Neue Zürcher Zeitung - 14.11.2019

(Marcin) #1

Donnerstag, 14. November 2019 SCHWEIZ 15


Bergführerin Ariane Stäubli


hat sich in einer Männerwelt durchgesetzt SEITE 16


Soll der Bund die Eltern


statt die Kinder krippen un terstützen?SEITE 17


Aargauer soll


Paris-Attentäter


trainiert haben


Dem Nachrichtendienst
des Bundes ist der Mann bekannt

DANIEL GERNY

Lange Zeit wussten die Ermittlungs-
behörden nicht, wer sich hinter dem
Kampfnamen Abu Mussab al-Almani
versteckt. Der Mann hatte im soge-
nannten Islamischen Staat eine füh-
rendePosition erreicht – doch die Er-
mittlerrätselten über seine Identität. Bis
im Oktober des letztenJahres, als öffent-
lich bekannt wurde, für wen das Pseu-
donym steht: Der Mann ist ein gebür-
tiger Schweizer und besitzt sowohl die
deutsche wie die schweizerische Staats-
bürgerschaft. Seinrichtiger Nameist
denMedien inzwischen bekannt. Er
soll1987 in einem aargauischen Dorf
geboren, 2006 mit seiner Mutter nach
Deutschland gereist sein und sich dann
in Frankfurt radikalisiert haben. Er
wurde als grossgewachsen, blond und
blauäugig beschrieben.Auch die NZZ
berichtete vor einemJahr über denFall.

Ein Video als Beleg


FürAufsehen sorgtedieGeschichteda-
mals, weil Abu Mussab Anschläge in
Europa geplant habensoll, darunter
solche in Deutschland. Die deutsche
Zeitung «Bild» präzisiert dieRolle des
Schweizers nun und behauptet, dieser
habe zu den Drahtziehern der Atten-
tate vonParis gehört. Bei den Anschlä-
gen an verschiedenen Orten, die sich
am 13. November zum vierten Mal jäh-
ren, sind fast140 Menschen ums Le-
ben gekommen, und Hunderte wurden
verletzt. Allein im Musik- undTheater-
klubBataclan wurden 89Personen er-
mordet.Laut «Bild» soll Abu Mussab in
Syrien Attentäter für solche Anschläge
imAusland trainiert haben. Unter ihnen
sollen auch Beteiligte des Attentats auf
das «Bataclan» gewesen sein. Als Beleg
verweist die Zeitung unter anderem auf
einen18-minütigenVideofilm, in dem
zu sehen sei, wie der deutsch-schweize-
rische Doppelbürger denParis-Atten-
tätern Kampfhandlungen beibringt. Abu
Mussab soll es gemäss Medienberichten
bis an die Spitze der für Anschläge im
Ausland zuständigen IS-Organisation
geschafft haben.
Der schweizerische Nachrichten-
dienst des Bundes (NDB) bestätigt auf
Anfrage der NZZ nur, dass ihmC.alias
Abu Mussab bekannt sei – ohne aber
auf weitere Details einzugehen.Auch
dazu, ob er auf der Liste der Jihad-Rei-
senden figuriert, die der NDB seit meh-
rerenJahren führt, machteine Spreche-
rinkeine Angaben. Dort werden jene
Personen erfasst, die aus der Schweiz
in einKonfliktgebietgereist sind, unab-
hängig von ihrer Staatsangehörigkeit.
Von 20 01 bis heute hat der NDB ins-
gesamt 92 Jihad-Reisende verzeichnet.
ImFall vonC.berichteten die Medien
schon vor einemJahr, er sei 2013 nach
Syrien ausgereist und habe sich dem IS
angeschlossen,nachdem er inFrankfurt
radikalisiert worden war.Wo sich Abu
Mussab heute aufhält, ist unklar – am
wahrscheinlichstenerscheint es, dass er
tot ist. Doch auch dazu äussert sich der
NDB nicht.

Bundesanwaltschaft ermittelte


Spätestens imFebruar 20 17 wurden
aber auch die Schweizer Behörden in
denFall involviert.Damals eröffnete die
Bundesanwaltschaft ein Strafverfahren
gegenC.wegenVerdachts aufVerstoss
gegen das IS-Gesetz sowie wegenVer-
dacht auf Beteiligung an einer krimi-
nellen Organisation. Doch bereits ei-
nige Monate später, im November 2017,
wurde dasVerfahren sistiert. Grund da-
für dürfte der mutmasslicheTod vonC.
sein. Ob seinTod inzwischenbestätigt
ist, lässt sich aber nicht eruieren.

