Neue Zürcher Zeitung - 14.11.2019

(Marcin) #1

Donnerstag, 14. November 2019 INTERNATIONAL 3


Salz in eine Wunde der Europäer


Die EU-Staaten haben das Problem der IS-Rückkehrer lange ignoriert –nun schafft die Türkei Tatsachen


DANIELSTEINVORTH, BRÜSSEL


Es war kurz vor seinem Abflug in die
USA,als der türkische StaatschefRecep
Tayyip Erdogan am Dienstag tat, was er
im Umgang mit den Europäern seitJah-
ren am liebsten tut: Er drohte. Europa
könne sich angesichts geplanter Sank-
tionen gegen dieTürkei bald auf noch
mehr Anhänger derTerrororganisation
IS gefasst machen, sagte Erdogan. Sein
Land habe auch schon begonnen, west-
liche IS-Angehörige in ihre Heimatstaa-
ten auszuschaffen: «Ihr mögt das auf
die leichte Schulter nehmen.Aber diese
Türen können sich öffnen.»
Erstsyrische Flüchtlinge, nun radi-
kale Jihadisten?Wann immeres jüngst
im Verhältnis zwischen Ankara und
Brüssel kriselte, sprach der türkische
Präsident gerne davon, seineLandes-
grenzen für Millionen von ausreisewilli-
gen Flüchtlingen und Migranten zu öff-
nen. Weil sich die EU-Aussenminister
bei ihremTreffen am Montag von der-
lei Szenarien unbeeindruckt zeigten und
im Streit um türkische Erdgasbohrun-
gen im Mittelmeer denWeg fürWirt-
schaftssanktionen frei machten, holte
Erdogan gleich die ganz grosseKeule
heraus: Die EU solle doch besser ihre
Hal tung gegenüber einemLand über-
denken, das dieKontrolle über zahlrei-
che gefangene IS-Mitglieder in derTür-
kei und inSyrien habe.


Die Regierungenschautenweg


Bei dem Gasstreit hatte dieTürkei auf
mehrfacheWarnungen der EU nicht
reagiert und ihre Bohrungen in Zyperns
Hoheitsgewässern fortgesetzt. So be-
schlossen dieAussenminister in Brüssel
einenrechtlichenRahmen für Sanktio-
nen, die türkischePersonen, Unterneh-
men und Institutionen bald empfindlich
treffenkönnten – ein Affront für Erdo-
gan. Doch wie schwer wiegt dieRetour-
kutsche, es den Europäern mit der
Rückführung mutmasslicherTerroris-
ten heimzuzahlen? Mankönne dem tür-
kischen Präsidenten auch dafür danken,
die Mitgliedstaaten an ihr verschlepptes
Problem mit den IS-Rückkehrern erin-
nert zu haben, hiess es dazu am Mitt-
woch aus Brüssel.
Das Problem ist schliesslichkeines-
wegs neu: Schon der amerikanische Prä-
sident DonaldTrump hatte die europäi-
schenRegierungen imFebruar aufge-
rufen, ihre Staatsbürger zurückzuholen,
und gedroht, sie anderenfalls selber auf
freienFuss zu setzen.Und auch dieKur-
den in Nordsyrien hatten die Europäer


immer wieder aufgefordert, ihrerVer-
antwortung nachzukommen.Dass die
Kurden und ihre Allianz derSyrisch-
Demokratischen Kräfte schon vor der
türkischen Invasion in Nordsyrien im
Oktober kaum noch Kapazitäten für
die Bewachung undVersorgung von
IS-Kämpfern gehabt hätten, sei euro-
päischen Diplomaten auch durchaus
bewusst gewesen, heisst es dazu in
einem aktuellen Bericht desThink-
Tanks European Council onForeign
Relations (ECFR).
Dennoch schauten die europäischen
Regierungen weg oder hofften, das Pro-
blem aussitzen zukönnen.Aus Sorge
über mögliche Anschläge der IS-Rück-
kehrer , über dieWirksamkeit von Über-
wachung, Strafverfolgung und Deradi-
kalisierungsprogrammen und nicht
zuletzt mit Blick auf die öffentliche
Meinung, wie der ECFR-Bericht her-
ausstreicht.Wenig überraschend lehnen
in den meisten EU-Staaten die Bevöl-
kerungen eine Heimkehr von IS-Ange-
hörigen entschieden ab. Laut einer Um-
frage ausFrankreich vomFebruar zeig-
ten sich 89 Prozent der Befragten «sehr

beunruhigt» über dieRückkehr franzö-
sischer Jihadisten.67 Prozent wünschten
sich sogar, dass selbst die Kinder aus Ji-
hadistenfamilien im Irak und inSyrien
bleiben sollten.

