Neue Zürcher Zeitung - 08.11.2019

(Steven Felgate) #1

INTERNATIONALE AUSGABE


Freitag, 8. November 2019 ZÜRICH UND REGION 31

Die kantonale Weiterbildungsschule


entlässt 50 Angestellte per Herbst 2020 SEITE 32


Die St immung auf Zürichs S trassen ist ni cht gut –


die St adt reagiert mit einer neuen Kampagne SEITE 33


Gericht spricht «Carlos» schuldig


Das Verdikt der Richter gege n Br ian K. ist die kleine Verwahrung


FLORIAN SCHOOP


Als Richter Marc Gmünder am späten
Mittwochnachmittag seinen Platz ein-
nimmt,um das Urteil imFall «Carlos» zu
sprechen, schaut er ins Leere. Der junge
Mann, um den es geht, fehlt.Wie bereits
an derVerhandlung vor einerWoche. Im
SaalbefindensichdafürübereinDutzend
Journalisten. Und perVideoübertragung
warten weitere Zuschauer gespannt auf
den Entscheid des Gerichtsvorsitzenden.
GmünderhattekeineleichteAufgabe.
ErmusstesichentscheidenzwischenVer-
wahrung oderFreiheit. Der Staatsanwalt
beantragteeineVerwahrungnachArt.64
des Strafgesetzbuches.Damit wäre der
24-Jährige, der inzwischen mit seinem
richtigen Namen Briangenannt werden


will, nachVerbüssung einerFreiheits-
strafe ohneTherapie weggeschlossen
worden. SeinVerteidiger hingegen for-
derte eine geringe Strafe und damit die
Freilassung seines Mandanten.
Gmünder eröffnet seine Urteils-
begründung nüchtern: «Das Gericht
spricht Brian K. in sämtlichenAnklage-
punkten schuldig und bestraft ihn mit
einerFreiheitsstrafe von 4Jahren und
9 Monaten sowie einer Geldstrafe von
70 Tagessätzen zu 10Franken.» Der
Vollzug dieser Strafe aber wird zuguns-
ten einerstationären therapeutischen
Massnahme aufgeschoben – besser be-
kannt als «kleineVerwahrung». Das
heisst, Brian K. muss eineTherapie ma-
chen , gegen die er sich in derVergan-
genheit immer gesträubt hat.Laut einem
Gutachten ist eine solche Massnahme
«schwierig, aber möglich».


Wiederholungstäterin Haft


Obwohl also die Erfolgschancen eher
gering sind, will das Gericht diesenWeg
gehen. Denn wenn esnur einekleine
Möglichkeit gebe, dass eineTherapie
wirke, dann müsse man diese Chance
beim Schopf packen, findet Richter
Gmünder.
Die Liste der Delikte, die dem Urteil
zugrunde liegen, ist lang: Der junge
Mannhatsichdermehrfacheneinfachen
Körperverletzung,dermehrfachenSach-


beschädigung,dermehrfachenDrohung,
der mehrfachen Gewalt und Drohung
gegen Behörden und Beamte sowie der
mehrfachen Beschimpfung schuldig ge-
macht.Alle 29 Straftaten beging er zwi-
schenJanuar 2017 und Oktober 2018,
alle hinter Gittern.
Auch im wichtigsten Punkt erfolgt
eine Verurteilung – bei der versuchten
schweren Körperverletzung. Wichtig
deshalb, da der Richteraufgrund dieser
Schuldigsprechung eine stationäre the-
rapeutische Massnahme angeordnet
hat. Denn, so Richter Gmünder: «Ohne
diese dreht sich die Abwärtsspirale von
Brian K. bis zur finalen Erschöpfung
immer weiter.»
Hintergrund dafür bildet ein ver-
hängnisvoller Vorfall in einem Ge-
sprächszimmer der Justizvollzugs-
anstaltPöschwies. Im Juni 20 17 kam es
zu einerAuseinandersetzung mitAuf-
sehern.Während der Gerichtsverhand-
lung vor einerWoche sagte der Staats-
anwalt,Brian K.habe wie eineFurie auf
den Wärter eingeschlagen. Erst die alar-
mierten Mitarbeiter hätten den ausge-

bildeten und kräftigen Kampfsportler
von seinem Opfer trennenkönnen.
Diese Schilderung hält das Gericht
für glaubhaft.Absprachen zwischen den
beteiligtenAufsehern, wie sie derVer-
teidiger geltend machte, seien unglaub-
würdig. «Es gibtkein Motiv, warum
sich alle acht Gefängniswärter so einer
schweren Straftat schuldig machen soll-
ten», sagt Richter Gmünder.

«Brian K. tickteaus.»


