Focus - 02.11.2019

(Barré) #1
L I T ERATU R

Foto: Peter Rigaud/laif, imago images


FOCUS 45/2019 97

bei islamistischen Selbstmordattentätern.
Auch ich bin damit aufgewachsen, keine
Angst vor dem Sterben zu haben, weil
danach die Ewigkeit wartet. Aber diese
Negierung des Todes hat mich später
sehr erschreckt.
Ist die Hoffnung auf die Ewigkeit größer als
die Angst vor der Abrechnung Jehovas?
Es hat sich so die Waage gehalten. Man
wusste nicht, ob man überlebt, denn man
weiß ja, was man alles auf dem Kerb-
holz hat.
Ihre Protagonistinnen fragen sich
allerdings auch, was man mit der Ewig-
keit überhaupt anfangen kann.
Die beiden können sich zwar die Zeit
nach Harmagedon vorstellen, wie sie
alles aufräumen und hübsch machen,
aber von der Ewigkeit wird ihnen schwin-
delig. Der Kopf ist nicht für den Terror der
Ewigkeit gemacht. Es ist ein bisschen
so wie beim Gegenteil, wir können uns
nicht vorstellen, dass die Welt durch den
Klimawandel endet. Nur ist der wissen-
schaftlich belegt.
Die Gemeinschaft ist eingeschworen, trifft
sich in ihren sogenannten Königreichssälen
und zum Bibelstudium. Haben Sie heute
noch die vielen Königreichslieder im Kopf?
Ja, natürlich. Die bleiben. Es ist wie
eine Muttersprache, die du nicht ver-
lierst. Ich hatte nach meinem Ausstieg
lange damit zu kämpfen, es fällt einem
ja erst hinterher auf, wie schrecklich das
alles war. Trotzdem war es auch anstren-
gend, mich zu erinnern.
Haben Sie Sorge, dass das Buch
Mitleid mit Ihnen auslöst?
Nein, eigentlich nicht. Ich habe nach
25 Jahren viel Abstand. Ich wollte keine
Abrechnung schreiben, sondern dieses
krasse Universum beschreiben. Das ist
ja wie eine institutionalisierte Massen-
psychose, die glauben an Dinge, für die
andere in die Psychiatrie kommen. Ich
wollte mittels dieser engen Welt erzäh-
len, was es bedeutet, an bestimmte Ideo-
logien zu glauben und welche Konse-
quenzen das im echten Leben hat.
Aber es ist auch eine Geschichte von
Missbrauch, mit der Sie Ihre eigene
Opferrolle öffentlich machen.
Ja, der Glaube der Zeugen Jehovas ist
auf vielen Ebenen ein Missbrauch. Kin-
der müssen in Freiheit und Geborgenheit
groß werden, der Kopf ist nicht gemacht
für solche Weltuntergangsszenarien, das
ist traumatisch. Ein Vergleich: So großar-
tig es ist, dass die Kinder mit „Fridays for
Future“ auf die Straße gehen, so schreck-

