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F
inanzminister Olaf Scholz (SPD) will
das marode deutsche Vereinsrecht
so ändern, dass Vereine, die aus-
schließlich Männer aufnehmen, nicht
mehr den Status der Gemeinnützigkeit
und dessen Steuervorteile genießen. Der
Bundesfinanzminister macht damit einen
richtigen ersten Schritt zur Klarstellung
der schwammigen Gemeinnützigkeitskri-
terien.
In der Abgabenordnung heißt es, Verei-
ne sollten „die Allgemeinheit fördern“.
Ein Verein, der Menschen so diskrimi-
niert, wie es kein Unternehmen auf Arbeit-
nehmersuche darf, fördert ein überkom-
menes Weltbild, aber bestimmt nicht die
Allgemeinheit. Ohnehin wird eine Tren-
nung immer weniger praktikabel, je mehr
traditionelle Geschlechtervorstellungen
aufweichen: Was soll dann künftig über
die Mitgliedschaft entscheiden? Der Per-
sonalausweis, der Vorname, das Ausse-
hen? Die Genitalien?
Wohlgemerkt: Niemand verlangt, reine
Männervereine zu verbieten. Wer spen-
den oder mitmachen und dabei „unter
sich bleiben“ will, kann das weiter tun,
nur ohne Steuervorteile. Gewiss, der Ver-
lust der Gemeinnützigkeit kann finanziel-
le Bedrängnis verursachen. Für betroffe-
ne Vereine gibt es aber glücklicherweise ei-
ne Lösung: Sie können einfach Mitglieder
aller Geschlechter aufnehmen – oder es
zumindest anbieten. jana anzlinger
A
uch im Gesundheitswesen bietet Di-
gitalisierung Chancen: Wenn Ärzte,
Kassen und Apotheken Zugriff auf
Patientendaten haben, kann das Fehlbe-
handlungen verhindern und Kosten sen-
ken. Daher ist es verständlich, dass Bun-
desgesundheitsminister Jens Spahn
(CDU) den Aufbau des Gesundheitsdaten-
netzwerks beschleunigt hat. Die dabei be-
gangenen Fehler aber sind unverzeihlich.
In jahrelanger Arbeit hat die Gesell-
schaft Gematik die Technik so sicher wie
möglich gegen Datendiebstahl gemacht.
An der letzten, der sensibelsten Stelle
aber, beim Anschluss der Praxen, über-
ließ sie das Feld den mit der Technologie
oft überforderten Ärzten und privaten,
nicht vom Staat kontrollierten IT-Dienst-
leistern.
Jedes System ist nur so sicher wie seine
schwächste Stelle, das hätte auch Jens
Spahn wissen müssen. Doch seine Gier
nach schnellen Erfolgen war zu groß. Erst
jetzt, da die Daten von Millionen Patien-
ten in Gefahr sind, bessert der Gesund-
heitsminister nach: Das gerade beschlos-
sene „Digitale Versorgung Gesetz“ sieht ei-
ne Richtlinie zur IT-Sicherheit in den Pra-
xen vor. „Ich werde bei dem Thema Gema-
tik mehr Geschwindigkeit reinbringen,
Hacker hin oder her“, hatte Spahn im Janu-
ar gesagt. Die Hacker freuen sich jetzt. Ge-
sundheitsdaten lassen sich sehr gut ver-
kaufen. christina berndt
D
eutsche Raumfahrtfirmen haben
sich 50 Jahre nach dem Start des
ersten deutschen Satelliten welt-
weit etabliert, arbeiten auf Augenhöhe in
Nasa-Programmen mit, entwickeln Hard-
ware für die nächste US-Mondmission,
streben selbst zum Erdtrabanten. Deut-
sche Start-ups wollen Satelliten und Rake-
ten bauen – es herrscht eine Aufbruch-
stimmung, wie es sie lange nicht mehr ge-
geben hat in der deutschen Wirtschaft.
