Neue Zürcher Zeitung - 14.11.2019

(Marcin) #1

12 MEINUNG & DEBATTE Donnerstag, 14. November 2019


ELENA ANOSOVA / MAPS

FOTO-TABLEAU

Leben am Rand


der Gegenwart 4/


Dadenkt man schon fast an eine Madonna mit Kind.
Der ruhige Blick, mit dem dasBaby den Betrachter
insAuge fasst, die kleine Hand, die mahnt oder
vielleicht denWeg zum Himmel weist – einem
Renaissancekünstler hätte das Herzgelacht, und er
hätte auch dieKomposition derFarben undTexturen
in Elena AnosovasAufnahme gewürdigt. Zwar ist es
kein Knabe, sondern ein kleines Mädchen, das die
russischeFotografin in dieser bezauberndenPose
eingefangen hat, und dieAufnahme entstand nicht im
sonnigen Galiläa, sondern in Sibirien. Aber dieWelt,
in die das Kind geboren wurde, liegt einstweilen noch
fern vom 21.Jahrhundert, wie wir es erleben.«Die
Bewohner meines kleinen Dorfes denken viel
weniger überPolitik, Krieg undWirtschaft nach»,
berichtet Anosova. «Sie hoffen, dass dasWetter gut
wird und dass der Helikopterrechtzeitig ankommt –
aber überall träumen die Menschen von Gesundheit.»
Die ist in einem kleinen Dorf in derTaigakein
selbstverständliches Gut; imWinter liegt die
Durchschnittstemperatur bei 45 Grad unter null, und
Strom vom Generator gibt es nur in den Morgen- und
Abendstunden. Anosova fürchtet aber auch um die
Zukunft des Dorfes, das ihreVorfahren im18.Jahr-
hundert gegründet haben. Schon jetzt ziehen mehr
und mehr junge Leute weg, und wenn die Ölindustrie
in dieRegion vordringt, sind die Lebensgrundlagen
derJäger undFischer akut gefährdet.

Weissrussland und dierussische Umklammerung


Fenster auf nach Westen

Gastkommentar
von FÉLIX KRAWATZEK

Der NachtzugWarschau–Moskau führt durch
dieWälder undÄcker des heutigenWeissruss-
land.Kurz nach der polnischen Grenze wer-
den die Eisenbahnwaggons wegen der grösse-
ren Spurweite in denLändern der ehemaligen
Sowjetunion von Schiene zu Schiene umgesetzt.
Als Grenzregion nimmtWeissrussland historisch
eine Mittlerfunktion zwischenOst undWest, zwi-
schendem katholisch-protestantischen und dem
orthodoxen Europa ein. Diese einstige Brücken-
funktionspringteinem heutzutage nicht mehr ins
Auge. Denn mit eiserner Hand beherrscht Alek-
sandr Lukaschenko dasLand seit1994. Gerne als
letzter Diktator Europas bezeichnet, hat erWeiss-
russland miteiner Mischung aus Sowjetnostalgie,
wirtschaftlicher und politischerRussland-Orien-
tierung undVerfolgung oppositioneller Kräfte
durch die Zeiten gesteuert.
Es gibt jedoch Anzeichen dafür,dass im sta-
bil wirkenden autokratischenFundament Risse
entstehen. Die Annexion der Krim durchRuss-
land imJahr 20 14 führte zu Sorgen, was eine
einseitige Abhängigkeit vonRussland zukünf-
tig für dasLand bedeutenkönnte.Als Antwort
darauf inszenierte diepolitische Elite Bekennt-
nisse zu einer genuin weissrussischen Geschichte
undKultur und distanzierte sich nichtzuletztvon
der Bezeichnung«Weissrussland». Zum Schutz
vor einer expansivenAussenpolitikRusslands
begann dieRegierung, sprachlich-geschichtliche
Besonderheiten desLandes in denVordergrund
zu rücken, und entdeckte eigenständige mittel-
alterlicheTr aditionen. Lukaschenko fing an, in
der ÖffentlichkeitWeissrussisch zu sprechen, und
ermutigteSchriftsteller, sich derLandessprache
zu bedienen.
In wenigenTagen stehenParlamentswahlen an,
nächstesJahr folgen Präsidentschaftswahlen.Vo n
denWahlen selbst istkeine unmittelbare politi-
scheVeränderung zu erwarten, aber der Urnen-
gang findet in einer Phase internationaler politi-
scherVerschiebungen und innenpolitischer Neu-
ausrichtungen statt.
Von aussen betrachtet wirken autokratisch ge-
führteSysteme mitunter so, als hätten diePolitiker
unmittelbareKontrolle überdieEinstellung ihrer
Bürger. Jedoch zeigt dasThema der Sprachpoli-
tik, dass die Bemühungen derRegierung in die-
sem Bereich an denWünschenjunger Menschen
vorbeizielen.Ineiner Umfrage des BerlinerZen-
trums für Osteuropa- und internationale Studien
(ZOiS) unter jungen Menschen inWeissrussland
gab gerade einmal ein Drittel der Befragten an,
dasssiemehrWeissrussisch sprechen möchten. 90
Prozent des öffentlichen und privatenAustauschs
finden nach wie vor aufRussisch statt. Die Be-