Im Ernstfall muss schneller info rmiert werden


Die Anti -Terror-Übung v on Bund und Kantonen deckt erst e Schwach stel len auf


LARISSA RHYN


Bei einem Anschlag am Zürcher
Hauptbahnhof sterben 47 Personen,
etliche weiterewerden verletzt. Eine
Sekte bekennt sich dazu. Sie will die
Schweiz zwingen, dreiTerroristen frei-
zulassen, denen inKürze der Prozess
gemacht wird.Fast das ganze SBB-
Netz ist wegen Manipulationenausser
Betrieb, und dann landen auch noch
Hunderte mit Lebensmittelvergiftun-
gen im Spital.
So schrecklich das Szenario klingt,
so entspannt wirken die Soldaten, die
in der Berner Kaserne um einenTisch
sitzen.Dabei sind sie mitten im End-
spurt der Sicherheitsverbundsübung
20 19. Sie habennur wenige Stunden ge-
schlafen, rund um die Uhr verschickte
die Zentrale neue Horrornachrichten.
Damit hielt sie 21 00 Personen in der
ganzen Schweiz aufTr ab.Alles sollte so
real wie möglich wirken – mit Medien-
berichten, Behördenwarnungen und
Drohschreiben derTerroristen.Jetzt
muss dieRegie dafür sorgen, dass kurz


vor SchlusskeineFehler passieren und
die Soldaten,Polizisten und kantonalen
Angestellten amBall bleiben.

Fake-News verhindern


Das Szenariosollte alle Dimensionen
einbeziehen, vor allem auch den Cyber-
raum. Eine Studentin twittert darum
gerade eineFalschmeldung unter dem
Namen @stefanmeisterhans: «Hier führt
die @KantonspolizeiAargau gerade
einenTerroristen ab. Habe ich selbst
miterlebt.» Sie googelt noch schnell ein
Foto einerFestnahme und postet es dazu.
DerTweet ist nichtreal, aber alle, die am
Szenario beteiligt sind,können ihn sehen.
Nun muss diePolizei möglichst schnell
daraufreagieren. Prompterscheint wenig
später eine Antwort von @KapoAargau:
«#Falschmeldung». Die meisten Kantone
reagieren schnell und verhindern damit
dieVerbreitungvonFake-News.
Derweil haben die Übungsleiter be-
reits das zweite Szenario gestartet, das
sich direkt an die 52-Stunden-Übung an-
schliesst: ein Notfall im AKW Beznau.

DerStrom steigt aus, die Notfallpläne
greifen nicht – allesTeil des Szenarios.
Nur dieReaktion derVerantwortlichen
lässtsich nichtplanen. Sie macheneinen
schwerwiegendenFehler, unterschätzen
die Situation, zögern zu lange. Mark van
Wijk, stellvertretender Leiter derRegie,
wendetsich kopfschüttelnd an einen
Kollegen: «Die hätten die Bevölkerung
schneller informieren sollen.»Wäreder
Notfallreal, wüssten die Menschen im
Einzugsgebiet des AKW nicht, dass sie
inKürze verstrahlt werden. Doch solche
Fehleinschätzungen gehören dazu, er-
klärtvanWijk: «Es geht ja genaudarum,
Schwachstellen zu entdecken, damit wir
es im Ernstfall besser machenkönnen.»
Verbesserungen für den Ernstfall:
Das war auch bei der letzten Übung im
Jahr 20 14 das Ziel.Damals wurde ein
Stromausfall über mehrereTage simu-
liert. Und es zeigte sich, dass ein abhör-
sicheresKommunikationsmittel für den
Ernstfall fehlte. Im September hat das
Parlament einen Kredit dafür gespro-
chen, nun wird ein sicheres nationales
Datenverbundsystem aufgebaut.

Erste Probleme haben Übungslei-
ter BernhardWigger und seineKolle-
gen auch diesmal bereits identifiziert.
«Bund und Kantone haben sich bei der
Krisenkommunikation nicht optimal ab-
gestimmt», sagtWigger. Das habeauch
daran gelegen, dass die Bundeskanzlei
nichtTeil der Übung gewesen sei.

Den Überblickgewinnen


Weiter habe sich gezeigt, wie schwie-
rig es für dieFührungspersonen sei – in
diesemFall Bundesrätin KarinKeller-
Sutter und den Präsidenten der kanto-
nalenPolizeidirektoren, Urs Hofmann,


  • einen Gesamtüberblick über alle Ent-
    wicklungen in den Kantonen zu gewin-
    nen.Weil der Sicherheitsbereich in der
    Schweiz dezentral organisiert ist, lässt
    sich dieses Problemnurmit einer noch
    besserenKoordination lösen. Der dritte
    Schwachpunkt ist bereits während der
    Vorbereitung der Übung zumVorschein
    gekommen: Die Schweiz hat im Ernst-
    fallMühe, genügendPolizeikräfte auf-
    zubieten.


