Focus - 02.11.2019

(Barré) #1
KULTUR

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E


s gab Schwarzwälder Kirsch-
torte, reichlich Alkohol und
jede Menge Witze. Das Fest
zu Martin Kippenbergers


  1. Geburtstag im Febru-
    ar 1993 zog sich über drei
    Tage hin. Mehr als 100 Gäs-
    te waren nach Sankt Geor-
    gen in den Schwarzwald gereist, um dem
    Partykönig zu gratulieren. Die Fete war
    eine exzessive Sause. Mancher sprach
    von „Selbstdarstellungswahn“. Man fei-
    erte so wild wie der Künstler in seinen
    jungen Berliner Jahren. Der Wirt musste
    gebrauchte Kondome auf dem WC ent-
    sorgen, zerbrochene Gläser ersetzen und
    das durch Zigarettenkippen demolierte
    Parkett austauschen, doch der Gastge-
    ber war „selig“. Das schreibt Susanne
    Kippenberger, eine der vier Schwestern,
    in ihrer 2007 erschienenen Biografie des
    Künstlers.


Er inszenierte sich früh als Marke
Das beschauliche Schwarzwaldstädt-
chen verdankt dem provokanten Selbst-
darsteller noch immer das beliebte Bistro
„Kippys“. Seine Bilder hängen dort an
der Wand. Nebenan zeigt der Kunstraum
Grässlin Ausstellungen seiner Sammlung,
die über den ganzen Ort verteilt ist. Bei
Familie Grässlin fand Martin Kippenber-
ger regelmäßig Unterschlupf. Das erste
Mal kam er 1980 bis 1981 zur Erholung
und zur Bilderproduktion. Von 1991 bis
1994 fand der alkoholkranke Künstler in
dem Schwarzwald-Idyll eine Wahlheimat.
1997 starb er, schwer gezeichnet vom
Leberkrebs, mit gerade mal 44.
Geburtstage lieferten dem manischen
Künstler immer wieder Anlässe und

Auf Kritik reagierte er mit einem Witz und schuf die


Skulptur „Martin, ab in die Ecke und schäm dich“


Material für seine Selbstdarsteller-Kunst.
Bereits zu seinem 21. Geburtstag entwarf
Kippenberger 21-Pfennig-Briefmarken
mit Porträts seiner selbst, zum 25. brachte
er im Selbstverlag das Buch „Vom Ein-
druck zum Ausdruck – Ein Vierteljahr-
hundert Kippenberger“ heraus und
plakatierte Wände in Berlin mit eige-
nen Konterfeis. Eine stattliche Erb-
schaft gab dem Studienabbrecher
zunächst diese Freiheiten, doch das
Erbe war schnell auf-
gebraucht, der Künstler
musste produzieren.
Früh inszenierte sich
Kippy, wie er sich auch
nannte, als Marke.
Doch die ganz großen
Erfolge stellten sich
erst nach seinem Tod
ein. Mit seiner direkten, bisweilen auch
unflätigen Art spaltete er die Szene.
Der schwer fassbare, unberechen-
bare Solist brauchte das Kollektiv,
die Aufmerksamkeit anderer. Daher
scharte er stets Familie, Freunde,
Künstler und Galeristen um sich.
Er tauschte und verschenkte Bilder.
Der Maler Martin Kippenberger
muss nicht wiederentdeckt werden.
Die Ausstellung „Bitteschön. Dan-
keschön“, die ab dieser Woche in der
Bundeskunsthalle in Bonn zu sehen

ist, zeigt daher auch, wie weit er als Mul-
timedia-Künstler seiner Zeit voraus war.
Anstelle von Posts in Social Media ver-
breitete er seine Botschaften auf Aufkle-
bern, Flyern und Plakaten. Seine Bilder
überklebte er mit Stickern, die das
bekannte Herzsymbol „I love New
York“ des Grafikdesigners Milton
Glaser tragen, kombiniert mit unsin-
nigen Worten wie „50 %“, „Ruins“
oder „No Waiting“ – aus heutiger
Sicht eine Vorstufe der Emojis.
Als Kippenberger 1978 nach Berlin
zog, hatte er einen Roman mit dem
Titel „Durch Pubertät zum Erfolg“
begonnen und in Brasilien eine
Tankstelle gekauft, die er „Tank-
stelle Martin Bormann“ taufte.
Das war seine Art der Aufarbei-
tung der NS-Vergangenheit: mit
lakonischem Humor und Witz, so
ganz anders als die ernsten Mythen-
maler Anselm Kiefer und Georg Base-
litz. Er war einer der ersten Künstler, die
sich trauten. Nicht Moral, nicht Religion,
sondern Humor sollte die Welt verändern.
Eine seiner konstruktivistischen Arbei-
ten nannte er frech „Ich kann beim bes-
ten Willen kein Hakenkreuz erkennen“.
Später gab er bei einem Herrgottschnitzer
gekreuzigte Frösche in Auftrag – eines
seiner skandalträchtigsten Werke. Auf
die Kritik reagierte er prompt: Spon-

Kombinierte
Kunst
„Vom Einfachsten
nach Hause“
(1981/82) verbindet
Einzelbilder wie
„Liebes Schwein“
(l. o.), „Alkoholfol-
ter“(Doppelporträt
in Rot) und
„Aschenbecher für
Alleinstehende“
(l. u.)

Schiefer Blick
In „Laterne an
Betrunkene“ macht
sich der exzessive
Trinker 1988 über
seine eigene Alkohol-
sucht lustig
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