Schlecht bewachte Jihadisten


In Deutschland warnte der Präsi-
dent des deutschen Bundesnachrich-
tendienstes, Bruno Kahl, erst vergan-
geneWoche bei einer Anhörung im
Bundestag vor einer erhöhtenTerror-
gefahr. Kahls Sorge galt unter anderem
den IS-Kämpfern, die sich im Zuge der
Kämpfe in Nordsyrien befreienkonn-
ten. Laut Angaben derTürkei sollen
zwar die meisten jener IS-Gefangenen,
die das Chaos zur Flucht nutzten, wie-
der von türkischen Kräften gefangen
genommen worden sein. ImVergleich
zumRegime unter denKurden deut-
lich abgenommen,so Kahl, habe unter
türkischerKontrolle aber die «Intensität
und Gründlichkeit», mit der die Män-
ner in den Haftanstalten und die IS-
Frauen mit ihren Kindern in denLa-
gern bewacht würden.

Zu den umstrittenen Massnahmen
der Europäer, eineRückkehr der IS-
Angehörigen zu verhindern, gehört
deren Ausbürgerung. Bereits mehre-
ren britischen Männern undFrauen, die
sich dem IS angeschlossen haben, hat
Grossbritannien die Staatsbürgerschaft
entzogen. Im April verabschiedete auch
Deutschland ein Gesetz,das dieAusbür-
gerung deutscher IS-Kämpfer ermög-
licht, wenn sie eine zweite Staatsbürger-
schaft besitzen.Dänemark kündigte im
Oktober ein ähnliches Gesetz an.
Doch viel Zeit bleibt den EU-Staaten
nichtmehr:FürDonnerstagwirddieAus-
schaffung einer siebenköpfigenFamilie
aus derTürkei nach Deutschland erwar-
tet, die nach Informationen deutscher
Sicherheitsbehörden dem salafistischen
Milieuzugerechnetwird.UndfürFreitag
kündigte dieTürkei an,zwei deutsche IS-
Frauen mit Migrationshintergrund aus-
zuschaffen,dieausdemsyrischenGefan-
genenlagerAinIssageflohenwaren.Sein
Land sei eben «kein Hotel» und «keine
Gaststätte»fürIS-Anhängerausanderen
Ländern,erklärte der türkische Innen-
minister Süleyman Soylu am Mittwoch.

IS-Kämpfer beten in einem Gefängnis in der nochvon denSyrisch-Demokratischen Kräftengehaltenen StadtHasaka. AFP

Die Uno


und Ägypten


vermitteln


Granatenbeschuss auf Israel –
Luftangriffe aufGaza

INGAROGG, JERUSALEM

Der Uno-Sonderbeauftragte für den
Nahostfriedensprozess, Nikolai Mlade-
now, ist am Mittwoch zu Gesprächen mit
dem ägyptischen Präsidenten Abdel-
fatah al-Sisi nach Kairo gereist.Laut
israelischen Medienberichten sollte am
Abend auch der Chef des Islamischen
Jihad,Ziad al-Nakhala,in Kairoeintref-
fen. Bestätigen liessen sich die Berichte
zunächst jedoch nicht.
Nakhala lebt in der syrischen Haupt-
stadtDamaskus, wo seinerechte Hand,
Akram al-Ajuri, am Dienstag einem
Luftangriff entkam, der vermutlich auf
das Konto Israels ging. Etwa zur glei-
chen Zeit hatten die Israeli in Gaza
Baha Abu al-Atta, einen führenden
Kommandanten des Islamischen Jihad,
mit einem gezielten Luftangriff getötet.
Seitdem dreht sich die Spirale der Ge-
walt auf beiden Seiten.

