Neue Zürcher Zeitung - 14.11.2019

(Marcin) #1

Donnerstag, 14. November 2019 SCHWEIZ


APROPOS


Warum nicht gle ich


ein Kaufzwang?


Fabian Schäfer·Auf dergrossen, bun-
ten Wiese derLandwirtschaftspolitik las-
sen sich immer wieder erstaunliche Blü-
ten entdecken. Das neuste Beispiel hat
am Mittwoch dieLandesregierung gelie-
fert. Sie liess eine Mitteilung mit folgen-
demTitel verschicken: «Selbsthilfemass-
nahmenLandwirtschaft: Bundesrat ver-
pflichtet Nichtmitglieder vonzwei Orga-
nisationen». Das wirft schonrein logisch
eine kniffligeFrage auf: «Nichtmitglieder
von zwei Organisationen»?Wer ist das
(n icht)? DieRede ist offenkundig von
zwe i bä uerlichen Organisationen. Sind
folglich wir alle gemeint,die wir als Nicht-
bau ern auch Nichtmitglieder sind?Keine
Bange, so schlimm ist es nicht.Aber fast.
Der SchweizerBauernverband sowie
der Branchenverband SchweizerReben
und Weine sind mit eine r Bitte anSVP-
Bundesrat GuyParmelin gelangt, der
früher ihr Berufskollegewar und heute
Landwirtschaftsminister ist. Die Ver-
bände möchten für ihreWerbekampa-
gnen auch diejenigenBauern zur Kasse
bitten, die nicht Mitglied bei ihnen sind.
Ihr Anteil bewegt sich laut dem Bund
zwischen 4 und 10 Prozent. DerWunsch
der Verbandschefs ist absolut verständ-
lich. Sie haben sich daran gewöhnt, dass
der Bund mit Steuergeld auchWerbe-
kampagnen alias «Massnahmen zur Ab-
satzförderung» mitfinanziert.Warum sol-
len also nicht auch Nichtmitglieder mitbe-
zahlen? Und tatsächlich: DerBundesrat
hat das Gesuch gutgeheissen. Er zwingt
Landwirte, die – aus welchen Gründen
auch immer –keinem dieserVerbände
angehören,derenWerbekampagnen mit-
zu finanzieren. BeimBauernverband gilt
der Zwang für zweiJahre, bei denWein-
bauern für dreiJahre. Das Gesetz sieht
diese Möglichkeit explizit vor. Um das ab-
surd zu finden, muss man offenbar Nicht-
mitglied der Agrarbranche sein.
Der Bundesrat schreibt,er wolle mit
seinem Entscheid «sogenannteTrittbrett-
fahrer verhindern», die von den Kampa-
gnen profitierten, ohne sich daran zu be-
teiligen. Diese Begründung eröffnet viele
interessante Möglichkeiten.Zum Beispiel
könnte der Bund nach demVorbild der
Medienabgabe fürRadio undTV von
allen Haushalten undFirmen eine «Er-
nährungsabgabe» zugunsten derBauern-
verbände erheben. Schliesslich sind sie
nicht deren Mitglied,profitieren aber ein-
deutig vomWirken derBauern.Einfacher
wäre jedoch die direkte Einführung der
generellen Zwangsversorgung («Rüebli-
Obligatorium»).Wer A sagt,muss auch
B sagen:Die Schweizer Haushalte ermög-
lichen mit den steuerfinanzierten Direkt-
zahlungen die heutige landwirtschaftliche
Produktion – also sollen sie diese gefäl-
ligst auch kaufen. Dies wäre einkonse-
quenter Schritt, der auch die heutigen
Trittbrett-Esser erfassen würde. Nach die-
ser Reformkönnten sich dieBauernver-
bände auch von Nichtmitgliedern finan-
zierteWerbekampagnen sparen.

Mit Gutscheinen für die Kinderbetreuung

steigt das Angebot an Krippenplätzen

Nach positiven Erfahrungen in den Gemeinden fordern Parlamentarier auch vom Bund eine ne ue Finanzierungspraxis


Viele Kindertagesstätten erhalten


Geld von der öffentlichen Hand,


um günstigeTarife anbieten zu


können. Doch immer mehr


Gemeinden stellen um: Sie


vergeben Betreuungsgutscheine


direkt an die Eltern. Soll der


Bund jetzt nachziehen?


