Neue Zürcher Zeitung - 14.11.2019

(Marcin) #1

Donnerstag, 14. November 2019 WIRTSCHAFT 31


ABB lernt vom Silicon Valley


Bei der Digitalisierung seiner Geschäftsprozesse setzt der Schweizer Industriekonzern auf Partne rschaf ten mit grossen IT-Firmen


GIORGIOV. MÜLLER,SAN JOSE


Seit Jahren haben die drei Dominatoren
der Industrialisierung, General Electric
(GE), Siemens und ABB, grosse Mühe,
sich den Anforderungen der digitalisier-
ten Neuzeit anzupassen.Weil sie gleich-
zeitig mit langwierigen und umfang-
reichen internen Problemenzu kämp-
fen haben, fehlten meist die Zeit und die
Kapazität, sich den geändertenRahmen-
bedingungen einer digitalisiertenWelt
ausreichend anzupassen. Beim amerika-
nischenTraditionskonzern GEkommt
die extrem angespannte finanzielle Lage
hinzu.Weil er seit Monaten um das nackte
Überleben kämpft und notfallmässig
Tafelsilber verkaufen musste, hat er sei-
nen einstigenVorsprung bei der digitalen
Transformationrasch eingebüsst.


Die Grossen haben Mühe


Bei der deutschen Siemens-Gruppe galt
die Priorität in den vergangenenJahren
der Vereinfachung der Struktur,zahlrei-
che Geschäftsfelder wurden abgetrennt.
Im Gegensatzzu den breit aufgestellten
Konglomeraten GE und Siemens hat sich
der Schweizer ABB-Konzern vergleichs-
weise früh vom Kraftwerksbereich ge-
trennt und sich auf dasKerngeschäft der
Elektrotechnik und derAutomation aus-
gerichtet. Doch bei der«Digitalisierung»
seines nach wie vor breiten Produkte-
portefeuilles ging derKonzern eher zag-
haft vor.Während GE mit seiner Soft-
ware-Plattform Predix und Siemens mit
Mindsphere schon vorJahren eigene Be-
triebssysteme für ihre Produkte auf dem
Markt hatten, herrschte bei ABBFunk-
stille.Technisch hatte zwar auch ABB
seit einigenJahren mit Ability ein Ange-
bot fürdie industrielleVernetzung. Mitt-
lerweile umfasst dieses digitale Lösungen
für 200 verschiedene Geschäftsprozesse.
Mit der Nominierung von GuidoJou-
retzumChiefDigitalOfficervorrunddrei
JahrenhatsichABBaufgemacht,dendigi-
tale n Rückstandaufzuholen. Im Gegen-
satz zu GE und Siemens, die ihre eigenen
Betriebssysteme als Produkt denKun-
den verkaufen, machten die Schweizer
aus dem Nachteil des Nachzüglers eine
Tugend. Mit dem Eingehen vonPartner-
schaftenmitführendenIT-Konzernensoll
nicht nur derRückstand aufgeholt wer-
den, sondernJouret will so künftig auch
amPulsdertechnischenEntwicklungsein.
DergebürtigeBelgierlebtseitdreiDezen-
nien im kalifornischen SiliconValley, dem
EpizentrumderInformationstechnologie.
In SanJosé hat er ein digitalesKompe-
tenzzentrummitgut200Mitarbeiternauf-
gebaut.Diesemsindweitererund2000bis
3000ABB-Mitarbeiterindenverschiede-
nen internationalen Stützpunkten ange-
schlossen. Sie treiben die digitaleTrans-
formation von ABB voran.
Wegen der sehr hohen lokalen
Lebenskosten würden so wenige Leute
wie möglich im SiliconValley angestellt,


