Süddeutsche Zeitung - 13.11.2019

(Ron) #1
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Manchmal reicht der Platz einfach nicht
aus, um all die Namen der Söhne und Töch-
ter einzutragen. In Niger bekommen die
männlichen Einwohner vom Staat eine Art
Stammbuch, in das sie ihre Kinder eintra-
gen können, vielleicht auch, damit sie
nicht den Überblick verlieren: 20 Seiten
hat das Büchlein, manchmal reichen sie
nicht aus, um jedes Kind einzutragen.
Mehr als sieben Kinder bekommt jede
Frau in Niger im Durchschnitt. Weil Polyga-
mie weit verbreitet ist, haben viele Männer
mehr als 15 Kinder.
Die Vereinten Nationen haben berech-
net, dass sich die Bevölkerung Nigers bis
zum Jahr 2050 auf etwa 60 Millionen Ein-
wohner verdreifachen wird. Andere Schät-
zungen gehen sogar von 80 Millionen aus.
„Die Mehrzahl der Staaten – insbesondere
südlich der Sahara – wird kaum in der Lage
sein, die erforderliche Gesundheits- und
Bildungsinfrastruktur für die Menschen
bereitzustellen, geschweige denn genü-
gend Jobs, die ein auskömmliches Leben
ermöglichen“ schreibt das Berlin-Institut
für Bevölkerung und Entwicklung.
Es ist aber eher das Ausland, das sich
Sorgen macht. In Niger gibt es keine umfas-
sende gesellschaftliche Diskussion über
das enorme Bevölkerungswachstum. Wer
viele Kinder hat, steigt im Ansehen. Die
muslimischen Geistlichen erzählen Frau-
en immer wieder, dass es nicht im Sinne
Allahs sei, Kondome oder die Pille zu benut-
zen. Durch die Vielehe entsteht zwischen
den Ehefrauen ein regelrechter Wett-
kampf darum, wer seinem Mann die
meisten Kinder schenken kann. Je mehr
Söhne und Töchter, desto mehr wird dieser
Strang der Familie später erben. Viel zu
verteilen gibt es aber oft nicht. Millionen

Menschen in Niger leben in bitterere
Armut, sind Subsistenzbauern, die ein
bisschen Kartoffeln und Reis anbauen, viel-
leicht noch ein paar Papayas. Durch die
Erderwärmung und die Abholzung breitet
sich die Sahara immer weiter aus, der Re-
gen wird weniger, die Ernte auch. Weniger
Kinder würde für viele Familien mehr zum
Essen bedeuten.
Viele Väter und Mütter denken aber an-
ders. Sie wünschen sich sieben oder zehn
Kinder. Von denen, so die Denkweise, wer-
den zwei oder drei aufgrund der Kinder-
sterblichkeit früh zu Tode kommen. Von

den übrigen wird es eines vielleicht auf die
Schule schaffen und ein weiteres günstig
heiraten. Je mehr Kinder, desto höher die
Chance, dass es eines zu etwas bringt, viel-
leicht sogar nach Europa schafft. Individu-
ell mag das logisch erscheinen, für die
Gesellschaft als Ganze ist es fatal. Wirt-
schaftliches Wachstum wird durch ein fast
ebenso hohes Wachstum der Bevölkerung
aufgefressen. Niger hat schlicht nicht die
Ressourcen, um 80 Millionen Menschen
zu ernähren. Viele werden sterben, oder
auswandern. So langsam scheint auch der
Politik klar zu werden, dass das Bevölke-

rungswachstum problematisch ist. Präsi-
dent Mahamadou Issoufou spricht sich im-
mer deutlicher für Familienplanung aus.
„Bevor der Islam kam, heirateten Frauen
im Alter von 18 Jahren. Weil der Islam aber
falsch interpretiert wird, bekommen junge
Frauen schon mit 12 oder 13 Jahren Kin-
der“, sagte er kürzlich demGuardian. „Der
Islam sagt aber, du sollst nur Kinder ha-
ben, wenn du sie auch gut versorgen
kannst.“ Bis sich diese Erkenntnis in wei-
ten Teilen der Bevölkerung durchsetzt, ist
es noch ein weiter Weg. Trotz Aufklärungs-
kampagnen benutzen nur etwa zehn Pro-
zent der Paare im Niger Verhütungsmittel.

