Neue Zürcher Zeitung - 14.11.2019

(Marcin) #1

24 PANORAMA Donnerstag, 14. November 2019


ZAHLENRÄTSEL NR. 265

SPIELREGELN «GEBIETSSUMME»:Die
Ziffern 1bis 7sind soeinzutragen,dasssie
in jeder Zeile und jeder Spalte einmalvor-
kommen. Die kleinen Zahlenin den umran-
detenGebietengeben dieSumme im
jeweiligenGebietan. Innerhalbeines Ge-
bietskönnenZiffern mehrfachvorkommen.

Auflösung:
Zahlenrätsel Nr. 264

Venedig erlebt verheerendes Hochwasser

Pegelstand nahe dem Rekordwert verursacht schwere Schäden an Baut en – der Hochwass ersc hutz hat versagt


ANDRESWYSLING,ROM

Eine schwere Sturmflut hatVenedig in
der Nacht auf Mittwoch heimgesucht.
Beinahe die ganzeLagunenstadt stand
unterWasser.DerWasserstand erreichte
am Dienstag kurz vor Mitternacht am
offiziellenPegel die 187-Zentimeter-
Marke. Nur bei der schweren Flut von
1966 war dieserWert übertroff en wor-
den, damals wurden194 Zentimeter ge-
messen. Am Mittwoch früh gab es eine
neue Hochwasserspitze mit 138 Zenti-
metern, undin denkommendenTagen
werden weitere Überflutungen erwartet.
Sturmböen mitWindgeschwindig-
keiten von bis zu 100 Kilometern pro
Stunde rissen Boote und Gondeln aus
denTauen und spülten sie auf die Quais.
60 Wasserfahrzeuge wurden nach offi-
ziellen Angaben stark beschädigt, auch
drei Vaporetti sanken. ZweiTote werden
gemeldet,zwei alte Männer auf derAus-
seninselPellestrina, diekomplett unter
Wasser gesetzt wurde.Einer von ihnen
erlitt einen Stromschlag, als er eineWas-
serpumpe in Betrieb setzen wollte.
Einige Touristen erlebten in der
Nacht bange Minuten, weil sie auf Brü-
cken vom Hochwasser überrascht wur-
den und weder vorwärts- noch rück-
wärtskonnten. Der ganzeFussgänger-
verkehr kam zum Stillstand, es war nur
noch diePolizei mit Booten unterwegs.
So auch auf dem Markusplatz, der voll-
kommen unterWasser stand.

MarkusplatzunterWasser


Das Meerwasser drang in die Markus-
kirche ein, über einen Meter hoch stand
es im Innern derBasilika, die Krypta
wurde ganz mitWasser gefüllt.Zwar lie-
fen die Pumpen auf Hochtouren, aber
sie sindnur für einenWasserstand von
85 bis 88 Zentimetern über demFuss-
boden ausgelegt und blieben somit letzt-
lich wirkungslos. Das Mauerwerk der
Basilikasei angegriffen, man versuche,
den Schaden in Grenzenzu halten, sagte
der Ingenieur derBasilika, Pierpaolo
Campostrini, der Nachrichtenagentur
Ansa.Wasserlachen bildeten sich auch
im berühmten Café «Florian». Und im
Kunstmuseum Ca’Pesar brach wegen
einesKurzschlusses ein Brand aus.
Zwar sind die Gezeiten in derAdria
und im Mittelmeer allgemein nicht
sehr ausgeprägt. Dennoch wirdVene-
dig so gut wie jedesJahr im November
für einigeTage vom Hochwasser heim-

