibt es
inzwischen mehr als genug.
Eine der Harvard-Forscherinnen hat,
nachdem sie an die Universität Yale ge-
wechselt war, gezeigt, wie leicht sich der
Mensch und seine Hormone in die Irre
führen lassen. In einem Versuch erhielten
Freiwillige einen Milchshake mit 380 Ka-
lorien. Der Hälfte der Teilnehmer wurde
gesagt, dass sie ein 620-Kalorien-Ge-
tränk zu sich nehmen würden, der ande-
ren Hälfte, dass es sich um einen Diät-
drink mit gerade mal 140 Kalorien hande-
le. Wer die vermeintliche Kalorienbombe
getrunken hatte, fühlte sich nicht nur we-
niger hungrig, sondern das dafür zustän-
dige Hormon Ghrelin zeigte auch einen
deutlich höheren Sättigungsgrad an.
Als „subjektive Ideologie“, Denkmus-
ter oder Selbstkonzepte bezeichnen Sozio-
logen und Psychologen diese Formen der
Eigenwahrnehmung. In Zeiten lähmen-
der Lethargie kann ein positives Bild von
den eigenen Fähigkeiten dabei helfen,
enge Vorstellungen der eigenen Begrenzt-
heit zu erweitern. Forscher betonen, dass
es dabei nicht um platte Motivations-
formeln geht, sondern um handfeste Vor-
teile für die Gesundheit.
Erst kürzlich haben Psychologen aus
Stanford gezeigt, dass sich die Selbstein-
schätzung der eigenen Bewegungsfreude
massiv auf die Lebenserwartung aus-
wirkt. Wer sich für überdurchschnittlich
aktiv hält, lebt länger, auch wenn dies
nicht dem tatsächlichen Ausmaß an Bewe-
gung entspricht. Wer sich hingegen für
weniger aktiv hält als seine Altersgenos-
sen, erhöht die Wahrscheinlichkeit um er-
staunliche 71 Prozent, vorzeitig zu ster-
ben. Ein positives Selbstbild ist also weni-
ger ein Zeichen von Eitelkeit, sondern ge-
sund. „Wir sollten immer danach fragen,
wie aktiv und gesund sich die Leute selbst
sehen“, fordern Forscher daher. „So kön-
nen wir zielgerichtet Risiken erkennen
und früh helfen.“ werner bartens
Eineinhalb Stunden hatten sie bei eiskalten Temperaturen vor dem Reichstagsgebäude in Berlin gestanden, um ihr Gelöbnis abzu-
legen. Danach war vielen der beinahe 400 Rekruten der Bundeswehr die Erleichterung anzusehen. Zum ersten Mal seit sechs Jahren
fand die Zeremonie an diesem Ort statt. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) gab den jungen Soldaten eine Mahnung mit:
„Den Frieden zu schaffen, ist nicht kostenlos, das hat einen moralischen Preis.“jord FOTO: TOBIAS SCHWARZ / AFP Seite 5
von christina berndt, katrin
kampling und jasmin klofta
München – Patientendaten sind in zahl-
reichen Arztpraxen ungenügend gegen
Hacker geschützt. Das geht aus einem
vertraulichen Papier der Gesellschaft Ge-
matik hervor, das NDR undSüddeutscher
Zeitungvorliegt. Demnach gibt es in mehr
als 90 Prozent der Praxen, die bereits an
das bundesweite Gesundheitsdatennetz-
werk angeschlossen sind, Sicherheitsrisi-
ken. Sie sind mit einer Methode an das
Netzwerk angeschlossen, die eine zusätzli-
che technische Absicherung erfordert. Die-
se Absicherung wurde in der Regel aber
nicht vorgenommen.
Hacker können sich daher leicht Zugang
zu den sensiblen Gesundheitsdaten von
Millionen Patienten verschaffen. Dass das
Problem nicht nur theoretischer Natur ist,
berichten Ärzte, die auf ihren Praxis-
computern bereits Schadsoftware zum
Abgreifen von Daten gefunden haben.
Die Digitalisierung des Gesundheitswe-
sens schreitet derzeit schnell voran, denn
Praxen drohen Honorareinbußen, wenn
sie sich nicht ans Netzwerk anschließen.
Rund 115 000 der 170 000 verpflichteten
Praxen sind daher inzwischen mit Kran-
kenhäusern, Krankenkassen und Apothe-
ken verbunden. Über die Gesundheits-
karte und elektronische Patientenakten
soll die Behandlung so verbessert werden.