In Äthiopien ist die Zahl mittlerweile
vier Mal so hoch. Das Land ist ein Beispiel,
wie ein hohes Bevölkerungswachstum ge-
senkt werden kann. Mitte der Neunziger-
jahre noch bekam jede Äthiopierin im
Schnitt sieben Kinder, wie auch in Niger.
Mittlerweile ist die Zahl auf vier gesunken.
Was auch dazu führte, dass sich die Ernäh-
rungssituation entspannt hat, die dramati-
schen Hungersnöte gehören der Vergan-
genheit an.
Das Land hat in den vergangenen
Jahren viel in Bildung investiert. Noch im
Jahr 2005 konnten etwa siebzig Prozent er
Bevölkerung weder lesen noch schreiben,
heute ist es nur noch die Hälfte. Frauen, die
bis zum 18.Lebensjahr die Schule besucht
haben, bekommen deutlich weniger Kin-
der als Mädchen, die früh aus dem Bil-
dungssystem ausscheiden. Die Schulbesu-

cherinnen sind beruflich erfolgreicher und
selbstbewusster. In den Städten ist das
Bildungsniveau höher als auf dem Land. In
der Hauptstadt Addis Abeba ist die Zahl
der Kinder pro Frau sogar auf unter zwei
gefallen.
Die Regierung hat in den vergangenen
zwei Jahrzehnten zudem massiv in das
Gesundheitssystem investiert. Im ganzen
Land wurden 16 000 Gesundheitsstatio-
nen eingerichtet, in denen sich Frauen
über Familienplanung informieren kön-
nen. Mehr als 40 000 wurden zu Gesund-
heitshelferinnen ausgebildet, die dann wie-
derum weitere Freiwillige ausbilden; es ist
eine ganze „Gesundheitsentwicklungsar-
mee“ entstanden, so nennt der Staat die
Helferinnen offiziell. Sie haben dazu beige-
tragen, das Bevölkerungswachstum inner-
halb weniger Jahrzehnte um 50 Prozent zu
senken, auf derzeit 2,5 Prozent.
Es ist eine Erfolgsgeschichte, die aber
nicht alle afrikanischen Politiker zum
Nachdenken bringt. Viele tun das Konzept
der Familienplanung als zu westlich oder
kolonial ab. „Diejenigen, die Familienpla-
nung betreiben, sind faul. Sie haben Angst,
dass sie ihre Familie nicht ernähren kön-
nen“, sagte Tansanias Präsident John Ma-
gufuli im Jahr 2018. Er habe bei Besuchen
in Europa bereits gesehen, was eine altern-
de Bevölkerung anrichte. Seine Landsleute
sollten deshalb so viele Kinder wie möglich
bekommen. Der Präsident selbst hat aller-
dings nur zwei. bernd dörries

von roland preuß

E


s waren große Worte an die große
Runde. Jetzt sei der historische Mo-
ment, in Kairo werde über die Zu-
kunft der Menschheit verhandelt, sagte
UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Gha-
li, an Delegierte aus 179 Ländern gerichtet.
Neun Tage zog sich das Ringen hin, dann
stand ein Aktionsplan „zur Eindämmung
des rapiden Bevölkerungswachstums“.
Auf mehr als 100 Seiten riefen die Staaten
sich selbst dazu auf, die Lebensbedingun-
gen für Menschen in Entwicklungsländern
zu verbessern, Familienplanung zu för-
dern und Frauen mehr Rechte einzuräu-
men. „Mehr Macht den Frauen“, kommen-
tierte damals die SZ. Das war 1994.
Manche der Reden in Kairo könnte man
heute wohl erneut halten, ohne dass es auf-
fiele. „Frauen müssen selbst bestimmen
können, wie viele Kinder sie bekommen“,
sagte Bundesentwicklungsminister Gerd
Müller am Dienstag im Deutschlandfunk.
„Und das heißt Gleichberechtigung der
Frau.“ Auf der UN-Nachfolgekonferenz in
Kenias Hauptstadt Nairobi beraten von
diesem Dienstag an erneut Delegierte. Sie
diskutieren das Erreichte – und was noch
zu tun ist.
In den 25 Jahren seit der UN-Bevölke-
rungskonferenz von Kairo hat sich einiges
getan. Frauen bekommen deutlich weni-
ger Nachwuchs, 1994 waren es im globalen
Durchschnitt etwa 2,8 Kinder, heute sind
es knapp 2,5. In vielen Ländern ist diese so-
genannte Fruchtbarkeitsrate drastisch zu-
rückgegangen, darunter in Staaten, in de-
nen man es eher nicht vermutet hätte, wie
Marokko (2,2 Kinder pro Frau) oder Bangla-
desch (2,1). Viel mehr Frauen haben Zu-
gang zu Ärzten und zu Verhütungsmitteln,
im Osten und Süden Afrikas zum Beispiel
könnten heute doppelt so viele Frauen ver-
hüten wie damals, heißt es bei der Deut-
schen Stiftung Weltbevölkerung (DSW).

