Neue Zürcher Zeitung - 14.11.2019

(Marcin) #1

Donnerstag, 14. November 2019 MEINUNG &DEBATTE


Sturz von Evo Morales


Ein wirklicher Militärputsch sieht anders aus

War derRücktritt von Evo Morales inWirklichkeit
ein Putsch? Der bolivianische Präsident dankte am
Sonntag ab, nachdem ihm der Armeechef General
William Kaliman denRücktritt nahegelegt hatte.
Kurz zuvorhatten dieWahlbeobachter der Orga-
nisationAmerikanischer Staaten ihren Bericht ver-
öffentlicht,der von massiverWahlfälschung spricht
und dieAuflösung derWahlbehörde sowie die
Annullierung derWahl verlangte.
Morales und seine Anhänger sowie die latein-
amerikanische Linkereagiertenrasch und bezeich-
neten denRücktritt wegen derRolle des Generals
als Militärputsch.Angesichts der langenReihe
von Coups inLateinamerika ist es verständlich,
dass eine solche Einmischung des Militärs sofort
die Warnlampen aufleuchten lässt. Man sollte hier
auch genau hinschauen und gegebenenfallsKon-
sequenzen verlangen. Doch es fällt auf, dass das
Putsch-Argument fast ausschliesslich von der Lin-
ken kommt,und dass gerade von dieser Seite kaum
ein Wort der Kritik zu hören ist über denWahl-


betrug von Evo Morales.Der Böse ist General Ka-
liman und nicht der ins Exil geflohene Präsident.
Ist derVerdacht falsch,dass es dieser Seite eher um
di eWiederherstellung der Macht von Morales als
um dieRückkehr zur Demokratie in Bolivien geht?
Und dass dasWort «Putsch» vor allem der politi-
schen Propaganda dient?
Ob man die Ereignisse vom letzten Sonntag als
einen Putsch einschätzen soll, hängt natürlichda-
von ab, wie man den Begriff definiert. Und dies ist
nicht eindeutig. Wassich aber auf jedenFall fest-
stellen lässt, ist imkonkretenFall dasFehlen zen-
traler Elemente eines klassischen lateinamerika-
nischen Militärputschs. Das Militär hat die Macht
nicht übernommen, im Gegenteil, es hat sich sogar
geziert,gegen die Gewalt auf der Strasse einzugrei-
fen. DieArmee hat auchkeine ihr genehme Über-
gangsregierung eingesetzt, obwohl dies angesichts
des offensichtlichen Machtvakuums leicht zu be-
gründen gewesen wäre.
Der Oberbefehlshaber der Armee hat Morales
zwar denRücktritt nahegelegt, aber ohne die
öffentlich sichtbaren Drohgesten, die Putschver-
suche normalerweise begleiten. Insbesondere gab
es keine Mobilisierung der Streitkräfte. Die eigent-
liche Gefahr für Morales kam am Sonntag vielmehr
von denrandalierenden Gegnern und Kriminellen,
die sogar in sein Haus eindrangen. DiesePersonen

standen weder unter derKontrolle der Armee,
noch handelten sie mit deren Einverständnis.
In Europa wirkt es stossend, wennsich ein
Armeechef beimFall einerRegierung einmischt.
Im politisch weniger stabilenLateinamerika ist es
aufgrund der historischen Erfahrungen aber nicht
unüblich, der Armee eineRolle als letzteVerteidi-
gerin derVerfassung zu geben,wenn die zivile Ord-
nung zusammenbricht.Dies ist auchin der unter
Morales geschriebenen neuenVerfassung Boliviens
der Fall. Sie listet alsFunktionen der Armee expli-
zit auf: die «Herrschaft derVerfassung sicherstel-
len» und «die Stabilität der gesetzeskonformkon-
stituiertenRegierung garantieren» (Artikel 245).
Nach demVerdikt über massiveWahlfälschung
durch die stärkste politische Kraft desLandes und
während bürgerkriegsähnlicher Zustände hat der
Armeechef,gestützt aufdieseBestimmung,Morales
den Rücktritt nahegelegt.Das Urteil, ob er damit
die Grenzen seines verfassungsmässigen Mandats
überschritten hat oder nicht, bleibt denVerfas-
sungsjuristen überlassen.Bei den meisten früheren
Putschen in derRegion haben die Militärs ihr Man-
dat missbraucht, um ihnen missliebigeRegierungen
abzusetzen. Im aktuellenFall hingegen muss man
demArmeechef zumindest zugutehalten,dass er im
Sinne derWiederherstellung der Demokratie und
des inneren Friedens gehandelt hat.

Im politisch weniger stabilen


Lateinamerika ist es nicht


unüblich, der Armee eine


Rolle als letzteVe rteidigerin


derVe rfassung zu geben,


wenn die zivile Ordnung


zusammenbricht.