Eigentlich hat die Gematik, die mehr-
heitlich dem Bund gehört, klare Vorgaben
entwickelt, wie der Anschluss der Praxen
zu erfolgen hat. Ob die Vorgaben aber bei
der Installation von IT-Dienstleistern auch
umgesetzt werden, überprüft die Gematik
nicht. Schon seit Monaten warnen Compu-
terexperten, dass viele Anschlüsse nicht
den Sicherheitsstandards folgen. Dem ist
die Gematik inzwischen nachgegangen –
mit erschreckendem Ergebnis, wie das
vertrauliche Papier zeigt, das NDR und SZ
vorliegt. Demnach erfolgten bis Mai 2019
mehr als 90 Prozent der Installationen im
sogenannten Parallelbetrieb, bei dem zu-
sätzliche Schutzfunktionen unerlässlich
sind, zum Beispiel eine Hardware-Fire-
wall. Doch solche Schutzfunktionen gibt es
in den meisten Praxen nicht. Die alternati-
ve Anschlussmethode, den Reihenbetrieb,
würden viele IT-Dienstleister gar nicht
anbieten, heißt es in dem Papier weiter.
Wie anfällig für Hacker jene Praxen
sind, die im Parallelbetrieb angeschlossen
wurden, hat Harald Mathis, Professor am
Fraunhofer-Institut für Angewandte Infor-
mationstechnik, im Auftrag des bayeri-
schen Fachärzteverbands exemplarisch in
30 Praxen untersucht. „Ein Drittel war
sicher, und die anderen zwei Drittel waren
in einem beklagenswerten Zustand“, sagt
er. Es bestehe das Risiko, „dass mit den
Daten auch Schindluder getrieben wird“.
Das Bundesgesundheitsministerium
und die Gematik weisen die Verantwor-
tung für die Sicherheitslücken von sich.
Die sichere Installation sei Aufgabe der Pra-
xen, heißt es auf Anfrage. Die Opposition
erwartet hingegen „Aufklärung darüber,
in wie vielen Praxen es Probleme gibt und
wie sie schnellstmöglich behoben wer-
den“, sagt Maria Klein-Schmeink, die ge-
sundheitspolitische Sprecherin der Grü-
nen im Bundestag. „Datensicherheit muss
im Gesundheitswesen so selbstverständ-
lich werden wie Händewaschen.“ Seite 4
HEUTE
Die SZ gibt es als App
für Tablet und Smart-
phone: sz.de/zeitungsapp
Daimler-Chef
mahnt zum Sparen
München – Nach nur wenigen Monaten
im Amt wird Audi-Chef Bram Schot abge-
löst. Nach Informationen derSüddeut-
schen Zeitungsoll dies auf einer Sitzung
des VW-Aufsichtsrates am Freitag be-
schlossen werden. Auch weitere Audi-Vor-
standsmitglieder sollen abberufen oder
auf andere Positionen im Konzern verscho-
ben werden. Als neuer Audi-Chef ist schon
seit Längerem der ehemalige BMW-Mana-
ger Markus Duesmann im Gespräch. Dues-
mann soll zum 1. April 2020 nach Ingol-
stadt wechseln, nachdem er von seinem
ehemaligen Arbeitgeber BMW offenbar
eine Freigabe erhalten hat.
Der Niederländer Schot ist erst seit An-
fang des Jahres Vorstandschef bei Audi. Er
war nach der Verhaftung des ehemaligen
Audi-Chefs Rupert Stadler zunächst interi-
mistisch eingesprungen. Schot galt von Be-
ginn an als Übergangslösung. Es sei ihm je-
doch gelungen, in der kurzen Zeit Verkrus-
tungen bei Audi aufzubrechen und den Au-
tobauer auf eine neue Strategie einzustim-
men, heißt es aus Unternehmenskreisen.
Audi steht seit Längerem unter Druck. Die
einstige Vorzeigetochter des VW-Konzerns
ist tief in den Dieselskandal verstrickt und
gilt auf wichtigen Feldern nicht mehr als
Technologieführer. In dieser Situation
brauche Audi rasch einen Vorstandschef
mit technischer Expertise, heißt es im Kon-
zern. fa Wirtschaft
Im äußersten Südwesten und Nordosten lo-
ckert es auf und bleibt trocken. Sonst
kommt die Sonne selten durch. Es kann im
Südosten Regen, ab 500 bis 700 Metern Hö-
he auch Schnee geben. Zwei bis neun Grad
werden erreicht. Seite 9
NEUESTE NACHRICHTEN AUS POLITIK, KULTUR, WIRTSCHAFT UND SPORT
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Patientendaten meist schlecht geschützt
Viele Arztpraxen sichern sensible Informationen nicht ausreichend gegen Hacker-Angriffe.