Mitten in dieser Euphorie passiert nun et-
was Erstaunliches: Die Bundesregierung
will ihren Anteil am Budget für die euro-
päische Raumfahrtagentur Esa kürzen.
Niemand erwartet, dass der Steuerzah-
ler einen Raketenstartplatz zahlen soll –
die gibt es schon anderswo. Doch die Ent-
wicklung der Industrie hängt auch von
der Esa ab. Deren Aufträge gehen nur in
dem Verhältnis an deutsche Firmen, wie
sich Deutschland am Esa-Budget betei-
ligt. Junge Gründer hierzulande verfolgen
ihre Visionen – nach dem Vorbild von En-
trepreneuren wie Elon Musk oder Jeff Be-
zos. Der Mut für etwas Neues ist da, das
Know-how auch.
Sollte der deutsche Esa-Anteil sinken,
werden Entwicklung und Produktion ab-
wandern. Es wird gern geklagt, dass
Deutschland den Anschluss bei Digitalisie-
rung und KI fast verloren hat. Diese Ent-
wicklung könnte sich in der Raumfahrt-
technologie fortsetzen. dieter sürig
E
s wird viel gesprochen derzeit
über das Sterben der Zeitzeu-
gen, die den Holocaust noch per-
sönlich erlebt haben. Wie sollen
wir, so die besorgte Frage, an
die Vernichtung erinnern, wenn einmal
die Überlebenden tot sind, wenn sie nicht
mehr ihre Ärmel hochkrempeln und die
Nummern auf ihren Unterarmen zeigen
können? „Was ich bei diesem Lamento nie
erlebe“, so der bissige Kommentar des
Schriftstellers Max Czollek, der selbst An-
gehörige im Holocaust verloren hat: „dass
jemand über das Sterben der Täter
spricht“. Jene, die heute um die 90 sind:
Kaum einer von ihnen wollte nach dem
Krieg reden. Kaum einer wurde auch zum
Reden gezwungen durch die deutsche Jus-
tiz. Und nun, da einige wenige auf ihre
sehr alten Tage noch vor Gericht gestellt
werden, darf dieser ungute Pakt trotzdem
als weitgehend geglückt gelten.
Auch Bruno D., der 93-Jährige, der sich
gerade in Hamburg vor dem Landgericht
verantworten muss, hat sein Leben fast zu
Ende leben dürfen, ohne je belangt zu wer-
den. Fast allen seiner einstigen Kamera-
den aus der SS-Wachmannschaft des Kon-
zentrations- und zeitweisen Vernichtungs-
lagers Stutthof bei Danzig erging es noch
günstiger. Etwa 3000 Männer, so schät-
zen Historiker, waren es insgesamt, die
morgens ihre Stiefel schnürten, um ge-
meinsam Juden und Polen zu töten – dies
war der Zweck des Lagers. Nur sieben von
ihnen sind je vor deutschen Gerichten ab-
geurteilt worden. In Hamburg 1950 wurde
einer freigesprochen, einer bekam zwei
Jahre. Dann 1957 in Bochum: Einer bekam
neun Jahre, einer drei Jahre und drei Mo-
nate. Und 1964 in Tübingen: Einer bekam
zwölf Jahre, einer sechs Jahre, einer wur-
de freigesprochen. Das ist alles.
Ein halbes Jahrhundert lang hat jetzt
straflose Ruhe geherrscht – nicht, weil die
Justiz nicht anders gekonnt hätte. Bei Bru-
no D. und anderen hätte die strafrechtli-
che Maschinerie längst anspringen müs-
sen, auch wenn Bruno D. „nur“ Wache ge-
standen haben will. Die Menschen im Kon-
zentrationslager sind ja nicht wie Lämmer
zur Schlachtbank gelaufen; sie sind mit
vorgehaltener Waffe hinbugsiert worden
zur Gaskammer oder zu der in Stutthof
ebenfalls gebräuchlichen „Genickschuss-
anlage“. Der Wachmann Bruno D. – so der
Vorwurf – war einer, der die Waffe vor-
hielt. Von seinem Wachturm aus.
