KULTUR
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W
as ist Glaube? Und
was macht er mit den
Menschen in die-
ser Welt? Diese und
andere Fragen unter-
sucht die Schriftstel-
lerin Stefanie de Velasco in ihrem zweiten
Roman „Kein Teil der Welt“. Sechs Jahre
lang hat die 41-Jährige an diesem wich-
tigen Buch gearbeitet. Es dauerte auch
deswegen, weil sie sich an die eigene
Geschichte erinnern musste.
De Velasco verbrachte ihre Kindheit im
Rheinland als Angehörige der Zeugen
Jehovas. Ihr Buch handelt von der Freund-
schaft zweier Mädchen, ihrem Aufwach-
sen mit Eltern, die entschieden haben,
dass die Töchter nach den strengen Regeln
der Glaubensgemeinschaft leben müssen.
Dabei ist der Roman keine Abrechnung,
sondern ein Werk, das ganz generell zum
Nachdenken über Ideologie anregt, weil
er düster, aber auch voller Liebe ist.
Ihre Protagonistinnen Esther und Sulamith
dürfen ihren Geburtstag nicht feiern,
sie müssen von Tür zu Tür ziehen und mit
fremden Menschen über Jehova sprechen
und sollen im Biologie-Unterricht vor
der ganzen Klasse die Evolutionstheorie
infrage stellen. Sie selbst kennen all
das, Sie haben die christliche Glaubens-
gemeinschaft als Jugendliche verlassen.
Ja, ich bin bei den Zeugen Jehovas
groß geworden, aber dieses Buch ist
nicht meine Geschichte, denn der gan-
ze Komplex ist zu interessant, um mich
an meiner Kindheit abzuarbeiten. Mich
hat zum Beispiel auch die Verfolgung der
Zeugen Jehovas im Dritten Reich und der
DDR interessiert. Deren ziviler Ungehor-
sam während des Zweiten Weltkriegs hat
mich als Kind beeindruckt. Ob er sich
im Namen einer Religion lohnt, muss
jeder selbst entscheiden, aber die Vor-
stellung vom Jenseits hat das Handeln
der Zeugen Jehovas damals beeinflusst.
Das finde ich interessant.
Welche Vorstellung hat die Gemein-
schaft, der in Deutschland heute knapp
170 000 Menschen angehören?
Sie glauben, dass jeder, der nie von
der Lehre der Wahrheit erfahren hat
oder sich gegen sie entscheidet, bei der
großen Schlacht von Harmagedon, die
eines Tages kommen wird, umkommt.
Gläubige aber haben die Auferstehungs-
hoffnung. Während des Nationalsozialis-
mus sind deswegen einige freiwillig in
den Tod gegangen, das ist ähnlich wie
Die Gnade einer grausamen Jugend: In ihrem neuen Roman
„Kein Teil der Welt“ verarbeitet Stefanie de Velasco
ihre Zeit bei den Zeugen Jehovas auf ganz fantastische Weise
„Ein krasses Universum,
eine Massenpsychose“
Zwischen „Tigermilch“
und Harmagedon
Stefanie de Velasco, 41,
im Sommer dieses Jahres