erklärteJouret vergangeneWoche gegen-
übereiner Gruppe europäischerJourna-
listen, die auf Einladung von ABB die
US-Westküste besuchten.Frisch ausge-
bildete Ingenieure beginnen dort mitJah-
ressalären von 100000 bis 110000 $, sol-
che mit fünfjähriger Erfahrung mit rund
150000 $. Das sind zwar um 40 bis 50%
höhere Löhne als in anderen US-Regio-
nen. Doch unter dem Strich kann sich
ein Mitarbeiter im SiliconValley weni-
ger leisten.Deshalb gehören etwas ältere
Mitarbeiter, die schon seitJahren hier
wohnen und sich nicht für Millionen Dol-
lar eine einfache Holzhüttekaufen müs-
sen,zu seinemTeam. Jüngere Mitarbeiter
würden eher in anderenWeltregionen an-
gestellt, in Krakau oder in Indien.
Doch ohne einen eigenen Stützpunkt
im Valley geht esheute selbst für gestan-
dene Industriekonzerne nicht mehr, denn
dasIT-Wissenistnirgendsgrösseralsdort.
Rund die Hälfte desWagniskapitals der
USA wirdvon Investoren angelegt, die
dort ihren Sitz haben. Deshalb verfügen
auch alle wichtigen IT-Firmen über einen
Ableger, und die bestenJungfirmen ver-
suchen, sich ein Stück vomKuchen zu
sichern.Das Ökosystem SiliconValley sei
schon mehrmals für tot erklärt worden,
sei aber stärker als je zuvor, meintJouret.
«HierwirdeinProblemimmeralsChance
betrachtet»,sagter.NeueMitarbeiterwer-
den meistauf eine Empfehlung hin ange-
stellt. So arbeitet auchJouret mit vielen
Kollegen,die er schon von seiner Zeit bei

Ciscound Nokia herkennt.Dass sich dar-
aus ein kartellartiger Insiderklub bilden
könnte, befürchtet er nicht. Die Mobili-
tät der Mitarbeiter sei nach wie vor gross.
Das zeigt sich nicht zuletzt an der star-
ken Fluktuation. Bei den zehn grössten
amerikanischen IT-Konzernen bleibt ein
Angestellter im Schnittweniger als zwei
Jahre bei einem Unternehmen, bevor er
zum nächsten weiterzieht.

ABBöffnet sich


BeimAugenschein vor Ort wird ersicht-
lich, dass die Anstrengungen nicht nur
erstekonkrete Erfolge gezeitigt haben,
sondern dass das Unternehmen ein stra-
tegisch anderesVorgehen gewählt hat als
seineKonkurrenten GE und Siemens.
In Ermangelung eines eigenen Betriebs-
systems für dieAnbindung der industriel-
len Basis an das Internet gingABB ver-
mehrt denWeg überPartnerschaften mit
IT-Firmen wie Microsoft, IBM,Dassault
Systèmes, Hewlett Packard Enterprise
(HPE) und Microsoft.Er lasse lieber Mi-
crosoft,Amazon und Google um die tech-
nisc he Vorherrschaft kämpfen, sagtJou-
ret, stattkostspielige eigene technische
Lösungen für das industrielle Internet der
Dinge (IIoT) zu entwickeln. Erst jüngst
hat Microsoft angekündigt,5Mrd.$in die
Entwicklung von Software für Industrie-
kunden zu investieren.Bei solchen Sum-
men können selbst die grössten Industrie-
firmen nichtmehr mithalten. Mit einer

offenen technischen Plattform ist man
laut Jouret aber vor allem sicherer,nicht
von der technischen Entwicklung abge-
hängt zu werden. Laut SeanParham, der
beiABB für dieAbility-Plattform verant-
wortlich ist, stosse dieser Entscheid bei
den Kunden auch deshalb auf guteReso-
nanz, weil diese selbst schon viele Micro-
soft-Produkte im Einsatz hätten.
Trotzdem erfordert eine solch enge
Zus ammenarbeit auch Mut, denn sol-
che Partnerschaften zwischen Industrie-
und Technologiefirmen sind nicht exklu-
siv. So eng dieVerbindung von ABB mit
Microsoft sein mag, auch einKonkur-
rent wie Siemens nutzt die Cloud-Com-
puting-Plattform Azure von Microsoft.
ABBkommt zugute, dass in der IT-Bran-
che derzeit eine strukturelleVerschie-
bung stattfindet. In denAnfängen der In-
formatik gruppierte sich alles um die zen-
tralen Grossrechner. Mainframe-Compu-
ter wurden anschliessend vom Zeitalter
der Personal Computer (PC) abgelöst, in
dem dieRechnerkapazität dezentral auf
dem PC und dem Server-Computer liegt.
Die Verlagerung der IT in riesigeDaten-
zentren und dieVirtualisierung legten
das Fundament für dasCloud-Compu-
ting. Dabei sind die Endgeräte nurKom-
munikationsmittel, währendDaten, Soft-
ware und Speicherleistung als Dienstleis-
tung aus der Cloud bezogen werden.
Dochnun schlage dasPendel zurück,
erklärtTom Bradicich von HPE.Mit dem
Edge-ComputingkommtdasMini-Daten-

zentrum zurück ins Unternehmen. Edge-
Computing werde sogar grösser sein als
die Cloud,prognostiziertJouret.AlsAna-
logie für dieseWelt wird das Smartphone
genannt.Das technische Grundgerüst
(Smartphone) stellen die IT-Firmen, dar-
auf aufgebaut werden von den Industrie-
firmen die Geschäftsprozesse (Apps).