LARISSA RHYN


Die Berner haben sich jahrelang über
ihre Kita-Finanzierung gezankt. Das
Resultat ist einSystemwechsel:Künf-
tig erhalten berufstätige Eltern im gan-
zen Kanton Betreuungsgutscheine von
ihrerWohngemeinde. Diese können sie
bei der Kita ihrerWahl einlösen, anstatt
dass ihren Kindern wie bisher ein sub-
ventionierter Platz zugeteilt wird.Wäh-
rend die Gegner in Bern noch immer
vor einerKostenexplosion warnen, hat
die Stadt Luzern bereits das Gegenteil
bewiesen. Nachdem sie als erste Schwei-
zer Stadt Betreuungsgutscheine einge-
führt hatte, sind zwar dieAusgaben in
die Höhe gegangen, doch das hatkein
Loch in die Kasse gerissen. Denn die
Einnahmen stiegenauch.
Betreuungsgutscheinekosten mehr
als die Objektfinanzierung, bei der die
Gemeinde eine fixe Anzahl Plätze sub-
ventioniert und das Geld direkt an die
Krippen bezahlt. Denn die Gutscheine
werden meist nichtkontingentiert.Da-
durch profitieren mehrFamilien, doch
die Gemeinde muss auch mehr aus-
geben. Das war in Luzern derFall.
Gleichzeitig wurden nach der Einfüh-
rung des GutscheinsystemsmehrAllein-
erziehende und Zweitverdiener inPaar-
haushalten erwerbstätig. Daraufhin nah-
men die Steuereinnahmen zu, und die
Stadt sparte bei den Sozialhilfekosten.
Nun fordernPolitiker von Mitte-
links, dass die Subjektfinanzierung auch
auf nationaler Ebene eingeführt wird.
Die grünliberale Nationalrätin Kathrin
Bertschy hat kürzlich einPostulat dazu
eingereicht.Sie argumentiert,die direkte
Unterstützung der Eltern sei effizien-
ter: «Heuteist dasSystemkompliziert,
zu wenig transparent, die Eltern warten
zu lange, und es profitieren nur wenige.»
Mit Gutscheinen blieben die Plätze zwar
teuer, doches könnten alle erwerbstäti-
gen Eltern profitieren – jenach Einkom-
men einfach unterschiedlich stark.


Bernund Luzern alsVorreiter


Wenn eine Gemeinde Betreuungsgut-
scheine einführt, entstehen neue Krip-
penplätze. Das zeigte sich nicht nur in
Luzern, sondern auch in der Stadt Bern,
wo die Subjektfinanzierung bereits vor
einigenJahren eingeführtwurde .Nach
demWechsel fanden 66 Prozent der
Eltern zum gewünschten Zeitpunkt
einen Platz, während es zuvor nur 43
Prozent gewesen waren.Wer nicht direkt
fündig wurde, musste sich zudem weni-
ger lang gedulden: DieWartezeit sank
von durchschnittlich 40 auf 20Wochen.
Die Studien in Bern und Luzern fan-
den nur wenige negative Punkte: Ei-
nige Kitas bemängelten, dass sie weni-
ger Planungssicherheit hätten. In Bern
nahm der administrativeAufwand zu,
sowohl für Eltern und Kitas als auch für
die öffentliche Hand.
Bern hat sich schliesslich dazu ent-
schieden, dasSystem von der Stadt auf
den ganzen Kanton auszuweiten.In den
kommenden zweiJahren müssen alle
Gemeinden auf Gutscheine umsteigen,
wenn sie weiterhin Geld vom Kanton er-
halten wollen. Einige haben dies bereits
im Sommer getan.Auch Uri plant, ganz
auf Gutscheineumzustellen. DieStadt
Zug, Olten und diverse ländlichere Ge-
meinden, unteranderem in den Kanto-
nen Baselland, Aargau und Luzern, set-
zen heute schon auf Subjektfinanzierung.
Im Kanton Zürich haben SP, Grüne,
GLP, EVP und AL jüngst einenVor-
stoss eingereicht. Doch die Stadt Zürich