Das Opfer desAngriffs zog einfacheKör-
perverletzungen davon.Dennoch verur-
teilt der Richter den jungen Straftäter
wegen versuchter schwerer Körperver-
letzung. Gmünder hältfest:«Brian K.er-
klärte denAnwesenden den Krieg, seine
Augen veränderten sich, er tickte aus.»
Zudem habe er einen unbeteiligtenAuf-
seher angegriffen,inRage auf ihn einge-
prügelt und auch dann nicht aufgehört,
als dieser am Boden lag. «DieWut hörte
nicht auf,auch nicht in der Zelle.»Dass
das Opfer nicht schwerer verletzt wurde,
sei nicht dem Täter zu verdanken, son-

dern dem Eingreifen derAufseher. «Der
Beschuldigte hingegen hat als kräftiger
Kampfsportler schwereVerletzungen in
Kauf genommen.»
In seinem Urteil hat das Bezirks-
gericht Dielsdorf die schwierigen per-
sönlichenVerhältnisse des jungen Man-
nes sowie dessen beschwerliche Kind-
heit als strafminderndeingestuft – vor
allem bei den geringfügigeren Delik-
ten. «Er hattekeinen einfachen Start,
keine angemesseneAusbildung. Zudem
hat er schwierige Erfahrungen mit staat-
lichen Institutionen gemacht.»Damit ge-
meint ist etwa einVorfall in der Psychia-
trischen Universitätsklinik Zürich, wo er
als 16-Jähriger fast zweiWochen ans Bett
gefesselt wurde. Und im Gefängnis Pfäf-
fikon wurde er ein paarJahre später in
eine unbeheizte Zelle ohne Matratze ge-
stecktunddurftezeitweisenureinenPon-
cho tragen, ohne eigene Kleidung, ohne
Unterwäsche.EineUntersuchunghatdie
Vorgänge kritisiert, der verantwortliche
Gefängnisdirektor musste gehen.
Ein Justizopfer, als das ihn seinAnwalt
darstellte, sei Brian K.aber nicht,erklärt

Gmünder. Lange vor diesenVorfällen
habe er immer das gleicheVerhaltens-
muster gezeigt. Bereits als Siebenjähri-
ger seien Massnahmen nötig gewesen,
da er aggressiv und massiv provozierend
aufgefallen sei. EinJahr später schlug
er laut Akten Mitschüler brutal zusam-
men , auch unbegründet. Ein Mädchen
etwa soll er karateartig ins Brustbein
ge treten haben, erwähnt der Richter.
2006 demolierte er dann ein Zimmer,
um eine Heimeinweisung abzubrechen.
Und 2009 gibt es einen Eintrag, wo-
nach Brian K.als «pädagogischer Su-
per-GAU» bezeichnet wird.

Mit Gewalt zum Ziel


Es zeige sich bei ihm immer wieder
das gleiche Muster, konstatiert Gmün-
der. Brian K. habe gemerkt, dass er mit
Gewalt alles sabotierenkönne, um an
sein Ziel zukommen. Und da erWie-
derholungstäter ist, erhöhtdas Gericht
das Strafmass bei den schweren Delik-
ten. Zusammen mit der stationären the-
rapeutischen Massnahme sei dies die
höchste Strafe, die gegen Brian je aus-
gesprochen worden sei,so Gmünder.
Der junge Mann müsse sich bewusst
sein,dass die Zeit derJugendstrafen
vorbei sei.
Seine Urteilsbegründung schliesst
Richter Gmünder mit denWorten ab:
«Wir haben es mit einemFall zu tun,der
für alle Beteiligten sehr belastend ist –
auch für Brian K. selbst.» Eine Lösung
könne nicht mit einemFederstrich er-
reicht werden,man kommenur mit klei-
nen Schritten ans Ziel.«Dafür braucht
es kreative Lösungen undDurchhalte-
willen. Rückschritte sind auf diesem
Weg unvermeidlich.»
Der Staatsan walt spricht in einer ers-
ten Reaktion von einem «positiven Ent-
scheid».Das Gericht sei seinenAusfüh-
rungen vor allem hinsichtlich der ver-
suchten schweren Körperverletzung
gefolgt. Er will jedoch das schriftliche
Urteil abwarten,bevor er über einen all-
fälligenWeiterzugentscheidet.
Für BriansVerteidiger hingegen ist
klar:«Wir werden in Berufung gehen.»
Er sei nicht einverstanden mit den
Schuldsprüchen, vor allem mit jenem
beim Hauptvorwurf. Zudem hält er
eine stationäre Therapie angesichts der
Vorgeschichte von Brian fürkeine ziel-
führende Option.

DG 190013 vom6. 11 .19,nochnicht rechts-
kräftig.

