POLITIK
„IRGENDWANN DACHTE ICH: ,WAS ZUR
HÖLLE MACHE ICH DA?‘“ Christopher Wylie
F o t o s :
MEGA, Facundo Arrizabalaga/EPA-EFE/Shutterstock
40 FOCUS 45/2019
Der Kanadier Christopher Wylie deckte bei Cambridge Analytica den bislang größten Daten-
skandal auf. Nun prangert er in einem Buch die gefährliche Macht von Facebook an
Der Whistleblower aus der Echokammer
C
hristopher Wylie mag klare
Botschaften. Meistens ver-
breitet er sie online, jetzt,
bei der Begegnung in Lon-
don, trägt er sie auf seinem
T-Shirt. Dort steht: „Soziale
Medien haben mein Sozial-
leben ruiniert.“ Es soll ein Scherz sein –
aber auch eine Warnung. Der Kanadier
enthüllte im vergangenen März den bis-
lang größten Datenskandal weltweit. Er
machte die dubiosen Praktiken der bri-
tisch-amerikanischen Datenanalyse-Fir-
ma Cambridge Analytica öffentlich.
Dort hatte Wylie für den Rechtspopu-
listen und Trump-Berater Steve Bannon
Millionen von Facebook-Nutzerdaten
für dessen Polit-Kampagnen beschafft.
Das Datenleck stürzte Facebook in eine
schwere Krise. Und machte Wylie be-
rühmt. Er sei „ein schwuler Veganer, der
Steve Bannons psychologische Kriegs-
waffe baute“ – so leitete Wylie im vorigen
Jahr seine Enthüllungen ein.
Jetzt legt er noch einmal nach. In
einem Konferenzraum nahe der Londo-
ner Oxford Street stellt der 30-Jährige
sein Buch „Mindfuck“ vor. Darin geht
es um seine Rolle als Whistleblower,
die Gefahr von Manipulationen durch
Fake-News-Fabriken und die seiner
Meinung nach ungeminderte Macht von
Facebook und anderen Digitalplattfor-
men. Die zentrale Botschaft: Soziale Netz-
werke müssen viel strenger kontrolliert
werden – bevor es zu spät ist.
Wylies Markenzeichen waren pink
gefärbte Haare und ein Nasenring. Sein
Piercing hat er immer noch, seine Haa-
re sind inzwischen weißblond. Schnell
wird klar, dass Wylie sich in der Rolle des
schrägen Vogels gefällt. Er sieht aus wie
ein Mode-Impresario, klingt aber wie ein
Akademiker, der geschliffen und schlau
doziert. Vor allem gibt er sich als Mann,
der die Schlüssel zu einer geheimen Welt
besitzt, die zwar das Leben von vielen
durchdringt, die aber nur wenige ver-
stehen: die Welt von Big Data, wo Algo-
rithmen und künstliche Intelligenz unsere
Wünsche, Sehnsüchte und Geheimnisse
entschlüsseln.
Weil Christopher Wylie auf die Gefah-
ren aus diesem Kosmos hinweist, ver-
ehren ihn viele als Helden. Andere,
darunter Alexander Nix, der
ehemalige Chef von Cam-
bridge Analytica, halten ihn
für einen Heuchler, Wichtig-
tuer oder gar Verräter.
Der Datenexperte mit Stu-
dium an der elitären London
School of Economics war es,
der das Geschäftsmodell der
Consulting-Firma miterfand.
Er half mit, die Daten von 87
Millionen Facebook-Nutzern
bei einem Wissenschaftler der
Uni Cambridge zu beschaffen.
Die Weitergabe des Materials
war illegal – weil sie gegen
Facebooks Nutzerbedingungen ver-
stieß. Die Facebook-Profile von Millio-
nen US-Amerikanern wertete Cambridge
Analytica für ihre Kunden aus, um die
Nutzer ihrer psychischen Veranlagung
entsprechend gezielt mit Botschaften
bearbeiten zu können.
Weltweit habe man mit dieser Metho-
de erfolgreich in politischen Kampagnen
mitgemischt, prahlte die Firma später –
etwa bei der Wahl Donald Trumps zum
US-Präsidenten und beim Brexit-Referen-
dum in Großbritannien. „Es war ein ext-
rem unethisches Experiment, wir haben
mit der Psychologie eines ganzen Landes
gespielt, ohne dass es eingewilligt hätte
oder sich dessen bewusst war“, räumt der
Daten-Nerd ein.
Handlanger für einen Rechtspopulisten
Bannon habe früh verstanden, wie sich
soziale Netzwerke „als Schlachtfeld
für seinen Kulturkampf“ nutzen ließen.
Dass er ein Erfüllungsgehilfe
des Populisten war, bedau-
ert Wylie. Anfangs, behaup-
tet er, habe er nicht damit
gerechnet, dass seine Daten-
modelle Schaden anrichten.
Später dämmerte ihm, woran
er beteiligt war. „Du wirbst
für radikales Gedankengut
und befeuerst frauenfeindli-
che Ansichten. Das hat mich
gequält, und irgendwann
dachte ich: ,Was zur Hölle
mache ich da?‘“ 2014 stieg er
aus, an der Trump-Kampagne
war er nicht mehr beteiligt.
Anders als seine ehemalige Kollegin
Brittany Kaiser, die bis März 2018 bei
der Analysefirma arbeitete. Sie war Kron-
zeugin in der Netflix-Dokumentation
„Cambridge Analyticas großer Hack“.
Man habe Zielpersonen über Blogs, Web-
sites, Artikel oder Videos so lange „bom-
bardiert“, sagt sie in der Doku, bis sie
„die Welt so sahen, wie wir es wollten“.
Und für den entsprechenden Kandidaten
stimmten.
Wie bedeutend der Einfluss der Daten-
sammler tatsächlich war und wie effektiv
die angebliche „Bombardierung“ – das ist
umstritten und wird sich wohl nie genau
messen lassen. Sicher ist: Wylies Ent-
Milliarden
Menschen nutzen
Facebook monat-
lich, 32 Millionen in
Deutschland. Es ist
das größte soziale
Netzwerk der Welt
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TEXT VON REINHARD KECK