LEBEN
Fotos: mauritius images/Tetra Images, Mantas Gudzinevicius/HeadShooter,
Getty Images
GO Vilnius
112 FOCUS 45/2019
E
s war ein Akt des Auf-
stands und ein Zeichen
der Zusammengehörig-
keit. Quer durch das
Baltikum reichte die
Menschenkette im Spät-
sommer 1989, von Vilni-
us in Litauen bis nach Tallinn in Estland,
über 600 Kilometer insgesamt. Die mächti-
ge Demonstration war eines der zentralen
Ereignisse der friedlichen Revolution in
Osteuropa, als der Eiserne Vorhang zerriss
und die Sowjetunion in den Untergang
taumelte.
Heute markiert eine in den Boden ein-
gelassene Tafel vor der
Kathedrale St. Stanislaus
im Herzen von Vilnius den
Punkt, an dem die Men-
schenkette damals begann
(oder, je nach Perspektive,
endete). Sie ist wie eine
Mahnung, die Einheit des
Kontinents nicht gering zu
schätzen, 30 Jahre nach
der Wende. Und so ist eine
Reise nach Vilnius, an den
geografischen Mittelpunkt
Europas, der nicht weit
außerhalb der Stadt liegt,
in gewisser Weise auch
eine symbolische Unter-
nehmung im Herbst 2019.
Erster Tag, vormittags
20 Minuten nur sind es
mit dem Taxi vom Flug-
hafen ins Zentrum. Ihr
erster Gang sollte Sie zur
Gedenkplatte vor der Kathedrale führen.
„Stebuklas“, Wunder, steht hier geschrie-
ben, und wo 1989 ein Wunder geschah,
sind weitere gut möglich, meinen die
Litauer: Wer auf der Plakette steht und
sich dreimal um sich selbst dreht, dem
werde ein Wunsch erfüllt.
Auch das Schloss der Großfürsten
Litauens am Kathedralenplatz ist ein
Symbol des Nationalstolzes: Nach der
Wende wurde es aufwendig restauriert,
heute beherbergt es ein Museum zur Lan-
desgeschichte. Vom Burgberg dahinter
hat man den besten Blick auf die Alt-
stadt mit ihren unzähligen Giebeln und
Türmen. Vilnius sei eine Stadt, „in der
die Wolken aussehen wie Barock und
umgekehrt“, schrieb der polnische Lite-
raturnobelpreisträger Czeslaw Milosz. An
einem klaren Herbstvormittag dürften Sie
ihm zustimmen.
Vorbei an der 1578 gegründeten Univer-
sität, einer der ältesten in Mitteleuropa,
führt Ihr Weg bis zum Rathausplatz und
weiter zum „Tor der Morgenröte“, einem
weiteren Unabhängigkeitssymbol. Hier,
vor der Schwarzen Madonna aus dem
- Jahrhundert, betete am 4. September
1993 der polnische Papst Johannes Paul
II. bei seiner umjubelten Baltikum-Reise.
Gehen Sie weiter in Richtung Fluss
durch die Sv.-Dvasios-Straße, die, pitto-
resk bröckelnd, immer wieder als Kulisse
für Kostümfilme herhalten muss. Vilnius
mit seinen Szenerien zwischen Mittelalter
und Sowjetzeit entwickelt sich gerade zu
zeichen der „Republik“. Hier findet
sich immer jemand für ein Thekenge-
spräch über die Schrecken der Gentri-
fizierung im Viertel und die Lust an der
Aufmüpfigkeit. Danach wird es Zeit für
ein (spätes) Mittagessen, vielleicht im
„SturmuųSvyturys“, einem der besten
Fischrestaurants der Stadt. Es liegt ein
paar Hundert Meter die Straße hoch.
Erster Tag, nachmittags
Die Altstadt von Vilnius ist nur 3,5 Qua-
dratkilometer groß, alles lässt sich gut
erwandern. Zur Not stehen aber auch
hier inzwischen Elektroroller zur Verfü-
gung. Für Sie könnte jetzt
ein Kulturspaziergang be-
ginnen: Auf der anderen
Seite der Vilnia liegt die
Literatu gatve, eine enge
Gasse, in der Wandplaket-
ten an Schriftsteller erin-
nern, Günter Grass etwa
ist vertreten. Dann geht es
über die Deutsche Straße
(Vokieciu gatve) in einer
guten Viertelstunde zum
Mo-Museum, einem vom
US-Architekten Daniel
Libeskind entworfenen
ultramodernen Bau mit
einer großartigen Samm-
lung zeitgenössischer li-
tauischer Kunst.
Zum Sonnenuntergang
und falls der Wind güns-
tig steht, können Besucher
einen entschleunigenden
Flug (die Fachleute sagen:
Fahrt) im Heißluftballon über die Altstadt
erleben. Es ist eine Art Volkssport in Litau-
en, an schönen Abenden schweben zig
Ballons über Vilnius.
Erster Tag, abends
Alle Ballon-Novizen werden danach
getauft, mit ein bisschen Haareanko-
keln und ein wenig Schaumwein. Ent-
sprechend angeregt, empfiehlt sich fürs
Abendessen ein Besuch im „Sweet Root“,
in dem klassische litauische Küche auf
sehr spektakuläre Weise neu interpretiert
wird (unbedingt reservieren!). Danach
könnte es für Sie erst gemütlich weiter-
gehen – in einer der sehr gut sortierten
Bars der Stadt, etwa der „Apoteka“ oder
der „Alchemikas“ – und danach schweiß-
treibend: Wie andere postkommunistische
Städte auch, etwa Tiflis in Georgien, hat
sich Vilnius zu einem Club-Hotspot
Modernität Das neue Geschäftsviertel jenseits der Neris. Nach der Wende hat Litauen die
Ansiedlung von Start-up-Unternehmen, vor allem aus der Finanzbranche, vorangetrieben
einem sehr gut gebuchten Drehort, die
HBO-Erfolgsserie „Tschernobyl“ etwa ent-
stand hier.
Auf der anderen Seite des kleinen Flus-
ses Vilnia betreten Sie eine verspielt-fröh-
liche Welt: Hier, in einem zu Sowjetzeiten
verwahrlosten Viertel, wurde nach der
Wende die Freie Republik Uzupis aus-
gerufen, mit eigener Verfassung („Jeder
Mensch hat das Recht, keine Rechte zu
haben“), eigenem Postamt, eigenem
Unabhängigkeitstag (selbstverständlich
der 1. April). Es ist ein großes satirisches
Lebenskunstprojekt, das in Galerien,
Kneipen, bunten Läden zelebriert wird.
Allerdings sind die Immobilienpreise im
Viertel inzwischen mit die höchsten in
Vilnius.
Kehren Sie für ein erstes Bier in die
wunderbare Spelunke „Spunka“ ein,
direkt an der Engelsstatue, dem Wahr-