mühungen derRegierung, die Gesellschaft aus der
engen Umklammerung mitRussland zu lösen und
sprachlich-kulturelle Besonderheiten zu unter-
streichen, finden bei denJüngeren also bis jetzt
kein direktes Echo.
Gleichzeitig zeigen die internationalenVerbin-
dungen der weissrussischenJugend durch fami-
liäreKontakte insAusland und durchReisen
deutlich, dass dasLand sich in einer ambivalenten
Neuorientierung zwischen Ost undWest befindet
undkeine einzelne Sicht auf die weitere Entwick-
lung desLandes gesellschaftlich dominiert. Die
aussenpolitische Orientierung junger Menschen
unterstreicht diesen Aspekt.Einknappes Drit-
tel wünscht sich gemäss der Umfrage engereVer-
bindungen mitRussland,ein weiteres Drittel sol-
che mit EU-Ländern.Das Stimmungsbild imLand
zeigt, dass die momentanen politischen Spannun-
gen zwischenRussland undWeissrussland sowie
die vorsichtige Annäherung an die EU zur öffent-
lichen Meinung passen.
Ende Oktober sprach Lukaschenko davon,
dass er wie einst ZarPeter der Grosse interna-
tionale «Fenster» für dasLand öffnen wolle, und
verwiesauf anstehendeReisennach Österreich
und Lettland. Die EU hat ihrerseits einige der
Sanktionen gegendasLand aufgehoben. Euro-
päischeVerbindungen mitWeissrussland wer-
den dichter, auf den wiederkehrenden russi-
schenWunsch nach tiefererKooperationreagie-
ren weissrussischePolitiker momentan zurück-
haltend.Auf dieFrage, ob Lukaschenko engere
Beziehungen zur EU suchen sollte, auch wenn
dies dasVerhältnis zuRussland beeinträchtigt,
sprechen sich knapp 40 Prozent dafür aus. Die
Mehrheit dagegen ist unentschieden oder lehnt
einen solchen Schritt ab. ImVergleich dazu strebt
knapp einViertel der jungen Menschen eineVer-
einigung vonRusslandundWeissrussland an, wie
es der Unionsvertrag von1999 als Ziel vorsieht,
60 Prozent sind dagegen.
Vor den anstehendenWahlen zeigt dieser
Blick in die Gesellschaft, dass junge Menschen
inWeissrussland an einer weiteren internationa-
len Öffnung desLandes Interesse haben.Durch
eigeneReiseerfahrungen undFreunde imAusland
sind sie vielseitig mit derAussenwelt verbunden.
Gleichzeitig sind sie sich der Sachzwänge, die eine
enge Beziehung zuRussland auch in der Zukunft
notwendig machen, bewusst.Wohin sichPolitik
und Gesellschaft also entwickeln, bleibt fürs Erste
ergebnisoffen. DiekommendenWahlen wie auch
dieReisen undReden des Präsidenten werden
zeigen, auf welchen Standard dasLand zukünftig
seine Spurenweite einstellen wird.

Der PolitologeFélixKrawatzekist Senior Resear cher
beim Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien
(ZOiS) Berl in.