Nich t alle Daten in der Cloud


HPE treibt dieKonvergenz der indus-
triellen Betriebssysteme in denFabri-
ken und der Informatik mit Hochdruck
voran.Mit diesem Unternehmen istABB
erst jüngst eine globale strategischePart-
nerschaft eingegangen.Laut dem intern
«DoktorTom» genannten Manager Bra-
dicich sei es einTrugschluss zu glauben,
dass sich die Industrie 4.0 nur in der
Cloud abspielen werde.Die Verarbei-
tung und Analysierungder von Sensoren
erhobenenDaten in der Cloud sei zu
langsam, zu teuer und nicht sicher genug.
Auch dieLatenzzeiten seien zu lang, um
eine Fabrik in Echtzeit steuern zukön-
nen. Dass heikleDaten am Ort des Ge-
schehens bleiben, sei ein weitererVorteil.
Das amerikanische Marktforschungs-
unternehmen Gartner geht davon aus,
dass in sechsJahren dreiViertel der
Datenverarbeitung im Industriebereich
vor Ort erfolgen wird. Der technische
Fortschritt macht es möglich, dass nun
quasi «Baby-Rechenzentren» dort ste-
hen, wo die industriellen Prozesse ablau-
fen.«DoktorTom» spricht voneiner Kon-
vergenz von IT undOT, also derInfor-
mationstechnologie und der operativen
Technologie. In dieserWelt ist ABB zu
Hause. DieseKombination ist nicht ein-
fach, denn in den industriellenSystemen
sind andere Protokolle und Steuerungen
verbreitet als in derIT.Zudem müssen
die Geräte den zumTeil unwirtlichenVer-
hältnissen trotzen, die zum Beispiel auf
Erdölplattformen im Meer oder an ande-
ren abgelegenen Örtlichkeiten herrschen.
In solchenPartnerschaften gilt es laut
Sam George, der bei Microsoft für den
Bereich Internet der Dinge (IoT) zu-
ständig ist, die Stärken beiderPartner zu
verbinden. DieVerkäufer von Microsoft
würden besonders belohnt,wenn sie eine
mit ABB entwickelte Lösung verkaufen
könnten.ABB ihrerseits zahlt Microsoft
für die Anbindung an die Azure-Cloud.
Der Trumpf der traditionellen Indus-
trie konzerne ist ihreumfangreiche instal-
lierteBasis. Im Gegensatz zur IT sind ihre
Produkte währendJahrzehnten im Ein-
satz, und auch dieKundenbeziehungen
sind langfristiger Natur,die gegenseitige
Loyalitätistalsoeherhoch.Undwennsich
das von HPE geschilderte Szenario be-
wahrheitet, bei dem dieRechnerleistung
nicht mehr nur in der Cloud steckt, son-
dern wieder zurück an den Ort des Ge-
schehens wandert,wird auch die Bedeu-
tung der Industriekonzerne alsTorwäch-
terfürdiemanchmalübermächtigerschei-
nenden IT-Giganten wieder zunehmen.

Ein Kompetenzzentrum in SanJose (Bild) soll die digitaleTransformationvon ABB vorantreiben. DEREKNEUMANN / GETTY

Der Brutkasten der IT-Unternehmer


Der weltweit grösste Startup-Accelerator Plug and Play Tech Center will schon bald einen Standort in Zürich eröffnen