hat sich erst kürzlich gegen Betreuungs-
gutscheine entschieden. Sozialvorsteher
Raphael Golta (sp.) warnte davor, dass
durch den verschärftenWettbewerb die
Kita-Preise steigenkönnten, wodurch
sich einkommensschwacheFamilienkei-
nen Platz mehr leistenkönnten.
Im Kanton Bern kann man noch
nicht beurteilen, ob das stimmt. Esther
Christen von der BernerFürsorgedirek-
tion rechnet mit leichten Preisanstiegen.
Sie sagt jedoch auch,keine Kitakönne
es sich leisten, die Eltern zu stark zur
Kasse zu bitten: «Dank denGutscheinen
sind die Eltern nicht mehr an dieWohn-
gemeinde gebunden.» Siekönnten ihre
Kinder auch in der Nachbargemeinde
betreuen lassen. «Das verschärft die
Konkurrenz zwischen den Kitas.»
36 Prozent der SchweizerPaare schi-
cken ihre Kinder in eine Kita oder eine
schulergänzende Betreuung. Das zei-
gen die neusten Zahlen des Bundes-
amts für Statistik.Dafür bezahlensie in
den Städten etwa 110 bis140 Franken
pro Tag, auf demLand ist es teilweise
etwas weniger.Wegen der hohenKos-
ten lohnt es sich nicht für alleFamilien,
wenn beide Elternteile arbeiten.
Luzern hat gezeigt, dass Betreuungs-
gutscheine das ändernkönnen.KeinWun-
der, ist die Subjektfinanzierung, die als
wettbewerbsfördernd gilt und anfangs vor
allem bei Bürgerlichen beliebt war, auch
bei den Sozialdemokraten salonfähig ge-
worden. So hat neben der Grünliberalen
Kathrin Bertschyauch SP-Nationalrätin
Nadine Masshardt im Nationalrat einen
Vorstoss dazu eingereicht.

Der Bundesrat hielt vor kurzem fest,
die Gutscheinsysteme hätten positive
Effekte. Dies, nachdem FDP-National-
rat Peter Schilliger angefragt hatte, ob
der Bund Anreize setze, damit die Kan-
tone auf die Subjektfinanzierung um-
stiegen. Dies will der Bundesrat aber
nicht: Es sei nicht am Bund, Empfeh-
lungen zur Kinderbetreuung abzugeben.
Denn diese istin der Schweiz Sache der
Kantone und Gemeinden.
Eine nationaleFinanzierung von Be-
treuungsgutscheinen ist vor allem des-

halb umstritten, weil sie die Krippen-
förderung auf Bundesebene institutiona-
lisieren würde. Bertschy findet das zwar
auch nicht ideal, sagt aber: «Die Kantone
machen seitJahren kaumFortschritte bei
der Vereinbarkeit von Beruf undFami-
lie.» Sie würden noch immer nicht ge-
nügend Plätze zu bezahlbaren Preisen zur
Verfügung stellen. Es sei daher höchste
Zeit, «Bewegung insSystem zu bringen».
2013 ist derFamilienartikel, mit dem
der Bund mehrKompetenzen bei der

Kinderbetreuungerhalten hätte, an der
Urne knapp gescheitert.Trotzdem greift
der Bund heute schon in das Hoheits-
gebiet von Kantonen und Gemeinden
ein. Der Grund:Vor Jahren fehlten in
der Schweizmassenhaft Krippenplätze.
Also entwickelte dasParlament eineAn-
schubfinanzierung. Das war 2003. Letz-
tes Jahr wurde das «Impulsprogramm»
bereits zum dritten Mal verlängert.Der
Bundesrat hatte sich dagegen ausgespro-
chen.ImParlament waren FDP undSVP
dagegen.Doch es gabAbweichler in bei-
denParteien, und so kam dieVorlage
auch im Nationalrat durch.