gesucht, jeweils wenn der Gezeitenka-
lender einen hohenWasserstand erwar-
ten lässt und zudem schlechtesWetter
herrscht. Einerseits bringt derPo dann
viel Wasserins Meer, anderseits drückt
der Südwind das Meerwasser in die
Kanäle derLagunenstadt.Aus dem zen-
tralen Mittelmeer werden derzeitvier
Meter hoheWellen gemeldet.
Die Einwohner vonVenedig sind
«normale» Hochwasser gewohnt, und
die Behörden sind vorbereitet. So wer-
den im November an niedrigen Stellen
wie dem Markusplatz Notstege bereit-
gestellt. DieLadenbesitzer legen Sand-
säcke vor dieTür, nach ein, zwei Stun-
den fliesst dasWasser wieder ab.
Das Hochwasser in der Nacht auf
Mittwoch war aber ein aussergewöhn-
liches, es folgte auf die überaus starken
Niederschläge der letztenTage. Und
man stellt fest,dass die teuren Hoch-
wasserschutzmassnahmen fürVenedig
offenbar nicht funktionstüchtig sind.
2003 wurde mit demBau von drei Sper-

ren begonnen, die eigentlich längst fer-
tiggestellt sein sollten. Anfang dieses
Jahres meldeten lokale Medien, die An-
lage sei «zu94 Prozent fertig», es wurden
ein Test imFrühling und die «versuchs-
weise» Inbetriebnahme diesen Herbst in
Aussicht gestellt. Doch nach Angaben
des Staatsfernsehens RAI fand bisher
kein Versuch statt. Die Sperren sind
nicht einsatzbereit.Angeblichsind Teile
der Anlage wegen mangelnden Unter-
halts verrostet und lassen sich deshalb
nicht bewegen. Die bisher aufgelaufe-
nen Kosten werden auf 5,5 Milliarden
Euro beziffert. Der Unterhalt soll jähr-
lich 100 Millionen Euro verschlingen.

Schulengeschlossen


Der Bürgermeister vonVenedig, Luigi
Brugnaro, prüfte in der Nacht auf Mitt-
woch an Bord einesPolizeiboots die
Lage. «Das sind dieFolgen des Klima-
wandels.Wir bitten dieRegierung in
Rom, uns zu unterstützen», sagte der

Bürgermeister. Später amTag sagte er
vor den Medien, die Schäden beliefen
sich auf Hunderte von Millionen Euro.
Doch es gehe nicht nur um Geld, son-
dern um die Zukunft derStadt.Die
Hochwasser seien mit ein Grund für die
Entvölkerung vonVenedig.
Alle Schulen inVenedig blieben am
Mittwoch geschlossen. Die Gassen der
Stadt waren amMorgen zumTeil ver-
sperrt,der öffentlicheVerkehr auf dem
Wasser war beeinträchtigt.
Für Mittwoch warkaum Wetter-
besserung in Sicht,in ganz Italien war
wie schon seitTagen Regen angesagt.
Von den Unwettern besonders betrof-
fen waren am Dienstag die süditalie-
nischenRegionenBasilikata, Apulien
und Kalabrien.In EuropasKulturhaupt-
stadt Matera kam es zu Überschwem-
mun gen in der Altstadt.Auch auf der
Ferieninsel Capri und in Neapelgab
es schwere Schäden. Ebenso gab es auf
Sizilien Überschwemmungen und klei-
nere Erdrutsche.

InVenedig wurde in der Nacht auf MittwocheinWasserstandvon 187Zentimetern über dem Meeresspiegel gemessen.M. SILVESTRI / REUTERS

Ein grausiges Verbrechen befeuert die Debatte


um Gewalt an Frauen in Russland


Der Historiker Oleg Sokolow soll eine Frau mit einer Fl inte getötet und den Körper mit einer Säge zerteilt haben