Kann es so spät noch Gerechtigkeit ge-
ben, fragen jetzt Kritiker. Nein, Gerechtig-
keit kann es überhaupt nicht geben in so
einem Fall. Vergeltung kann sich niemand
ernsthaft erhoffen, denn welche irdische
Strafe wäre ein „Ausgleich“ für den Völker-
mord in Stutthof; was bedeuten schon, so
ein provokantes Schlagwort, das 1962 ein
Autor derZeitin die Welt setzte, „zehn Mi-
nuten Gefängnis pro Opfer?“ Schon da-
mals war das eine zynisch klingende, aber
realistische Berechnung. Heute fällt sie an-
gesichts des nahenden Lebensendes der
Beschuldigten noch schlechter aus.
Nur fünf Jahre Freiheitsstrafe hat der
einstige KZ-Wachmann John Demjanjuk
bekommen. Wegen Beihilfe zum Mord in
Sobibor an 28 060 Menschen. Bruno D.
nun, der sich in Hamburg für „nur“ ein
Fünftel so viele Mordopfer verantworten
muss, nämlich 5230 – sollte er auch nur
ein Fünftel der Demjanjuk-Strafe bekom-
men? Ist das gerecht? Die Zahlen haben
mit Gerechtigkeit, wie man sie sonst vor
hiesigen Gerichten versteht, kaum noch
etwas zu tun. Aber nicht deshalb, weil die
(mutmaßliche) Schuld des Angeklagten
zu gering wäre. Sondern weil sie so groß
ist, dass sie jedes Raster sprengt. Dieser
Anblick hat etwas Obszönes: Nebenan in
den anderen Schwurgerichtssälen in Ham-
burg stehen Mörder einzelner Personen
vor den Richtern – und fürchten, sehr viel
härter bestraft zu werden als hier.
Natürlich bringt es wenig, NS-Täter
noch an ihrem Lebensabend zu Gefängnis-
strafen zu verurteilen. Es muss trotzdem
sein. Hart ist es nicht, es ist noch immer re-
lativ milde, auch aus diesem Grund: Bis
heute klagt die Justiz sie nur wegen Beihil-
fe an. Auch bei Bruno D. ist das so. Es be-
darf dafür juristisch einer kleinen Verren-
kung: Nur drei wirkliche Täter hatte der
Holocaust, so nimmt die Rechtsprechung
seit der Nachkriegszeit an; nämlich Hitler,
Himmler und Heydrich. Alle anderen –
selbst KZ-Wachleute bis hinauf zu Kom-
mandanten – seien bloße Helfer.
An anderer Stelle hat die Justiz sich vor
einigen Jahren bereits selbst korrigiert,
im Fall des KZ-Wachmanns Demjanjuk er-
klärte sie nach Jahrzehnten endlich: Wer
sich am Betrieb einer Mordmaschine be-
teiligte, wissend, dass sie allein dem Mord
diente, der trägt Mitschuld. Ganz gleich,
ob er eigenhändig an der Gaskammer han-
tierte oder nur vom Wachturm aus. Den
zweiten Schritt, sich auch von der be-
fremdlichen Gehilfenrechtsprechung der
Nachkriegsjahre zu verabschieden, ist die
Justiz bisher noch nicht gegangen.
Das ist nicht ein Missstand, der nur in
weiter historischer Entfernung läge, in
den dunklen Anfangsjahren der Bundesre-
publik. Sondern einer, der noch fortdau-
ert, und mit dem die Richterinnen und
Richter – auch in Hamburg – endlich bre-
chen könnten.
Luis Fernando Camacho hat viele Spitzna-
men. Da wären zum Beispiel „El Macho“,
„Bolivianischer Bolsonaro“ oder auch „El
Presidente“, der Präsident. Bislang wurde
der Anwalt nur in seiner Heimatprovinz
so genannt, doch das könnte sich bald än-
dern. Es wäre der radikalste Politikwech-
sel, den man sich in Bolivien überhaupt
nur vorstellen kann.