5000 Franken fürzwei Jahre


Mit dem jetzigenSystem wird jeder
neue Kita-Platz zweiJahre lang mit 50 00
Franken unterstützt. Sowohl private als
auch öffentliche Einrichtungenkönnen
profitieren. Bis heute hat das Programm
383 MillionenFranken gekostet, womit
rund 36 200 neueKita-Plätze und etwa
26 000 Plätze in der schulergänzenden
Betreuung finanziert wurden.Vor allem
in Basel-Stadt, derWestschweiz,Zürich
und Zug wurden inden letzten16 Jahren
mit der Unterstützung des Bundes viele
neue Kita-Plätze geschaffen.In den
meisten Kantonen der Zentral- und Ost-
schweiz waren es nur wenige. Daneben
wurden auch unabhängig vom Bund
neue Betreuungsangebote geschaffen.
Zusätzlich wurde unter Innenminis-
ter Alain Berset (sp.) ein zweitesFinanz-
paket von knapp 100 MillionenFran-
ken bereitgestellt. Gemeinden,die ihre
Subventionen für die familienergän-
zende Kinderbetreuung erhöhen, erhal-
ten während dreierJahre einenTeil des
Geldes vom Bund.Danach müssen sie
die zusätzlichenKosten selbst stemmen.
Gleichzeitig unterstützt der Bund auch
Projekte,mit denen das Betreuungsange-
bot besser auf die Bedürfnisse der Eltern
abgestimmt wird, beispielsweise, indem
lange Öffnungszeiten angeboten werden.
Das Programm läuft noch bis im
Sommer 2023, bisher hat das Bundes-
amt für Sozialversicherungen die Ge-
suche der Kantone Aargau,Tessin und
Baselland für total rund 20 Millionen
Franken bewilligt. Elf weitere Kantone
haben laut dem BSV Interesse gezeigt,
vier Gesuche werden für 2020 erwartet.
Doch dort, wo die Gemeinden dieVer-
antwortung für die Kita-Finanzierung
tragen, ist der administrativeAufwand
für ein Gesuch hoch.Daher zögern ei-
nige Kantone noch, die zusätzlichen
Bundesgelder zu beantragen.

Krippen spieleneine zentraleRolle bei derVereinbarkeit vonFamilieund Beruf. CHRISTIAN BEUTLER / NZZ

NZZ Visuals/jok., nth.

01 3,5 317,122,6 44 51,

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QUELLE: BUNDESAMT FÜR SOZIALVERSICHERUNGEN

Wenig neueKita-Plätzeinder Zentral- und Ostschweiz
Anzahl der im Rahmen der Anschubfinanzierung seit 2003 neu bewilligten Kita-Plätze pro 1000 Kinder

2020 steigen


die AHV-Beiträge


Eine Folge der Re form
der Unternehmenssteuern

(sda)·Erstmals seit über vierzigJahren
steigen nächstesJahr die AHV-Beiträge.
Dasist eineFolge der AHV-Steuer-Vor-
lage, die Anfang 2020 in Kraft tritt. Der
AHV-Beitragssatz steigt um 0,3 Prozent-
punkte auf 8,7 Prozent. Die Beiträge wer-
den je hälftig von Arbeitnehmenden und
Arbeitgebenden getragen. Die Beitrags-
sätze für Selbständigerwerbende und der
Mindestbeitrag für Nichterwerbstätige
werden entsprechend erhöht.
DasStimmvolk hatte dieAHV-Steuer-
Vorlage im Mai 2019 angenommen. Die
höheren Beiträge sollen derAHV zusätz-
lich gut 2 MilliardenFranken proJahr in
die Kasse spülen.Eshandelt sich um eine
Paketlösung desParlaments, mit der dem
umstrittenen Steuerteil derVorlage zu
einer Mehrheit verholfen werden sollte.
Auch dieser trittAnfang 2020 in Kraft.

36 Prozent
der Schweizer Paare
schicken ihre Kinder
in eineTagesstätte oder
eine schulergänzende
Betreuung.
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