Die Trendwende aber ist nicht ge-
schafft, sie ist nicht einmal in Sichtweite.
Nach wie vor wächst die Menschheit rasant
(siehe Grafik). Jeden Tag kommen fast
230000 Menschen auf dem Planeten hin-
zu, das ist eine Stadt von der Größe Frei-
burgs. Jedes Jahr sind es 82 Millionen, et-
wa so viele Menschen, wie Deutschland
Einwohner hat. Und sie alle wollen essen,
wohnen, mobil sein, ein gutes Leben füh-
ren. Derzeit leben weltweit laut den Verein-
ten Nationen geschätzt 7,7 Milliarden Men-
schen, 2030 erwarten die UN-Experten
8,5 Milliarden, 2100 dann 10,9 Milliarden.
Erst um die Jahrhundertwende erwarten
die UN ein Ende des Wachstums. Dass es
bis dahin noch Jahrzehnte dauern dürfte,
liegt vor allem daran, dass es schon so viele
junge Menschen gibt. Setzt sich der Trend
der vergangenen Jahrzehnte fort, so wer-
den sie pro Paar zwar weniger Kinder be-
kommen als heute – aber es wird eben viel
mehr Paare geben, die überhaupt Kinder
bekommen können.

Auch 25 Jahre nach Kairo kommt es al-
lein in den Entwicklungsländern zu 89 Mil-
lionen ungewollten Schwangerschaften im
Jahr, laut DSW hat jede vierte Frau, die
dort verhüten will, immer noch keinen Zu-
gang zu Pille, Kondom oder Spirale. Womit
man wieder bei den Rechten der Frauen wä-
re. Am stärksten dürfte der Zuwachs im
Afrika südlich der Sahara ausfallen, allein
hier erwarten die UN-Experten im Jahr
2050 gut eine Milliarde Menschen mehr
als heute. Auch in Asien wächst die Mensch-
heit weiter, während die Kurven auf den an-
deren Kontinenten bereits einen Sinkflug
markieren. Insgesamt aber geht es weiter
nach oben.