Klima- und Umweltschutz


Die Frage nach den

«Tätern» ist unabdingbar

Gastkommentar
von PETERSTRASSER


Nach Meinung des geschätztenKollegenKurt
Seelmann,Rechtsphilosoph und Strafrechtler
(NZZ 2. 11.19), sind wir im Klima- und Umwelt-
schutz nach wie vor zu sehr aufFehlhandlungen
in derVergangenheitkonzentriert, und zwar nach
dem Muster:Wer ist der Täter? Stattdessen soll-
ten wir in die Zukunft blicken.Wirsolltennach
zukünftigen UmweltsündenAusschau halten und
diese notfalls mit Sanktionen belegen, statt nach
Verantwortlichen des laufenden Desasters zu su-
chen.
AlsRealistreibt man sich dieAugen. SeitJa hr-
zehnten sind die Ursachen der globalen Umwelt-
schäden bestens bekannt: von der Luftverschmut-
zung, derVerschmutzung des Meeres durch Plas-
tik und Schweröl bis zurAusdünnung der Ozon-
schicht und zur weltweiten Klimaerwärmung; vom
Raubbau an Naturschätzen, von der Zerstörung
sämtlicher Gletscher,Eisregionen, der Lebens-
gebiete vielerTiere bis hin zum Abholzen riesiger
Waldgebiete,zur Überdüngung und zumagrari-
schen Monoton-Anbau. All das ist bekannt.Aber
dieFrage, wer dafür verantwortlich sei, wärekon-
traproduktiv?
Sogenannte gefährliche Betriebe, ob staatlich
oder privat – von der Gondelbahn-GmbH über
das Chemiewerk bis zum AKW –, haften für den
Schaden, den sie verursachen, unabhängig davon,
ob einVerschulden des Betreibers vorliegt. Der
negative «Erfolg» ist ausschlaggebend. Deshalb
der Begriff «Erfolgshaftung». Und just beim drän-
gendsten Problem der Menschheit – sieht man
einmalvon der laufendenAufrüstung ab,die dem
drittenWeltkrieg zuarbeitet– sollte nicht mehr zu-
rückgeblickt, sollten die primären Schadensver-
ursacher nicht mehr zurVerantwortung gezogen
werden?
Man muss als sozialpsychologisch geschulter
Jurist ein Prinzip klar vorAugen haben: Men-
schen werden im Allgemeinen nur dann be-
reit sein, einRegelsystem in Sachen Umwelt-
verhalten zu akzeptieren, wenn nicht akkurat
jene verschont werden, die durch ihre Aktivi-
täten das Gemeinwohl am meisten schädig-
ten. Beginnt der Gesetzgeber den sogenannten
kleinen Mann, der eine Umweltsünde begeht



  • beispielsweise seinen Hausmüll nicht ord-
    nungsgemäss entsorgt –, empfindlich zu strafen,
    dann mag dies wohl eine Investition in eine ge-
    sündere Zukunft sein. Zugleich wird sich der
    Widerwille in einem politisch explosiven Satz
    zusammenballen: Das ist ungerecht!


Wenn es also nicht gelingt, den börsennotierten
Umweltsündern, deren Gleichgültigkeit in Sachen
Umwelt- und Klimaschutz den Aktionären Divi-
denden beschert,Rechenschaft abzutrotzen, dann
bleiben alleForderungen an den einzelnenKonsu-
menten – «mit Blick auf die Zukunft» –regelrecht
zynisch. Es muss eine klugeBalance zwischen den
Pflichten,die alle betreffen,und den langfristigen
Kompensationsleistungen aus dem langfristig um-
weltschädlichenVerhalten ganzerWirtschafts-
sektoren geben. Sonst wird die Zukunft vielleicht
schon deshalb nicht mehr stattfinden, weil vorher
Bürgerkrieg undAusnahmezustand der zuneh-
menden Unwirtlichkeit der Zivilisation, wie wir
sie heutekennen, ein Ende bereiten werden.
Wer ist verantwortlich für dieDürren, dieWir-
belstürme, die Überflutungen; fürdie Luft, diekei-
ner mehr atmen kann?Wer ist letztverantwortlich
für Schäden, die teilweiseTausende vonJahren
anhalten werden? Man wird sich um des sozialen
Friedens willen fragen müssen, wer in welchem
Mass den Niedergang förderte, ja beschleunigte
und dadurch womöglich auch zu den Gewinnern
des Umweltdesasters gehörte. Diese Gruppen –
und das ist hoffentlichkeine bloss weltfremde,
weil weltweiteForderung – müssten bereit sein,
ihre Haftung für die Schädigung von Lebens-
räumen anzuerkennen und zumindest symbolisch
abzugelten. DieFrage nacheinemgerechtenSys-
tem vonUmweltsteuern wird sich, vorausblickend,
ohnehin stellen.
Andernfallsrepräsentierten alle persönlichen
Pflichten zum Klima- und Umweltschutz, die den
Bürgerinnen und Bürgern auferlegt werden, zwar
zukunftsorientierte Instrumente.Es würde da-
bei aber ignoriert, dass es «Global Player» gibt,
die ihreEigeninteressen seit langem profitabel in
Szene setzten und dabei denKonsumenten glau-
ben machten, ihr Handeln diene einzig demFort-
schritt der Lebensqualität. Solange dieser Zusam-
menhang vernachlässigt wird, liefert die «Klasse
derReichen und Mächtigen» sozialrevolutionären
Sprengstoff–auch wenndie Zusammenhänge im
Einzelnenkomplex sein mögen.
Ein schlichtes Absehen von derFrage«Wer
ist der Täter?» wäre daher fatal. «Jedermanns-
pflichten» zum besseren Schutz unserer Lebens-
räume sind zwar jederzeit zurechtfertigen. Doch
nur unter der Bedingung eines Mindestmasses an
sozialer Gerechtigkeit.

Peter Strasserist Universit ätsprofesso r i. R. Er lehrt an
der Karl-Franzens-Universität Graz Philosophie. Letzte
Buchpublikation: «D ie ganze Wahrheit. Aufkläru ng über
ein Paradoxon». Schwabe-Verla g, Basel 2019.
Free download pdf