29 Delikte soll «Carlos» lautAnklage im Gefängnis begangen haben. LINDA GRAEDEL/KEYSTONE

Im Gefängnis
nicht resozialisierbar
Kommentar auf Seite 19

BUNDESGERICHT


Der Flughafen Zürich darf vorerst kein neues Parkhaus bauen


Das Bundesgericht fordert eine n eue Umweltverträglichkeitsprüfung


RETOFLURY


«Bequem und entspannt abfliegen» –
mit diesem Slogan lockt eine private
Firma für ihren Service: günstigePark-
plätze gleich neben dem Flughafen
Zürich. DieKunden stellen ihrAuto im
Parkhaus 3 des Flughafens ab, überge-
ben aneinem Schalter den Schlüssel und
begeben sich danach «stressfrei» zum
Check-in, wie es auf derWebsite heisst.
DasUnternehmen sorgt dafür,dass der
Wagen umparkiert wird.
Der Flughafen wollte südlich seines
Geländes ein neuesParkhaus P10 mit
run d 3000 Parkplätzen bauen, unmit-
telbar neben der HaltestelleBalsberg.
Die Passagiere sollten von da mit Bus-
sen oder mit der Glatttalbahn zum Flug-
hafen fahren.Im Frühling 2017 bewil-


ligte das Bundesamt für Umwelt,Ver-
kehr, Energie undKommunikation die
Pläne unterAuflagen.Was die umwelt-
rechtliche Prüfung betraf, so ging es da-
von aus, dass diese bereits erfolgt war.
Fünf Jahre zuvor hattedas Departe-
ment entschieden, dass der Flughafen
seinParkplatzangebot um insgesamt
7100 Plätze ausbauen darf und dass hier-
für eine ausreichende Umweltverträg-
lichkeitsprüfung für die Bereiche Luft-
hygiene undLärm vorliege.
Der VCS verlangte hingegen einen
neuen Umweltbericht für das Park-
haus P10. Die frühere Prüfung sei quasi
«auf Vorrat» erstellt worden, argumen-
tierte er sinngemäss. Nach Meinung des
VCS war sie allerdings überholt, da in
der Zwischenzeit etliche Off-Airport-
Parkplätze entstanden seien, die eben-

falls angerechnet werden müssten.Da-
bei handelt es sich umParkplätze, die
sich auf privatem Gelände ausserhalb
des Flughafenareals befinden.
Der VCS fand vorerstkein Gehör,
weder beimVerkehrsdepartement noch
späterbeim Bundesverwaltungsgericht.
So stand am Schluss das Bundesgericht
vor derFrage, ob die Off-Airport-Park-
plätze zum Flughafen als Gesamtanlage
zählen und deshalb bei der Bewilligung
des neuenParkhauses eineRolle spie-
len sollten. Der Flughafen wehrte sich.
Nur zwei Betreiber hättenam Flughafen
eine eigene Infrastruktur, um dieAutos
entgegenzunehmen und zurückzugeben,
und nur ihnen sei nach denVorgaben
der Wettbewerbskommission eine Zu-
lassung erteiltworden.AndereAnbieter
dürften nur die Shuttle-Bus-Zone be-

nützen, wo auch die Hotelbusse hielten.
Die I. ÖffentlichrechtlicheAbteilung
des Bundesgerichts teilt die Off-Air-
port-Parkplätze jetzt in zwei Katego-
rien ein, um zu beurteilen, wie eng die
Verbindung zum Flughafen ist.Wenn
die Passagiere direkt zu denParkplätzen
fah ren und von dort mit Sammeltrans-
porten an den Flughafen gelangen,müs-
sen sie nichteingerechnet werden, wie
aus dem Urteil hervorgeht. DieFirmen
und der Flughafen wirkten nur in unter-
geo rdnetem Umfang zusammen. Ganz
anders beurteilen die Richter jedoch die
Lage, wenn dieKunden ihreWagen am
Flughafen abgeben und Angestellte der
Unternehmen dieAutos überführen.
Wenn die Anbieter am Flughafen
eine eigene Infrastruktur wie Schalter
oder Umschlagparkplätze führten, be-

stehe ein «engerräumlicher und funk-
tionaler Zusammenhang» zum Betrieb
desFlughafens,findetdasBundesgericht.
Aus Sicht derKunden gebe es eine «er-
heblichegemeinsameOrganisation»zwi-
schen dem Flughafen und derFirma.
Das Gericht gelangt zum Schluss,
dass dieseParkplätze zur Gesamtanlage
des Flughafens gehören und in eine Um-
weltverträglichkeitsprüfungeinbezogen
werden müssen. Es hebt die Plangeneh-
migung auf und weist die Sache an das
Verkehrsdepartement zurück.
Der Flughafen hält an seinen Plänen
fest, wie seine Sprecherin Sonja Zöch-
ling sagt. Der Flughafen werde nun eine
neue Umweltverträglichkeitsprüfung in
Auftrag geben.

Urteil 1C_308/2 01 8 vom9. Oktober 2019.
Free download pdf