Aktion und Reaktion


NachdemVermittlungsbemühungen in
der Nacht gescheitert waren, nahmen
Kämpfer im Gazastreifen am Mittwoch-
morgen erneut israelische Gebiete unter
Beschuss.NachAngabenderisraelischen
Streitkräfte wurden 90 Prozent der seit
Dienstag von Extremisten abgefeuerten
Raketen und Granaten durch den Ab-
wehrschirm «Iron Dome» abgefangen.
Die Reaktion der israelischen Armee
liess auch am Mittwoch nicht lange auf
sich warten. Die Luftwaffe flog Bom-
benangriffe, und Landstreitkräfte feuer-
ten mit schwerer Artillerie auf Gebiete
im Gazastreifen.DieAttacken richteten
sich lautdenStreitkräftengegenStellun-
genundWaffenlager.NachAngabender
palästinensischenGesundheitsbehörden
in Gaza forderten die israelischen An-
griffe bisher mindestens 23Tote und
mehr als 65Verletzte. Fo lgt man den Be-
richten über«Märtyrer», handelt es sich
beidenmeistenTotenumKämpfer,doch
verloren nach Angaben der palästinen-
sischenBehörden auchdreiKinder ihr
Leben. Israelische Sanitäter behandel-
tenseitAusbruchderKampfhandlungen
kn app 50Personen, wobei sich bis auf
zweidiemeistenentwederbeiderFlucht
vor einschlagendenRaketen leicht ver-
letzten oder Angstattacken erlitten.
Sowohl im Gazastreifen alsauch
in den umliegenden israelischen Ge-
bieten blieben am Mittwoch viele Ge-
schäfte,SchulenundBehördengeschlos-
sen.Trotzdem scheinen beide Seiten um
eine Begrenzung desKonflikts bemüht.
Anders als am Dienstag feuerten die
Extremisten am Mittwochkeine Rake-
ten in Richtung Israel ab, sondern vor
allem Granaten mit wesentlich geringe-
rer Reichweite. Der amtierende israeli-
scheMinisterpräsidentBenjaminNetan-
yahu drohte am Mittwoch mit weiteren
Schlägen gegen führendeKommandan-
tendesIslamischenJihad.Solltensieihre
Angriffe fortsetzen,kenne Israelkeine
Gnade, sagte Netanyahu.Auffällig dabei
war, dass er mitkeinemWort die Hamas
erwähnte, die den Gazastreifenkontrol-
liert. IsraelischeKommentatoren sehen
darin ein Zeichen, dass dieRegierung
und dieArmee mit allen Mitteln verhin-
dern wollen, dass sich die Hamas in den
Konflikt hineinziehen lässt.

Hamasunter Druck


Trotz ihren scharfenWorten hält sich die
Hamas bis jetzt zurück.Gemäss Medien-
berichten hat sie sogar versucht, den
Islamischen Jihad zur Einstellung der
Angriffe auf Israel zu bewegen.Je län-
ger derKonflikt andauert,desto weniger
wird sich die Hamas freilich dem Druck
der Strasse entziehenkönnen. Denn je
mehrTote es gibt, desto mehr erwarten
die Palästinenser im Gazastreifen, dass
die Hamas denWorten auchTaten fol-
gen lässt undetwas zu ihrerVerteidigung
unternimmt. Israel kann das nur verhin-
dern, indem es denKonflikt schnell be-
endet oder der Hamas entgegenkommt,
indem es dieAbriegelung des Gazastrei-
fens lockert.

Die Angst vor einem Bürgerkrieg kehrt zurück


Libanons politischeElite will die Krise aussitzen –und riskiert damit eineweitere Eskalation


CHRISTIAN WEISFLOG, BEIRUT


Seit knapp einem Monat befindet sich
Libanon imAusnahmezustand. Schu-
len, Banken und Universitäten haben
ihren Betrieb mehrheitlich eingestellt.
Die oft verstopften Strassen von Beirut
sind praktisch staufrei – ausser sie wer-
den von Demonstranten gesperrt.Tank-
stellen verkaufen Benzin inrationierten
Mengen,auf dem Schwarzmarkt verliert
das libanesische Pfund stetig anWert,
das Finanzsystem droht unter einem
enormen Schuldenberg zukollabieren.
Trotzdem sieht die politische Elite
offensichtlichkeinen Grund zur Eile.
Vor zweiWochen ist derRegierungs-
chef Saad Haririzurückgetreten. Doch
bis heute hat der christliche Präsident
MichelAoundieKonsultationenzurBil-
dungeiner neuenRegierung nicht ein-
geleitet. Dabei sind dieForderungen
der Protestbewegung klar: Sie will eine
Übergangsregierung,diealleinausunab-
hängigen und integren«Technokraten»
besteht. Diese sollen dieWirtschaft sta-
bilisieren undParlamentswahlen unter
einem neuenWahlrecht vorbereiten.