Das Gesundheitsministerium sieht sich nicht in der Pflicht – und verweist auf die Mediziner
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Euro▼
- 0,
Ein Film wie ein Vermächtnis: Scorseses neues Mafia-Epos Feuilleton
Audi will seine
Spitze ablösen
Der Vorstandsvorsitzende Schot
und weitere Manager müssen gehen
(SZ) Ach, viel zu wenig besungen ist der mü-
de Mensch. Einst eine Großfigur im Reich
der Dichtung, streift er als Schattenwesen
an Schaufenstern vorbei, in denen glän-
zend gelaunte Espressomaschinen und
andere Muntermacher thronen. Kein An-
dreas Gryphius flüstert ihm Trostworte zu,
wenn im Reich der panischen Fitness und
unerbittlichen Selbstoptimierung sein su-
chendes Auge Ausschau hält nach einer
Parkbank, auf der er sich niederlassen
kann: „Lass / wenn der müde Leib ent-
schläft / die Seele wachen ...“. Fremd ist
ihm die Sprache des Barock geworden,
längst ist in seine Seele die Technik einge-
wandert, die ihn umgibt, und wenn seine
Zunge davon künden will, wie ausge-
brannt und leer der müde Mensch sich
fühlt, dann formt sie leise den Stoßseufzer:
„Mein Akku ist leer.“
Was aber ist der leere Akku im Men-
schen gegen den leeren Akku in seinem
Smartphone, einen der mächtigsten Dämo-
nen der Gegenwart? Er sorgt für das unauf-
haltsame Ersterben einer Bewegung, den
Zusammenbruch einer Verbindung, lässt
ein Termingeschäft scheitern. Er macht
sein Anhängsel, den modernen Menschen,
selbst dann handlungsunfähig, wenn sein
Akku nicht leer ist. Und wenn er leer ist, so
bleibt ihm der barocke Ausweg versperrt,
gegen die Melancholie die Reiselust zu
Hilfe zu holen. Vom leeren Akku aus dem
Paradies der unablässigen Kommunikati-
on und Erreichbarkeit vertrieben, irrt der
Mensch navigationslos durch fremde Städ-
te, unfähig, sich die Adresse vor Augen zu
führen, der er zustrebt, der Kraft beraubt,
rasch ein Ticket zu buchen oder ein Taxi zu
rufen. Wie jeder Dämon, der auf sich hält,
demonstriert der leere Akku seine Macht
schon aus der Ferne. Er weiß, dass durch
den Blick auf die schwindenden Balken in
seinem Smartphone oder Tablet der mo-
derne Mensch, der sich nicht in der Nähe
eines Aufladegerätes befindet, in Panik
gerät, schon ehe der Zustand der vollkom-
menen Entleerung erreicht ist. Eine große
Schule im Zeitalter des Automobils war der
Blick auf die Tankfüllungsanzeige, die sich
dem roten Bereich näherte, wenn auf der
Autobahn die nächste Raststätte noch
mehr als 50 km entfernt war. Der Blick auf
schwindende Smartphone-Balken ist der
Erbe dieser raumbezogenen Panik. Er dra-
matisiert die Zeit zur ablaufenden Frist.
Das Land, in dem mit der Gefahr zu-
gleich das Rettende wächst, ist bekannt-
lich Schwaben. In Ludwigsburg, wo sich
rund um Schloss und Orangerie blühender
Barock und schwäbisch-industrielle Ge-
schäftigkeit durchdringen, feiert die Wi-
dersacherin des leeren Akkus, die „Smart
Bench“ ihre ersten Erfolge, wie jüngst die
Pressesprecherin der Stadt bekannt gab.
Die kluge Bank lädt zwar auch den müden
Menschen ein, sich auf ihr niederzulassen.
Vor allem aber den leeren Akku. Ihn lädt
sie nicht nur ein, sie lädt ihn – sei es per
USB-Anschluss oder kabellos – auf.
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