Camacho stammt aus Santa Cruz im Os-
ten von Bolivien, gleich an der Grenze zu
Brasilien und Paraguay, flache Felder und
Hunderttausende Rinder. Nach der Erobe-
rung Südamerikas durch die Spanier
kamen zuerst die Jesuiten in die Region,
dann europäische Einwanderer. Heute ist
Santa Cruz das unternehmerische und
landwirtschaftliche Zentrum Boliviens.
Die Provinzhauptstadt Santa Cruz de la
Sierra steht in ewiger Konkurrenz zu La
Paz im Hochland.
Hier wurde Camacho geboren und hier
wuchs er auf. 40 Jahre ist er alt und der
Spross einer wohlhabenden lokalen Unter-
nehmerfamilie. Er hat in Santa Cruz und
in Barcelona Jura studiert und danach in
den Firmen seiner Eltern mitgearbeitet.
Daneben war Camacho aber schon mit An-
fang zwanzig Leiter der „Unión Juvenil
Cruceñista“, einer Gruppe, die für mehr
Autonomie des Tieflands kämpft und als
zumindest paramilitärisch, wenn nicht so-
gar rechtsextrem gilt. Anfang dieses Jah-
res wurde Camacho dann zum Präsiden-
ten des Komitees „Pro-Santa Cruz“ ge-
wählt, einer Bürgervereinigung aus ein-
flussreichen Unternehmern und sozialen
Gruppen. Schon sein Vater hatte diesen
Posten inne, er verspricht normalerweise
ein wenig lokales Ansehen, mehr aber
auch nicht. Camacho aber hat ihn ge-
nutzt, um sich an die Spitze der aktuellen
Protestbewegung zu stellen. Er hat maß-
geblich daran mitgewirkt, den bisherigen
Präsidenten Evo Morales zum Rücktritt
zu zwingen, und er hat es damit zu landes-
weiter Berühmtheit gebracht.
Morales hatte Bolivien mehr als 13 Jah-
re regiert. Die Wirtschaft wuchs, Millio-
nen schafften es aus der Armut. Der Präsi-
dent beugte aber auch die Verfassung, um
sich immer wieder wählen zu lassen. Das
führte zu Unmut, der in Protest um-
schlug, als es Unregelmäßigkeiten bei der
Wahl Ende Oktober gab. Die Opposition
forderte eine Stichwahl, Camacho als Ers-
ter öffentlich den Rücktritt von Morales.
Camacho ist zwar vergleichsweise jung
und kein Mitglied einer Partei, noch nie
ist er in ein öffentliches Amt gewählt wor-
den. Im Zuge der Proteste aber bewies er,
wie viel politisches Gespür er dennoch be-
sitzt. Denn als diese immer größer wur-
den, stellte Camacho erst ein Ultimatum
an Morales, dann flog er selbst öffentlich-
keitswirksam nach La Paz, unter dem
einen Arm ein vorgefertigtes Rücktritts-
schreiben, unter dem anderen eine Bibel.
Denn auch das ist Teil seiner Inszenie-
rung: Wann immer er kann, sinkt Cama-
cho zum Gebet auf die Knie, reckt eine
Faust mit Rosenkranz in die Luft oder zi-
tiert Bibelverse.
All das steht in strengem Widerspruch
zu Morales. Als erster indigener Präsident
seines Landes förderte dieser die traditio-
nellen Religionen, er berief sich auf Pacha-
mama und Tata Inti, Mutter Erde und
Vater Sonne. Camacho dagegen steht den
fundamental-christlichen Politikern aus
Paraguay und Brasilien viel näher, allen
voran dem brasilianischen Präsidenten
Jair Bolsonaro. Mit frommer Rhetorik
und dem Image vom starken Mann hat es
dieser 2018 ins Präsidentenamt ge-
schafft. Und so wie es aussieht, will auch
Camacho dorthin.