«Gigafabrik»von Tesla in Deutschland


Elon Musk lässt den Wirtschaftsminister alt aussehen

Niemand hatte damit gerechnet, dass derTesla-
Gründer Elon Musk für die Überreichung des Gol-
denen Lenkrades, also nicht gerade eines Nobel-
preises, extra nach Berlinkommen würde. Umso
grösser dieVerblüffung, als er der Preisverleihung
nicht nur beiwohnte, sondern auch noch eines der
grössten Investitionsprojekte vonTesla ankündigte:
Südöstlich von Berlin solleine «Gigafabrik» entste-
hen. Es geht dabei um denBau vonBatteriezellen
für Elektroautos, aber auch umdie Montage eines
Elektro-SUV. Im hippen Berlin ist zudem ein De-
sign-Standort geplant.
Was kann dieser Elon Musk ausgerechnet am
Standort Berlin finden? Die Hauptstadt mit ihrem
Mietendeckel und ihrer ineffizienten Bürokratie
ist nicht gerade eine standortpolitischePerle. Das
Werk wird allerdings auf Brandenburger Boden
ents tehen, wo der pragmatische Sozialdemokrat
DietmarWoidke sein Bundesland ansprechend
regiert. UndWoidke dürfteTesla auch mit Bei-


hilfen geködert haben, die aber bei jeder grösse-
ren Industrieansiedlung in Ostdeutschland mit im
Spiel sind.
Die Ankündigung stehtin grellemKontrast zu
den Initiativen der deutschenRegierung.Vor kur-
zem fand erneut einAutogipfel statt,bei dem die
Regierung zusätzliche Subventionen beim Kauf
von E-Autos und beimAufbau vonLadesäulen
versprach.Und vor gut zweiJahren hatte der deut-
scheWirtschaftsministerPeter Altmaier zusam-
men mitFrankreich 1,7 Milliarden Euro ausgelobt,
wenn Firmen sich zuKonsortien für dieBatterie-
produktion zusammenschliessen.Dabei muss eine
ausgewogeneVerteilung auf verschiedeneLän-
der stattfinden, damit auch die EU-Kommission
ihr Plazet gibt.Das tönt furchtbarkompliziert und
bürokratisch.
Nun kommt ein Unternehmer vom Schlag eines
Elon Musk und lässt diese Projekte –Pardon! –
typisch europäisch aussehen. Gewiss, ob sich die
Elektromobilität durchsetzt, ist nicht ausgemacht,
man denke nur an die ungelöstenFragen imBat-
terie-Recycling oder die bisherige Zurückhal-
tung derKunden. Zudem hatTesla auch in China
enorme Investitionen zu stemmen, so dass man nie
genau weiss, ob MusksVisionen nicht grösser sind
als seine finanziellen Möglichkeiten. Und dass sich

Tesla ausgerechnet in demjenigen europäischen
Land niederlassen will, das bei den Stromkosten
zu den teuersten gehört,erstaunt dann doch.Ver-
fügbare Flächen, Automobil-Cluster und qualifi-
zierte Mitarbeiter machen das offenbar wett.Auch
wenn somit nicht alles «giga» ist, beeindruckt, dass
da einer auf eigenes Risiko eineFabrik fürBatterie-
zellen und Elektroautos hinstellen will. Dies zeigt
den Vorteil von Unternehmerinitiative gegenüber
staatlicher Lenkung – selbst wenn sie aus dem deut-
schenWirtschaftsministeriumkommt.
Es sei nun einmal bei neuenTechnologien so,
dass man zunächst nicht wisse, ob es einen Markt
dafür gebe, sagte Musk an derVeranstaltung. Ewig
auf Subventionen und staatlicheRückversicherun-
gen zu warten, ist seine Sache nicht. Und der eben-
falls anwesendeVW-Chef Herbert Diess meinte, er
sei froh, dass Musk die Branche antreibe. Man darf
gespannt sein,ob der ungestüme Unternehmer nun
die deutsche Branche und auch das standortpoli-
tisch behäbige Deutschland aus derReserve lockt.
Er will das neueWerk nämlich schon2021 eröf fnen,
was eher nach einem Hoffnungswert tönt.Das wirft
unvermittelt dieFrage auf, ob der neue Hauptstadt-
flughafen BER, der mittlerweile eineVerzögerung
von 2720Tagen hat, wie geplant vorher fertig sein
wird. Die Berliner müssen sich jedenfalls sputen.

Dass sichTesla ausgerechnet


in demjenigen europäischen


Land niederlassen will, das


bei den Stromkosten zu den


teuersten gehört, erstaunt.