INNA HARTWICH, MOSKAU

Oleg Sokolow schlägt denKopf gegen
die Glaswand des Gerichtskäfigs, heult
laut auf. Das Gesicht aufgedunsen,die
Nase verschnupft. «Er jaulte wie ein
Tier», beschreiben die Anwesenden die
Töne des Mannes, der vor der Unter-
suchungsrichterin sitzt und zu erklären
versucht, wie er «auf diese unvorstell-
bareArt», wie er sagt,dieKontrolle über
sich verlieren konnte.
Am Wochenende hattenRettungs-
kräfte den 63-Jährigen aus der Moika,
einem Fluss in SanktPetersburg, ge-
zogen und ihn wegen Unterkühlung in
ein Spital gebracht. In seinemRucksack
fanden sich abgesägteFrauenhände, in
seinerWohnung, ebenfalls an der Moika,
einTorso und abgeschnittene Füsse. Den
abgetrenntenKopf fanden die Ermitt-
ler am Flussufer. Bevor der wohl be-
trunkene Geschichtsdozent zur nächt-
lichen Stunde selbst in den Fluss gefal-
len war, hatte er denKopf in einem Plas-
tiksack insWasser geworfen. Später gab
Sokolow zu Protokoll, er habe derFrau
mit einer abgesägten Flinte viermal in
den Kopf geschossen und denKörper

mit einer Säge zerteilt.Das Opfer war
die 24-jährige AnastasiaJeschtschenko,
Sokolows Studentin und seit fünfJahren
seine Lebensgefährtin.

Bedeutender Napoleon-Forscher


DerenFreunde haben am Hauseingang
an der Moika Blumen niedergelegt und
ein Foto der Doktorandin insFenster ge-
stellt – in napoleonischer Armee-Uni-
form.Sokolow undJeschtschenko hatten
sich fürFrankreich und seinen Kaiser be-
geistert,wareninderReenactment-Szene
aktiv,stelltendabeihistorischeEreignisse
nach.Er als Napoleon,sie alsJoséphine.
Der Mann istkein Unbekannter im
Land. Der Historiker gilt als der bedeu-
tendste Napoleon-ForscherRusslands.
Sei t 2003 ist er Mitglied in der fran-
zösischen Ehrenlegion, die nun über-
legt, ihm denTitel zu entziehen, und
war bis zu seinerTat Mitglied derRus-
sischenMilitärgeschichtlichen Gesell-
schaft. Diese verleugnete denForscher
schnell und liess seinen Namen aus
ihrem Mitgliederverzeichnis im Inter-
net löschen.Auch die Staatliche Univer-
sität in SanktPetersburg, an der Soko-

low in den1980er Jahren den Abschluss
mit Auszeichnung machte und seit
2000 als Hochschullehrer für Neue Ge-
schichte unterrichtete, distanzierte sich
von ihrem prominenten Dozenten und
schrieb in einer offiziellen Erklärung, sie
werde Sokolowentlassen.
Sokolow galt als Exzentriker, als
Freak, der seine Studenten auch auf
Französisch vor anderen blossstellen
konnte.Bereits 2008 soll er eine Stu-
den tin gequält und mit demTod be-
droht haben. Sokolows Anwalt bezeich-
nete dieVorwürfe alsVerleumdung.
DerJähzorn und die Ruhmsucht
des Historikers waren in der Universi-
tät, unterFreunden und in derFamilie
offensichtlich bekannt. Er soll oft Be-
ziehungen mit Studentinnen eingegan-
gen sein.«Es ging uns nichts an», heisst
es nunaus der Universität. Es ist ein oft
gehörter Satz imLand, in dem bei Ge-
walt, zumal häuslicher, nicht selten weg-
geschaut wird.Auch deshalb löst Soko-
lows Tat so vielAufsehen aus. Sie erwei-
tert die Debatte um Gewalt anFrauen
um einen krassenFall.
Gemäss offiziellenAngaben aus dem
Jahr 2013 – neuereDaten gibt es nicht


  • werden inRussland jedesJahr 12 000
    Frauen vonVerwandten getötet, alle
    Dreiviertelstunde eine.26000 Kinder
    werden täglich von ihren Eltern miss-
    handelt.Fast 80 Prozent aller wegen
    Mordes verurteiltenFrauenim Land, so
    heisst es in einer Untersuchung des On-
    line-Portals «Mediazona», seien zuvor
    von gewalttätigenPartnern gepeinigt
    worden. DieTaten werden oft alsFami-
    lienangelegenheit angesehen.