Die Chancen stehen nicht schlecht,
auch wegen eines weiteren Punkts, der Ca-
macho und Bolsonaro eint: Beide pflegen
nicht nur das Image vom starken und
frommen Mann, sondern auch das des po-
litischen Outsiders. Er habe nie Präsident
sein wollen, sagt Bolsonaro. Camacho ver-
spricht, nach dem Rücktritt von Morales
nach Santa Cruz zurückzukehren und
sich ausschließlich seinen Geschäften zu
widmen. Es wird sich zeigen, ob er dieses
Versprechen hält. christoph gurk
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von hubert wetzel
J
eder kennt die Wahrheit. Jeder weiß,
was Donald Trump getan hat. Selbst
der notorische Lügner Trump kann
nicht genug lügen, um die Wahrheit zu
verdecken. Und die Wahrheit ist: Der Prä-
sident der Vereinigten Staaten von Ameri-
ka hat sein Amt und seine Macht miss-
braucht, um sich einen persönlichen poli-
tischen Vorteil zu verschaffen. Er hat die
ukrainische Regierung erpresst, damit
diese ihre Staatsanwälte gegen einen in-
nenpolitischen Gegner Trumps ermit-
teln lässt, den demokratischen Präsident-
schaftsbewerber Joe Biden.
Das sind die Fakten. Wer sie kennen
will, der kennt sie, dazu braucht es die öf-
fentlichen Anhörungen eigentlich nicht,
mit denen die Demokraten jetzt im Kon-
gress beginnen. Und es gibt in Washing-
ton außer Trump auch praktisch nieman-
den mehr, der sich die Blöße geben will,
diese Fakten ernsthaft zu bestreiten.
Was es hingegen in beliebiger Anzahl
gibt, sind republikanische Abgeordnete
und Senatoren, die diese Fakten ignorie-
ren, entschuldigen oder herunterspielen;
die auf den Demokraten herumhacken,
weil diese die Fakten ans Licht gebracht
haben; oder, und das ist die jüngste Vari-
ante, die die Fakten zwar anerkennen, sie
aber gleichzeitig dadurch wegzuerklären
versuchen, dass sie sagen, Donald Trump
- immerhin der Mann, den sie ansonsten
als einen ganz großartigen Präsidenten lo-
ben – sei einfach intellektuell zu be-
schränkt und emotional zu instabil, um
dafür verantwortlich gemacht werden zu
können, was er getan hat.
Das ist nicht schmeichelhaft für den
Präsidenten. Aber solange die Republika-
ner so reden, muss Trump sich keine Sor-
gen machen. Seine Verteidigungsstrate-
gie gegen das Amtsenthebungsverfahren
besteht darin, es als einen parteitaktisch
motivierten Rachefeldzug der Demokra-
ten zu diffamieren. Das geht nur, wenn
kein Republikaner überläuft und bei dem
Impeachment mitmacht. Viel wichtiger
als das, was seine Parteifreunde über ihn
sagen, ist für Trump daher, dass keiner
von ihnen im Abgeordnetenhaus oder im
Senat gegen ihn stimmt.
Das wissen die Demokraten. Deswe-
gen vernehmen sie von diesem Mittwoch
an die Zeugen gegen Trump live im Fern-
sehen. Es geht dabei nicht darum, neue
Fakten zutage zu fördern, sondern dar-
um, die Republikaner in die Enge zu trei-
ben. Der politische Preis, den diese dafür
bezahlen müssen, dass sie einen Präsi-
denten verteidigen, der seinen Amtseid
gebrochen hat, soll steigen.