Sunrise löst UPC-Kaufvertrag auf


Die Arbeit von Peter Kurer ist noch nicht beendet

Die milliardenschwere Übernahme ist offiziell be-
erdigt. Sunrise hat den Kaufvertrag mit dem UPC-
Besitzer Liberty Global am Dienstag aufgelöst.Als
Architekt des Deals gilt Sunrise-PräsidentPeter
Kurer. Der Rohbau des von ihm geplantenWol-
kenkratzers ist gleichsam eingestürzt.Schuld daran
sind weder die Ingenieure noch dieBauarbeiter.
Diese versuchten mit grossem Einsatz und einigen
Kniffen die Einsturzgefahr derFehlkonstruktion zu
reduzieren. Das Grundproblemkonnten sie indes
nicht lösen:Der wagemutigeArchitekt hatte sich zu
wenig um die Statik gekümmert. So lässt sich das
Drama um den UPC-Deal etwa zusammenfassen.
Kurer versuchte, den Kauf des Kabelnetzbetrei-
bers UPC gegen denWillen des grössten Aktionärs
durchzudrücken.Das war an sich nicht verwerflich.
DennFreenet hält «nur» einenViertel der Sunrise-
Aktien.Dank derKombination der Mobilfunk- und
Kabelnetzevon Sunrise und UPC wärezudem ein
schlagkräftigerKonkurrent fürSwisscom entstan-


den.Es sei deshalb geradezu die Pflicht des Sunrise-
Verwaltungsrates gewesen, auch gegen denWider-
stand einzelnerAktionäreeinen Zusammenschluss
mit UPC anzustreben, mag man sagen.Aber diese
Sichtweise hat einen Haken: Obwohl Sunrise stets
das Gegenteil behauptete, war Freenetkeineswegs
isoliert.Strategische Logik hin oder her – dieMehr-
heit der Sunrise-Aktionäre hielt denKaufpreis von
6,3 Milliarden Franken offenbar für überrissen.
Das musste die Sunrise-Spitze spätestens zwei
Tage vor der ausserordentlichen Generalversamm-
lung (GV) einsehen. Damals wurde ihr klar, dass
ein Ja zur UPC-Transaktion ausgeschlossen war.
Statt dasVerdikt der Eigentümer über sich ergehen
zu lassen,sagte Sunrise die GV kurzerhand ab. Die-
ses umstrittene Manöver öffnete eine Hintertür für
den Deal.Denn zugleich wurde der Kaufvertrag
um einenPassus ergänzt.Dieser gab dem UPC-Eig-
ner Liberty Global de facto dasRecht, eine Sun-
rise-GV einzuberufen. Bis zum vergangenen Mon-
tag hätten die Amerikaner davon Gebrauch ma-
chenkönnen.Das wäre aus ihrer Sicht allerdings
nur sinnvoll gewesen, wenn sie zuvor eine Lösung
mit dem GrossaktionärFreenet gefunden hätten –
ihm etwa sein Aktienpaket abgekauft hätten.Da
dies nicht gelang oder gar nicht versucht wurde, hat
Sunrise nun denVertrag auf den frühestmöglichen

Termin gekündigt.DieKosten für das Scheitern der
Transaktion summieren sich laut Sunrise auf bis zu
125 MillionenFranken.Dasfälltins Gewicht: Im
vergangenenJahr erzielte dieFirma einenRein-
gewinn von 107 MillionenFranken.
Ein Grossteil dieserKosten wäre vermeidbar
gewesen, wenn derVerwaltungsrat denTatsachen
früher insAuge geblickt hätte. Stattdessen ver-
suchte er mit einer teuren Kampagne die Aktio-
näre zu einemJa zu b ekehren.Das war überheb-
lich.Insofern sind dieRücktrittsforderungen an die
Adresse vonPeter Kurer berechtigt. Doch sind sie
auch klug?Deutlicherals Liberty Global kann man
kaum signalisieren, dass man weiterhin gesprächs-
bereit ist. UndFreenet dürfte trotz anderslauten-
denÄusserungen bereit sein,die Sunrise-Aktien zu
verkaufen,sofern der Preis stimmt.Sunrise ist zwar
in bestechenderForm; doch die Zitronekönnte ge-
rade deshalb bald ausgepresst sein. Es ist somit im
Interesse aller, einen zweitenVersuch eines Zusam-
menschlusses zuwagen.ArchitektPeter Kurer kann
dazu beitragen. Denn er scheiterte nicht an man-
gelnder industrieller Logik, sondern an Hybris. Für
den 70-Jährigen dürfte es nicht mehr viele Chancen
geben, seine Ehre zurett en.Wenn er die Gelegen-
heit im Sinne der Aktionärepacken will,wärees
töricht, auf seineFähigkeiten zu verzichten.

Peter Kurer scheiterte


nicht an mangelnder


industrieller Logik,


sondern an Hybris.


STEFAN HÄBERLI
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