Behörden schauen weg


Der Polizei sind durch das 2017 in Kraft
getretene,schwammigformulierteGesetz
zur Entkriminalisierung häuslicher Ge-
walt oft die Hände gebunden.DasVerge-
hen gilt seitdem nur noch als Ordnungs-
widrigkeit und wird mit einer Busse von
durchschnittlichumgerechnet80Franken
geahndet.ZuvordrohtenzweiJahreHaft.
Begründet wurde das Gesetz mit «tradi-
tionellenWerten» wie Züchtigungsrech-
tendesVaters .Durchei nesolcheHaltung
kommt es oft zumWegschauen und zur
Tatenlosigkeit.ZumaldasLebenimLand
in vielen Bereichen durch dasRecht des
Stärkeren geprägt ist.

Im Wallis be bt


die Erde


im Stundentakt


Mehr als 200 Erschütterungen


ineinerWocheregistriert


KARL URBAN


Das erste Beben war gleich eines der
heftigsten:Um 1 Uhr 54 in der Nachtauf
den 5. November spürten Bewohnervon
Sitten ein Erdbeben. Es sollte nicht das
einzige bleiben: Messgeräte des Schwei-
zer Erdbebendienstes(SED) registrier-
ten bis heute über 200 Erschütterungen
am Sanetschpass. Der grösste Teil der
Beben war zwar zu schwach, um von
Menschen wahrgenommen zu werden.
Sechzehn von ihnen wurden aber ver-
spürt, das letzte von ihnen am Dienstag
um 15 Uhr 36. Die vier stärksten Erd-
stösse erreichten Magnituden zwischen
3,0 und 3,3.


Ungewöhnlichviele Beben


Ob der Erdbebenschwarm nun abflaut,
ist fürForscher nur schwer zu beurteilen.
Denn solche Schwärme halten sich nicht
an jene Gesetzmässigkeiten,die Seismo-
logen für gewöhnliche Erdbeben ermit-
telt haben: Es gibtkein erkennbares
Vor-, Haupt- oderNachbeben. Stattdes-
sen registrieren die Seismometer wellen-
artig anschwellende und zurückgehende
Phasenhäufiger Erschütterungen, die
irgendwann ganz abflauen.Das kann
insgesamtrecht lang dauern: Schon zwi-
schen 2014 und 2016 habe man während
eines Bebenschwarms imWallis mehr
als 200schwache Bebengemessen, sagt
Tobias Diehl vom SED.
Normalerweiseregistrieren dieFor-
scher schweizweit zwischen zehn und
zwanzig menschlich wahrnehmbare Er-
schütterungen proJahr. Daher sei dieser
Erdbebenschwarm mit vielen spürbaren
Erschütterungen inrelativ kurzer Zeit
schon ungewöhnlich, sagt Diehl.


Unklare Ursache


Was genau imWallis die Bebenserie her-
vorruft, wissen dieForscher noch nicht;
man vermutet einen Zusammenhang
mit Spannungen in derTiefe –und mit
der Rhone-Simplon-Verwerfung. Dabei
handelt es sich um eine Bruchfläche im
Gestein, die jenen gewaltigenAuffahr-
unfall zwischen Europa undAfrika mar-
kiert, der vor 30 MillionenJahren die
Auffaltung der Alpen einleitete.
Sicher sind sich dieForscher hin-
gegen, was den merkwürdigen Charak-
ter des gegenwärtigen Bebenschwarms
angeht: Die ungewöhnlich grosse Zahl
spürbarer Beben bedeute, dass sich auf-
gestaute Spannungen energiereicher
entlüden als bei früheren Schwärmen.
Schwere Erdstösse wie jenen von 1946
hält der SED derzeit zwar fürrela-
tiv unwahrscheinlich – doch ganz aus-
schliessen kann man nicht, dass die
Serie noch einen heftigeren Erdstoss
mit sich bringt.

Free download pdf