Wäre Trump auf die Loyalität oder gar
die Zuneigung der Republikaner im Kon-
gress angewiesen, dann könnte er wohl
einpacken. Weder das eine noch das ande-
re existiert in ausreichend großem Maße,
um seinen Verbleib im Amt zu garantie-
ren. Stattdessen rechnet der Präsident da-
mit, dass die blanke Angst ihn rettet: die
Angst der republikanischen Parlamenta-
rier, dass die eigenen Parteianhänger re-
voltieren und sie rauswerfen, wenn sie
sich gegen Trump stellen; und die Angst
der Partei, dass die Präsidentschaftswahl
nächstes Jahr verloren geht, wenn sie
sich jetzt per Impeachment ihres Kandi-
daten entledigt.
Die Angst, dass Amerikas Demokratie
vielleicht irreparabelen Schaden nimmt,
wenn Trump weiterregiert, wiegt die
Angst der Republikaner vor dem Absturz
in die Opposition nicht auf. Auch das ge-
hört zur Wahrheit: Trump tut, was er tut.
Aber es ist die Feigheit der Republikaner,
die ihn damit davonkommen lässt.
von kia vahland
Z
u den großen Stoffen der Oper und
des Theaters gehören der Umgang
mit Macht und deren Missbrauch.
Wer bricht unter welchen Umständen Ge-
setze, die doch für alle gelten; was folgt
daraus für wen? Normalerweise wird so
etwas im Raum der Kunst verhandelt, in
dem alles denkbar, darstellbar und vor al-
lem reflektierbar ist. Gerade aber führen
in München einige Kulturschaffende
selbst – unfreiwillig – ein exemplarisches,
über die Stadtgrenzen hinausweisendes
Lehrstück auf, das davon erzählt: von den
Mechanismen des Missbrauchs institutio-
neller Macht, vom kollektiven Täter-
schutz und von systematischer Opfer-
Missachtung. Zu erfahren ist auch: Wer al-
le Regeln ignoriert, erntet Widerstand, bla-
miert sich und riskiert Glaubwürdigkeit.
Titelfigur des Stücks ist der frühere Di-
rektor der Münchner Musikhochschule
Siegfried Mauser, der im ersten Akt we-
gen mehrerer Fälle sexueller Nötigung in
Hochschulräumen zu einer Gefängnisstra-
fe verurteilt worden ist. Das Urteil gegen
den Pianisten und Musikwissenschaftler
ist rechtskräftig, es wurde vom Bundesge-
richtshof bestätigt. Es ist der einzig promi-
nente Fall im deutschen Kulturleben, der
nach den unter #Aufschrei und #MeToo
bekannt gewordenen Empörungswellen
mit einer mehrjährigen Haftstrafe endete.
Während der generellen Debatte um se-
xuelle Gewalt wurde immer wieder auf
die Rolle der Gerichte verwiesen, denen al-
lein gebührt, jemanden schuldig zu spre-
chen. Dies ist jetzt geschehen, die Opfer
Mausers haben den juristischen Weg er-
folgreich beschritten. Das jedoch heißt
überraschenderweise noch nicht, dass sie
damit auch über die Deutungshoheit der
Geschichte verfügen. Schon vor drei Jah-
ren, im zweiten Akt des Stückes und noch
in der ersten Phase der juristischen Aus-
einandersetzung, stellten namhafte deut-
sche Intellektuelle wie Hans Magnus En-
zensberger die Frauen in Leserbriefen an
die SZ als rachsüchtig hin: In Wahrheit sei-
en die Damen von Mauser sexuell ver-
schmäht worden. Der illustre Chor auf der
Bühne sang das Lied vom unschuldigen,
heiß begehrten Genie.
Im dritten Akt des Stückes ehren nun ei-
nige Mitglieder der Bayerischen Akade-
mie der Schönen Künste, der Mauser bis
vor Kurzem angehörte, und andere be-
kannte Intellektuelle ihren Kollegen mit
einer Festschrift. Im Vorwort ist die Rede
vom „Charismatiker“ Mauser, gepriesen
wird „Mausers Empathie, sein Einfüh-
lungsvermögen und die Fähigkeit, sich
mitzufreuen und mitzuleiden“. In dieser
Sicht waren es Mausers „unbändiger Ta-
tendrang, die ansteckende Spontaneität
und begeisternde Vitalität“ sowie sein
„bisweilen die Grenzen der ,bienséance‘
überschreitender weltumarmender
Eros“, die ihn vor die Richter brachten.