lich ist es doch auch, dass sie das tun
müssen, weil es ihnen Angst macht.
Sie schreiben von dem „Jehova-
Muskel“, der alle Anhänger so selig debil
grinsen lässt, aber auch, wie sich
die Erzählerin Esther fühlt: als habe man
schwarze Farbe auf sie gekippt.
Es ist ein Wechselbad der Gefühle. Der
Zweifel ist ein permanenter Begleiter für
Gläubige, aber wer in dieses System hi-
neingeboren wird, für den ist dieser Kon-
flikt noch viel größer, denn er fühlt sich in
der Gruppe geborgen. Doch irgendwann
merkt man, hier stimmt was nicht. Und
entweder geht man den Schritt hinaus
und zahlt dafür den Preis, verstoßen zu
sein, oder man ist immer gefangen. Wobei
auch viele Menschen froh
sind, in diesem System zu
leben. Ein bisschen so wie
in der DDR: „Es war nicht
alles schlecht.“
Diesen Vergleich machen
Sie auch im Buch.
Der Sozialismus ist ja
im Grunde genommen
auch eine Vorform des
kommenden Paradieses,
also des Kommunismus.
Die Familie Ihrer Prota-
gonistin geht nach dem
Mauerfall in den Osten, um zu missionieren.
Ja, damals wurde der Ostblock sozu-
sagen erobert.
Und Esther muss mitmachen, denn sie
bekommt nur Liebe von ihren Eltern,
wenn sie eine gute Gläubige ist. Das
fesselt sie auch an die Gemeinschaft.
Es ist eine seltsame Stabilität, die dir
da gegeben wird. Sie führt dazu, dass du
Gefangene bist. Wenn die ganze Familie
gläubig ist, kommt man kaum heraus.
Auf der anderen Seite gibt es weniger
Konflikte, wenn etwa nur ein Elternteil
in der Gemeinschaft lebt. Man schafft
es nur raus, wenn man das Gefühl hat,
fremd zu sein in der eigenen Kultur.
Oder wenn man eine Substitu-
tionsdroge findet, die ja die Liebe
sein kann, wie bei Sulamith.
Genau. Das ist ein Katalysator, aber
die Frage ist: Bringt einen die Liebe zum
Ausstieg, oder verliebt man sich, damit
man einen Ausstieg findet? Das ist ja
auch bei kaputten Beziehungen so. Für
meine Protagonistin ist es wichtig, erst
mal zu erleben, dass man da draußen
überleben und sogar glücklich sein kann.
Die Brüder propagieren nämlich, dass die
Welt kaputt ist, nur wer in der Wahrheit

lebt, kann Heil finden. Diese Abspaltung
der Gemeinschaft innerhalb unserer
Gesellschaft ist schwer vorstellbar.
Das ist irre, ja. Interessanterweise
passiert diese Abgrenzung durch Spra-
che. Bestes Beispiel dafür ist die AfD,
die gezielt mit Begriffen hantiert, um
ein System zu schaffen. Diese Sprache
wird reproduziert. Das haben die Zeugen
Jehovas auf die Spitze getrieben: Trak-
tate, Dienstzettel, das System der Dinge,
Weltmenschen. Und die Brüder sehen
sich genauso wie die Rechtspopulisten
im Recht des Besseren, in Abgrenzung
zu den anderen als die Rebellen. Das
macht sie gefährlich.
Sind die Zeugen Jehovas eigentlich politisch?
Sie sind so politisch,
dass sie glauben, die welt-
lichen politischen Syste-
me können die Probleme
nicht lösen, sondern nur
eine Theokratie.
Gefährlich ist auch, dass die
Anhänger keine Bluttrans-
fusionen annehmen dürfen.
Dafür tragen sie immer
einen Ausweis bei sich.
Das ist lebensgefähr-
lich. Und du gehst anders
durch die Welt, wenn du
diesen Blutausweis um den Hals trägst.
Du hast Angst. Gleichzeitig denkst du,
du stirbst und wachst gleich im Para-
dies auf.
„Religion und Interpunktion sind Privat-
sache“ – stimmen Sie diesem Zitat zu?
Es wäre schön, wenn sie Privatsache
wäre. Aber dazu gehörte dann ja schon,
seine Kinder rauszuhalten. Ich glaube
aber auch, dass Menschen ihre Religion
leben dürfen sollen. Ich habe keine ent-
schiedene Meinung dazu.
In Deutschland genießt die Gemeinschaft
seit 2017 Körperschaftsstatus, das
heißt, sie unterliegt der Religionsfreiheit.
Manchmal denke ich, das gehört alles
verboten; auf der anderen Seite sehe ich
ein, dass es unvernünftig wäre, weil die
Menschen ein Bedürfnis haben, über
sich selbst hinaus an etwas zu glauben.
Problematisch wird es, wenn man Min-
derjährige mit reinzieht oder anderen
schadet. Was ich für gefährlich halte,
ist die fundamentalistische Auslegung
des Glaubens so wie in dieser Gemein-
schaft. Die Regeln sind starr, da wird
nichts vorgeschlagen.n

INTERVIEW: LAURA EWERT

Heilsversprechen Die Zeugen
Jehovas werben auf der Straße
Free download pdf