Was ist daran so bedenklich? Viele junge
Menschen können gut sein für die Entwick-
lung eines Landes. Denn sinkt erst einmal
die Geburtenrate, so erhöht sich der Anteil
der Menschen im arbeitsfähigen Alter. Sie
können nun das Wirtschaftswachstum an-
treiben, Wohlstand und Staatseinnahmen
mehren. Wissenschaftler sprechen von ei-
ner „demografischen Dividende“. Die aber
gelingt bei Weitem nicht überall.
Viele Forscher, Entwicklungshelfer und
Politiker betonen deshalb Nachteile und Ri-
siken des rasanten Wachstums. Da ist zu-
nächst einmal das viele menschliche Leid,
das ungewollte Schwangerschaften hervor-
bringen, insbesondere bei Teenagern.
Mütter sterben bei stümperhaften Abtrei-
bungen, bei der Geburt, werden von der
Familie oder Dorfgemeinschaft verstoßen,
erleiden bleibende Gesundheitsschäden
wie sogenannte Scheidenfisteln, in deren
Folge Frauen ihre Ausscheidungen nicht
mehr kontrollieren können.
Die wachsende Zahl der Menschen kann
für ein Land auch zum Entwicklungs-
hemmnis werden, zur demografischen
Bürde statt Dividende. Das droht insbeson-
dere, wenn der Staat mit den vielen Neu-
bürgern überfordert ist, wenn er nicht
genug Schulen, Krankenstationen und Ver-
kehrswege bereitstellen kann, um all den
Menschen eine Perspektive zu bieten für
würdige Arbeit und mehr Selbstbestim-
mung. Ohne bessere Bildung keine Ent-
wicklung. Schon jetzt aber fehlen in Afri-
kas Schulen Millionen Lehrer. Und ohne
wenigstens eine grundlegende Schulbil-
dung bleiben die Geburtenraten hoch. Das
sagt jede Statistik. Wenn Mädchen nur ein
paar Jahre länger die Klassen besuchen, be-
kommen sie deutlich weniger Kinder. Bil-
dung gilt als das beste Verhütungsmittel
(nebenstehender Bericht).
Hinzu kommt der Ressourcenver-
brauch. Mehr Menschen bedeuten, dass
mehr Ackerfläche benötigt wird, mehr Wäl-
der gerodet, mehr klimaschädliche Gase
ausgestoßen werden, zumindest beim bis-
herigen Wachstumsmodell. Durch den
technischen Fortschritt ist es immer wie-
der gelungen, die wachsende Zahl von Men-
schen doch noch zu ernähren, allen War-
nungen vergangener Jahrhunderte und
Jahrzehnte zum Trotz, dass die Expansion

der Menschheit brutal durch Hungersnöte
gestoppt würde. Neue Züchtungen, Kunst-
dünger, Pestizide haben die Ernteerträge
in die Höhe gehen lassen. Vielerorts zeigt
sich allerdings auch, welche Schäden die in-
tensive Landwirtschaft hinterlässt. Ausge-
laugte Böden, aus denen trotz moderner
Technik nichts mehr zu holen ist, sind eine
Folge. Ein Wasserspiegel, der immer wei-
ter sinkt, weil der Durst von Baumwoll-
oder Gemüsefeldern unstillbar ist; Städte,
die nur noch unter größten Mühen mit sau-
berem Wasser versorgt werden können;
oder der Wald, der immer weiter zurückge-
drängt und durch Felder und Plantagen er-
setzt wird. In Indonesien etwa lässt sich
das über die Jahrzehnte eindrucksvoll
anhand von Satellitenaufnahmen nach-
vollziehen.

All dies geht mit mehr Treibhausgas-
emissionen einher, der Weltklimarat IPCC
machte in einem Sonderbericht im August
übermäßige Landnutzung, vor allem die
Waldrodungen und die Landwirtschaft,
für rund ein Viertel der menschlichen
Treibhausgasemissionen verantwortlich.
Wobei der entscheidende Faktor der Res-
sourcenverbrauch pro Kopf ist – und die-
ser ist in den Industrieländern, in denen
die Bevölkerungszahl meist stagniert, um
ein Vielfaches höher als in den ärmsten
Ländern, die für das Gros des Bevölke-
rungswachstums verantwortlich sind.
Bevölkerungswachstum befördert auch
irreguläre Migration. Das absehbar starke
Wachstum in Afrika ist gerade für den
Nachbarn Europa eine Herausforderung.
Das amerikanische Gallup-Institut befragt

alle paar Jahre weltweit mehr als eine hal-
be Million Menschen, ob sie auswandern
wollen. In den Staaten südlich der Sahara
ist dieser Wunsch am weitesten verbreitet,
fast jeder dritte Erwachsene sagte, er wür-
de in ein anderes Land ziehen, wenn dies
möglich wäre. Vielen fehlt die Perspektive
in ihrer Heimat, oder sie fliehen vor Bürger-
kriegen, Verfolgung, Dürren. Die meisten
bleiben auf dem Kontinent, ein Teil aber
wagt den Weg als Bootsflüchtling über das
Mittelmeer.
Solche Zusammenhänge waren auch
den Delegierten 1994 in Kairo nicht ganz
unbekannt. Der damalige Innenminister
Manfred Kanther (CDU) wies jedenfalls hin
auf einen Zusammenhang zwischen star-
ken Bevölkerungszuwachs und „wirt-
schaftlichem und ökologischem Verfall“.