Der Gewalttäter erscheint als ein „die
Grenzen der Wohlanständigkeit“ über-
schreitender freizügiger Künstlergeist. Ei-
ner der Vorwort-Autoren rechtfertigte
sich jetzt im Bayerischen Rundfunk mit
„Ironie“ und den Worten „Ich bin ein Schü-
ler Thomas Manns“.
Humanistische Bildung schützt leider
vor gar nichts, das ist eine Lehre dieses
Stücks. Wer meint, bloß weil die Kunst al-
les darf, dürfe das auch der Künstler, be-
schönigt sexuelle Gewalt und verhöhnt Be-
troffene. Und er missbraucht auch die
Kunst. Die ist nämlich für alle da, und
nicht selten hört sie aufmerksam den Op-
fern zu, die wahrhaftigere Geschichten zu
erzählen haben als die Täter und deren Un-
terstützer.
MÄNNER-VEREINE
Ausgrenzen hat seinen Preis
Windmühlen sind ein er-
staunlich ergiebiges Sujet in
Kunst und Literatur – vor al-
lem in Anbetracht der Tatsa-
che, dass Windrotoren heute
vielen als ästhetisch unzumutbar gelten.
Sie zieren häufig Delfter Kacheln, Don
Quijotes Kampf beschäftigt Abiturienten
in aller Welt, und Dusty Springfields
1969er-Version des Songs „The Wind-
mills of Your Mind“ ist sowieso einer der
ewigen Höhepunkte der Popmusik. Da-
bei ist so ein Windrad eigentlich eine
simple Sache: Mehrere Flügel werden
schräg montiert, sodass der Wind sie ro-
tieren lässt – ähnlich wie die von Kerzen
aufsteigende warme Luft eine Weih-
nachtspyramide dreht. Holländische
Windmühlen hatten häufig vier Flügel,
die eine Getreidemühle oder eine Wasser-
pumpe antrieben. Moderne Windräder
haben meist nur drei Flügel, und der
Wind bewegt nicht mehr Mühlen, son-
dern den Drehstrom-Asynchron- oder
Synchron-Generator, der die mechani-
sche Drehung der Nabe in elektrische
Energie, vulgo Strom umwandelt. In
Deutschland soll Windkraft auf See und
zu Lande einen wichtigen Beitrag zur
Energiewende liefern. Ein am Dienstag
bekannt gewordener Gesetzentwurf
könnte den nötigen Ausbau jedoch er-
schweren: Demnach müssten neue Wind-
räder mindestens einen Kilometer Ab-
stand zu Wohngebäuden halten. weis
(^4) MEINUNG Mittwoch, 13. November 2019, Nr. 262 DEFGH
FOTO: MARCO BELLO/REUTERS
IMPEACHMENT
Trumps größter Trumpf
SEXUELLE NÖTIGUNG
Entlarvendes Lehrstück
GESUNDHEITSDATEN
Einladung an Hacker
RAUMFAHRT
Euphorie abgewürgt
Livestream sz-zeichnung: pepsch gottscheber
HOLOCAUST
Alte Täter
von ronen steinke
AKTUELLES LEXIKON
Windrad
PROFIL
Luis Fernando
Camacho
Strenggläubiger
Oppositionsführer
in Bolivien
Der bedrängte US-Präsident
kann auf die Angst und Feigheit
seiner Republikaner zählen
In einem Missbrauchsfall in
München verhöhnen illustre
Kulturschaffende die Opfer
Bis heute klagt die Justiz
Akteure des NS-Regimes
nur wegen Beihilfe an
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