Neuer Schub für die Schiene


Der Bundesrat will im alpenquerenden Güterverkehr d ie Bahn günstiger und die Strasse teurer machen


CHRISTOF FORSTER, BERN


Die Chefin macht einen Unterschied.
In ihrem erstenJahr imVerkehrsdepar-
tement will Simonetta Sommaruga die
Verlagerung des Güterverkehrs von
der Strasse auf die Schiene forcieren.
Am Mittwochkonnte sie auch den
Bundesrat davon überzeugen. Er wil-
ligte in zusätzliche Massnahmen zu-
gunsten derBahn ein. Sommarugas
Vorgängerin Doris Leuthard hingegen
wollte nichts wissen von neuen Len-
kungsmassnahmen, sprach sich aber
gleichzeitig auch gegen eine Anpas-
sung desVerlagerungsziels aus. Die-
ses ist klar:Ab 20 19 sollen maximal
650000 Lastwagen proJahr die Alpen
imTr ansitverkehr auf der Strasse que-
ren. So steht es im Gesetz zur Umset-
zung der Alpeninitiative.
DerTr end stimmt. 20 18 ging die An-
zahlLastwagen um 13 000 auf 941000
zurück. Seit demHöchstwert von 1,
Millionen imJahr 20 00 nehmen –mit
einzelnenAusreissern nach oben – die
Camionfahrten auf der Strasse ab. Im
Güterverkehr durch die Alpen hat die
Bahn einen Marktanteil von 70 Prozent.
ImVergleich zuFrankreich (14 Pro-
zent) und Österreich (28 Prozent) steht
sie viel besser da. Sommaruga nennt
es eine Erfolgsgeschichte seit der An-
nahme der Alpeninitiative1994. Dies
macht dieVerkehrsministerin nicht nur
an den Zahlen, sondern auch am Men-
talitätswandel fest. Selbst gestandene
Tr ansportunternehmer wünschten sich
mehr Güter auf der Schiene.Dies sei
ein grosser Unterschied zu1994,als die
Verlagerungspolitik dasLand noch ge-
spalten habe, sagte Sommaruga.


Gebühren sinken


Tr otzdem liegt das Ziel, die 650 000
Lastwagen proJahr, noch in weiter
Ferne.Der Bundesrat bekräftigt im
neuenVerlagerungsbericht, dass diese
Vorgabe mit den bisherigen Massnah-
men nicht erreicht werdenkönne. Daran
ändern gemäss einer Studie auch die Er-
öffnung des Ceneri-Basistunnels und die
Fertigstellung des 4-Meter-Korridorsauf
der Gotthardachse bis Ende 2020 nichts.
Sommaruga will nun mit einem
Bündel von Massnahmen derVe r-


lagerung neuenSchub verleihen.Zu-
sammengefasst soll damit die Schiene
günstiger und die Strasse für schmut-
zige Lastwagen teurer werden. So
senkt der Bundesrat dieTr assenpreise,
also die Gebühren für die Schienen-
nutzung.Dies führt zu Einsparungen
von jährlich 90 MillionenFranken,wo-
von zu je einem Drittel Güter-,Fern-
undRegionalverkehrprofitieren.Wer-
den damit als Nebeneffekt die Billett-
preise imPersonenverkehr sinken? Bei
der Erhöhung derTr assenpreise hatte
der Bundesrat argumentiert, diePassa-
giere müssteneinen höheren Beitrag
an dieVerkehrsinfrastruktur leisten. In
derFolge haben dieBahnbetreiber die
Ticketpreise angehoben. Mankönne
nichterwarten, dass die Einsparun-
gen von 30 MillionenFranken bereits
morgenAuswirkungenaufdie Billett-

preise hätten, sagte Sommaruga dazu
am Mittwoch.
EinRabatt eingeführt wird für lange
Güterzüge (über 500 Meter). Dies soll
Anreize schaffen, damit die neue Infra-
struktur, die in der Schweiz mit der Neat
zurVerfügung steht, auch tatsächlich
ausgenutzt wird.In einer Übergangs-
phase will der Bundesrat zudem die
Subventionen für die «RollendeLand-
strasse» wenigerschnell reduzieren,als
zunächst geplant war. So erhalten die
Operateure im unbegleitetenkombi-
niertenVerkehr bis 2026 zusätzliche 90
MillionenFranken.

LSVA als zentralesInstrument


Auf 2021 hin zieht der Bundesrat bei
der leistungsabhängigen Schwerver-
kehrsabgabe (LSVA) die Schraube an:

DieLastwagen der Abgasklassen Euro
IV und V sollen nicht mehr in eine güns-
tigere Kategorie fallen.Damit wirdver-
hindert, dass die durchschnittliche Ab-
gabe für eine Fahrt durch die Schweiz
von 293Franken (2018) auf 275Fran-
ken (2024) sinkt. Mit der Umklassierung
könne die bisherigeVerlagerungswir-
kung derLSVA aufrechterhalten wer-
den. Schliesslich wird mit einem neuen
Kontrollzentrum Gotthard Süd in Gior-
nico dieAufsicht über den Schwerver-
kehr verstärkt.
DieLSVA bleibt für den Bundes-
rat das zentrale Instrument zurVer-
lagerung. Damit die Abgabe auch künf-
tig genug griffig ist,prüft dieRegierung
deren langfristigeAusgestaltung.Die
Ergebnisse sollen in zweiJahren bei der
Präsentation desnächstenVerlagerungs-
berichts vorliegen.

Lastwagen am Gotthard.AusSicht des Bundesrats müsstennochweit mehrTransporte perBahn erfolgen.SAMUEL GOLAY / TI-PRESS / KEYSTONE
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