Letzteres solldem entlang derverschie-
denenReligionsgruppen organisierten
Parteiensystem ein Ende setzen.

Ein hoffnungsloserPräsident


Nach HaririsRücktritt dachten die De-
monstranten,dieElitehabeihreLektion
gelernt.DochineinemFernsehinterview
enttäuschtedervölligentrücktwirkende
PräsidentAoun am Dienstagabend die
unzufriedenenBürger.Dieseskandieren
auf der Strasse immer wieder die glei-
cheParole:«Mitallensindallegemeint!»
Damit meinen sie,alle müssten abtreten,
alleseiengleichkorrupt,niemandemvon
der alten Elite sei zu trauen.Aoun nun
sagte,erhaltediesenSloganfürfalsch,es
gebe vielekompetentePolitiker.
Auch der Bildung einer reinen
Expertenregierung erteilte der Präsi-
dent eine Absage. Zugleich machte der
84-Jährige die Demonstranten für die
wir tschaftliche Not verantwortlich. In
Wahrheit ist sie dasResultat eines dreis-
si gjährigen Missmanagements der herr-
schenden Elite. «Um dieWirtschaft zu
schützen,müssendie Libanesen nach

Hause gehen», rietAoun der Bevölke-
rung. Erneut forderteAoun die Pro-
testbewegung auf,Anführer zu benen-
nen,die mit ihm in Dialog treten sollten:
«Wenn es niemand Anständiges in der
Bewegung gibt,lasst die Demonstranten
besser auswandern.» Diese unglückliche
Formulierung brachte dieVolksseele
vollends zumKochen, weil nur dieAuf-
forderung zur Emigration hängenblieb.
Noch in der Nacht auf Dienstag errich-
teten Hunderte von Demonstranten im
ganzenLand neue Strassensperren. Oft
zu hören ist nun auch eine an den Präsi-
denten gerichteteParole: «Wenn dir das
Volk nicht gefällt, wandere aus.»

Aoun gehorchtdem Hizbullah


Die Protestbewegung sieht ihre Stärke
darin, dass siekeine Führung hat. Sie
schütztsichdadurchvorinnerenGraben-
kämpfen und äusseren Angriffen.Aus-
serdem geht sie davon aus, dass ihre kla-
ren Forderungenkeine Verhandlungen
mit der alten Elite zulassen.Wiesich nun
aberzeigt,reichenselbstvierWochenan-
haltender Proteste nicht aus, damit die

politischenVeteranen dem vonihnen ge-
beuteltenVolk entgegenkommen.
Statt dieDemonstrantenernstzuneh-
men, ziehtAoun es vor, seinem politi-
schenBündnispartner–derSchiitenmiliz
Hizbullah–zugehorchen.DerHizbullah
lehnt eine unabhängige Expertenregie-
rung ebenfalls kategorisch ab. Indem er
sich an die Macht klammert,riskiert der
PräsidenteineweitereEskalation.Wasin
dieser angespannten Situation passieren
kann,zeigte sich am Dienstagabend süd-
lich von Beirut. Ein Armeeangehöriger
erschoss an einer Strassensperre einen
Demonstranten. Dieser wird nun zum
«Märtyrerder Revolution»stilisiert.Am
Mittwoch kam es im Norden von Beirut
an einer Strassensperre zuRaufereien,
bei denen ebenfalls Schüsse fielen.
Es ist gut möglich, dass sich die alte
Elite solche Scharmützel geradezu her-
beiwünscht. Denn sie beschwören die
lähmende libanesische Angst vor einem
neuen Bürgerkrieg herauf. Sie fürchte
sich jetzt schon ein bisschen, sagte am
Mittwoch eine junge Demonstrantin un-
weit des Präsidentenpalasts. «Aber ich
will vor derAngst nicht kapitulieren.»
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