Fotos: Peter Rigaud/FOCUS-Magazin, Kay Nietfeld/dpa
FOCUS 45/2019 3
EDITORIAL
das politische Deutschland brodelt,
Demokratie live! Linke und AfD gewin-
nen in Thüringen, die Kanzlerin-CDU
zerlegt sich nach der Wahlniederlage
selbst. Die Woche beginnt mit der Idee,
ein Versprechen zu brechen, nämlich
dass die thüringische CDU weder mit
Ramelows Linkspartei noch mit der
Höcke-AfD gemeinsame Sache machen
wolle – und sie endet in einem offenen
Machtkampf im Berliner Konrad-Ade-
nauer-Haus.
Dass ein gewählter Politiker mit einem
gewählten Kollegen spricht, dagegen
habe ich grundsätzlich nichts, denn
Redeverbote passen nicht in eine Demo-
kratie. Wie oft im Leben gibt es Aus-
nahmen, konkret im Fall Thüringen tue
ich mich in dieser Hinsicht schwer, dazu
aber später. Denn wirklich bedeutend
scheint mir in erster Linie etwas anderes:
die aktuelle Zukunftsunfähigkeit von
Politik und Wirtschaft in Deutschland.
Die Bundesrepublik hatte immer das
Glück, dass im entscheidenden Moment
Persönlichkeiten zur Verfügung standen,
die den Erfordernissen der Zeit gerecht
wurden. Konrad Adenauer war zur Stel-
le, als das Land nach dem monströsen
NS-Verbrecherregime ohne Eliten war.
Später kam Willy Brandt, der die Bon-
ner Republik mit neuer Energie auflud
(„Mehr Demokratie wagen“) und an die
weltpolitischen Realitäten heranführte
(Ostpolitik). Als Brandt zum Denkmal
seiner selbst erstarrte, löste Helmut
Schmidt ihn ab, der erste Staats- und
Krisenmanager im Kanzleramt. Auf ihn
folgte Helmut Kohl, der Kanzler der Ein-
heit und des Euro, ein Politiker, der aus
der Tiefe der europäischen Geschichte
schöpfte.
Als seine Amtszeit nach 16 Jahren
überdehnt war, kamen Gerhard Schrö-
der und die Grünen. Mit der Agenda
2010 und dem ersten Kampfeinsatz der
Bundeswehr im Ausland passte er das
wiedervereinte Deutschland ökonomisch
und sicherheitspolitisch an die Erforder-
nisse der globalisierten Welt an. Auf ihn,
den unvollendeten Kanzler, folgte Ange-
la Merkel, die Verwalterin. Bis heute ist
mir unklar – abgesehen von übernom-
menen Positionen anderer Parteien –,
was die Kanzlerin wirklich umtreibt, was
sie antreibt, wofür die Christdemokratin
eigentlich steht. Nach 14 Jahren Kanz-
lerin Merkel und zehn Jahren GroKo
sind erstmals Union und SPD zeitgleich
sowohl inhaltlich wie personell zu Tode
erschöpft. Das Erbe der Merkel-Jahre
ist die AfD – und ein gespaltenes Land.
Nun ist es nicht so, dass die Deutschen
sich nicht für Politik interessieren wür-
den, im Gegenteil, das zeigt die wach-
sende Teilnahme an Wahlen. Die Bürger
interessieren sich nur immer weniger
für die traditionellen Volksparteien. Ob
nun Scholz plus eins oder ein anderes
Duo die SPD führt, ob nun AKK, Merz
oder Laschet Merkel beerben, berührt
die Leute offenbar nicht wirklich. Und
ein Wunderknabe nach österreichischem
Vorbild steht hierzulande nicht zur Ver-
fügung. Auch deshalb laufen die Leute
extremen Kräften nach.
Herzlich Ihr
Ja, wir erleben eine Zeit des Über-
gangs: Noch ist Deutschland der Stabi-
litätsanker in Europa. Gleichzeitig brei-
tet sich das Gefühl aus, dass wir den
Herausforderungen in vielen Bereichen
nicht mehr genügen. Wer hat die Kraft,
diesem ewig an sich selbst zweifelnden
Land den Weg in eine gute Zukunft zu
weisen? Mir fällt es schwer, an Anne-
gret Kramp-Karrenbauer zu glauben,
sie erlebt zurzeit den Andrea-Nahles-Ef-
fekt. Ich denke AKK – Andere Können
Kanzler!
Zu Thüringen wollte ich noch
etwas sagen: Ich war überrascht, dass
CDU-Landeschef Mike Mohring tat-
sächlich in Erwägung zog, mit der
Linkspartei zu kooperieren. So nett
Landesvater Ramelow auch rüberkom-
men mag: In seiner Partei steckt auch 30
Jahre nach dem Mauerfall der Geist des
Gestern (Enteignung), alte Kader zum
Beispiel, die als Lehrer damals Schüler
wie mich (ich bin Ossi) nach Hause zum
Umziehen schickten, weil wir Westjeans
trugen.
Aber schockiert war ich, dass sich
manche in der Thüringer CDU darü-
ber Gedanken machen, wie man doch
noch mit der Höcke-AfD zusammen-
kommen könne. Der menschenverach-
tende Geschichtslehrer Höcke („Wir
Deutschen, also unser Volk, sind das ein-
zige Volk der Welt, das sich ein Denkmal
der Schande in das Herz seiner Haupt-
stadt gepflanzt hat“) ist für mich ein
No-go-Typ.
Irgendwie passt die Titelzeile auf dem
Cover zur aktuellen Politik in Deutsch-
land: Wenn der Körper die Seele krank
macht – ab Seite 70. Mit unseren Par-
teikörpern ist es derzeit zum Verrückt-
werden.
Von Robert Schneider, Chefredakteur
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
AKK – Andere Können Kanzler!?
Es war einmal Volkspartei Die Parteivorsit-
zende Kramp-Karrenbauer und ihr Spitzenkan-
didat Mike Mohring, Berlin, 28. Oktober 2019
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