Weltbevölkerung und Frauenrechte hän-
gen eng zusammen. Was vor 25 Jahren
noch umstritten war, etwa bessere sexuel-
le Aufklärung und Zugang zu Geburten-
kontrolle als Grundstein der Selbstbestim-
mung, wird heute akzeptiert. Nicht über-
all, aber doch weitgehend. Viele Regierun-
gen sind bemüht, die Rechte von Frauen
und Mädchen zu schützen und zu stärken.
Trotzdem sind viele Probleme längst nicht
gelöst. Probleme, die ausschließlich Frau-
en betreffen: Obwohl die Müttersterblich-
keit insgesamt zurückgegangen ist, entbin-
den die meisten Frauen in armen Ländern
wie Somalia oder der Zentralafrikanischen
Republik noch immer zu Hause – und ster-
ben häufiger an Komplikationen während
der Geburt. Noch 1994 wurde ein Drittel al-
ler Mädchen zur Ehe gezwungen, heute ist
es jede Fünfte. Das westafrikanische Burki-
na Faso etwa, ein Land mit einer der höchs-
ten Geburtenraten, hat erst im vergange-
nen Jahr das Mindestalter für Eheschlie-
ßungen auf 18 Jahre erhöht.

Weltweit hat nach wie vor eine große
Zahl der Frauen in Entwicklungsländern –
wenn überhaupt – nur eingeschränkten Zu-
gang zu Mitteln der Geburtenkontrolle. In
Afrika etwa haben ein Viertel aller Frauen,
die gerne verhüten würden, keine Möglich-
keit dazu. Viele können sich Kondome oder
gar die Pille nicht leisten. Auch Angst spielt
eine Rolle, in vielen Ländern gibt es wei-
terhin kulturelle und religiöse Vorbehalte.
Dabei könnte der Zugang zu Verhütungs-
mitteln dem US-Thinktank Guttmacher
Institute zufolge einen enormen Rückgang
ungewollter Schwangerschaften bewir-
ken: um nicht weniger als 75 Prozent.
1950 lebten in Afrika südlich der Sahara
180 Millionen Menschen, bis 2050 werden
es dreimal so viele wie in Europa sein:
2,1 Milliarden, so die Prognose der Verein-
ten Nationen. Um dem zu begegnen, wäre
es jedoch mit einem leichteren Zugang zur
Verhütung alleine nicht getan: Dort, wo es
keinen Wohlfahrtsstaat gibt und viele in
Armut leben, tragen Kinder zum Einkom-
men der Familie bei. Im Alter sind Eltern
auf die Unterstützung ihrer Söhne und
Töchter angewiesen.
Langfristig aber, so argumentieren die
Vereinten Nationen seit Langem, ist die „In-
vestition in die Fähigkeiten von Frauen“
der sicherste Weg zu Wirtschaftswachs-
tum und zur besseren Entwicklung eines
Staates. Die Allgemeinheit profitiere,
wenn die Regierungen in Entwicklungs-
ländern für Mädchen und Frauen eine
bessere Ausgangslage schafft. Etwa wenn
Mädchen eine weiterführende Schule be-
suchen können, wo sie sich wiederum eher
mit Konzepten wie Geschlechtergerech-
tigkeit auseinandersetzen. Mit einer abge-
schlossenen Ausbildung sind Frauen in
der Folge unabhängiger und können bes-
ser verdienen – und eher selbst entschei-
den und planen, ob und wann sie Kinder
haben wollen.

Daten der Weltbank zufolge gibt es ei-
nen klaren Zusammenhang zwischen der
Anzahl der Ausbildungsjahre einer Frau
und der Zahl der Kinder, die sie bekommt.
Je höher das Bildungsniveau einer Frau ist,
desto weniger Kinder wird sie bekommen,
so die nüchterne Sprache der Statistik. Der
Grund: Die Einkommensverluste für Frau-
en mit höherem Bildungsstand sind deut-
lich höher, wenn sie ein Kind bekommen,
als für Frauen, die keinem Job oder nur
einem mit geringer Bezahlung nachgehen.
Studien haben außerdem gezeigt, dass
Familien mit einer geringeren Zahl an Kin-
dern ihre Söhne und Töchter gleichberech-
tigter unterstützen und so bereits bessere
Bedingungen für Mädchen schaffen.
Dem UN-Kinderhilfswerk Unicef zufol-
ge zeigte eine Studie in Kenia, dass Mäd-
chen zwischen 17 und 18 Jahren weniger
sexuelle Kontakte haben, wenn sie in dem
Alter noch zur Schule gehen und somit
auch später Mütter werden. Das ist eine
Chance – aber zugleich auch das Problem:
Weltweit besucht noch jedes vierte Mäd-
chen keine weiterführende Schule.
anna reuß

Pro Jahr einmal


Deutschland


Was es für die Welt bedeutet, wenn ihre Bevölkerung
alle zwölf Monate um 82 Millionen Menschen zulegt

Die Zunahme der
Bevölkerung treibt die
Migration an – überall

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auch den Podcast.
 sz.de/nachrichtenpodcast

(^2) THEMA DES TAGES Mittwoch, 13. November 2019, Nr. 262 DEFGH
Äthiopiens Regierung hat stark in die Bildung von Frauen investiert – das macht
sich inzwischen bemerkbar. FOTO: MICHAEL TEWELDE/AFP
Fataler Wettkampf
In Niger bekommen die Frauen weltweit den meisten Nachwuchs, auch aufgrund fragwürdiger Traditionen. Äthiopien dagegen hat umgesteuert
Wachstumstreiber: Je ärmer die Men-
schen sind, desto schneller wächst die Be-
völkerung – wie etwa in Niger. FOTO: TATO/AP
Wo die Menschen mehr werden
Prognostizierte Bevölkerungszunahme zwischen 2019 und 2050 in Milliarden
Wachstumsträger
Bevölkerungsgröße und jährliche Wachstumsrate
3,
2,
2,
1,
1,
0,
0
-0,
1950 1970 1990 2010 2030 2050 2070 2090
14
12
10
8
6
4
2
0
Prognosen
2,
1,
1,
0,
0,
Elfenbeinküste
Afghanistan
Madagaskar
Mexiko
Bangladesch
Irak
Mosambik
Philippinen
Sudan
Kenia
Niger
Uganda
Angola
USA
Ägypten
Indonesien
Tansania
Äthiopien
Demokratische
Republik Kongo
Pakistan
Nigeria
Indien
SZ-Grafik: Mainka;
Quelle: United Nations, World Population Prospects 2019
Bevölkerung nach Regionen (95%-Bevölkerungsvorhersageintervalle)
5 4 3 2 1 0
Globale Verteilung
1950 1970 1990 2010 2030 2050 2070 2090
Durchschnittliche jährliche
Wachstumsrate derBevölkerung in Prozent
Durchschnittliche jährliche
Wachstumsrate derBevölkerung in Prozent
Gesamtbevölkerung
in Milliarden
Gesamtbevölkerung
inMilliarden
Gesamtbevölkerung
in Milliarden
Gesamtbevölkerung
inMilliarden
95% Bevölkerungsvorhersageintervalle95% Bevölkerungsvorhersageintervalle
ProjektionProjektion
ProjektionProjektion
Alle
anderen
Länder
Subsahara und Afrika
Nordafrika und Westasien
Zentral- und Südasien
Ost- und Südostasien
Lateinamerika und Karibik
Europa und Nordamerika
Australien und Neuseeland
Ozeanien
Jenseits
der Angst

Die Zahl der Kinder sinkt,
je mehr Rechte Frauen haben
Die Trendwende ist nicht
geschafft. Sie ist
nicht einmal in Sichtweite
1950 lebten 180 Millionen
Menschen in Afrika –
2050 sind es zehnmal so viele
In Addis Abeba bekommen
Frauen im Schnitt jetzt
weniger als zwei Kinder

Weltbevölkerung7,7 Milliarden Menschen leben inzwischen auf der Erde, zur Mitte des Jahrhunderts werden sich fast zehn Milliarden
die Ressourcen des Planeten teilen müssen. Allein in Afrika dürfte sich die Bevölkerung bis dahin verdoppeln. Das bedeutet in vielen Ländern
nicht Wohlstand und Reichtum, sondern noch mehr Elend und Not. Eine UN-Konferenz sucht nun nach Wegen aus der Misere
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