GIORGIOV. MÜLLER, SUNNYVALE


Ob der unternehmerische Erfolg mit der
riesigen Buddhastatue zu erklären ist,die
unübersehbar am Eingang des einstigen
US-Hauptsitzes von Philipssteht?Hier
hat der gebürtige Iraner Saeed Amidi ein
Umfeld aufgebaut, in demWeltkonzerne
mit den bestenJungfirmen zusammen-
kommen und gemeinsam die Zukunft
gestalten. Der auseiner wohlhabenden
Familie stammendeAmidi hat anfänglich
sein Vermögen im Immobilienhandel im
SiliconValleygemacht.Dabei sei er wie-
derholt mit Unternehmern inKontakt
gekommen, die es später zu Berühmt-
heit gebracht hätten. Als Google erst 15
Mitarbeiter zählte, habe er Büros an sie
vermietet, sagt Amidi. Er selbst sei erst
zum Unternehmer geworden,als ihm sein
Vater nach der persischenRevolution den


Geldhahn zugedreht habe. «Ich war ein
verwöhntes,reiches Kind», erzählt der
charismatische Unternehmer. Ein e Firma
fürTrinkwasser (American LiquidPacka-
ging System), die es heute noch gibt, war
sein erstes eigenes Unternehmen.
Was als Immobiliengeschäft und
Family-Office begann, wurde der grösste
global agierendeAccelerator, also eine
Institution, die Jungunternehmen in ihrer
Entwicklung unterstützt und sie mit ge-
standenenFirmen und Investoren zusam-
menbringt.Mittlerweilearbeitenrund600
Mitarbeiter für Plug and Play an über 20
Standorten in zwölfverschiedenenLän-
dern.InEuropagibtesbereitsachtStand-
orte ,einer in Amsterdam, zweiinFrank-
reichundfünfinDeutschland,unterande-
rem die Startup-Autobahn in Stuttgart.
Zweimal proJahr können sich rund
1000 Start up-Unternehmen bei Plug and

Play für einFörderprogramm bewer-
ben. Siedurchlaufen dabei einen knall-
hartenAuswahlprozess. Den 320 Gross-
unternehmen, die Plug and Play alsPart-
nerfirmen unterstützen, werden die 100
besten Kandidaten präsentiert.Rund ein
Drittel davon bekommtdie Chance, vor
den Firmenund Investoren aufzutreten.
Schliesslich dürfen rund 20Jungfirmen
für einige Monate in denRäumlichkei-
ten gratis arbeiten und vomreichhaltigen
Kontaktnetz und einem intensivenFör-
derprogramm profitieren.Auch Schwei-
zer Grossfirmen wieSwiss Re, Zurich,
Credit Suisse, Roche, Novartis, Manor,
SIG und sogar die SchweizerPost befin-
den sich unter denKonzernen, die mit
Plug and Play zusammenarbeiten.
Das Besondere anAmidis Unterneh-
men ist, dass er auch selbstWagniskapi-
tal beisteuert. Er investiere jedesJahr

in rund 200Jungunternehmen, meist
seien es kleinere Summen von 50 000
bis 400000 $ für dieFinanzierung in der
Anfangsphase einerFirma. Dabei dürfte
das harteAuswahlverfahren seines «Be-
schleunigers» dieTrefferquote positiv
beeinflussen. Ein Volltreffer war das
deutscheFintech-Unternehmen N26, in
das er investierte, als es erst zwei Mit-
arbeiter zählte. 25 000 € für eine Betei-
ligung von 5% habe er gezahlt und den
beidenJungunternehmern denKontakt
zu Peter Thiel vermittelt. Mittlerweile
ist N26 die schnellstwachsendeBank
in Europa und wird mit rund 3,5 Mrd. €
bewertet.Amidi liebt disruptiveTechno-
logien. «Mein Hauptziel ist immer, die
nächste Google zu finden», sagt er. Er ist
üb erzeugt, dass derVersicherungsbran-
che die grösste Disruption bevorstehe.
Nicht nur bei Google, auch beiPaypal

und Dropbox gehörte er zu den ers-
ten Investoren. ImWagniskapitalsektor
hat Amidi mittlerweileden Status einer
Ikone erlangt.
«Und ich will etwas in Zürich ma-
chen», kündet der 59-jährige Serien-
unternehmer an.Die beidenVersicherer
Zurich undSwiss Re hättenihn dazu auf-
gefordert. Zwei Branchenthemen stün-
den zu Beginn im Mittelpunkt,Fintech
und Smart Citys, wofür er gerne auch
dieABB als Gründungspartnerfirma ge-
winnen würde. Er schätze die Startup-
Welt in der Schweiz, lässt er hoffnungs-
voll durchblicken. «Ich möchte mindes-
tens jedesJahr in 20 Schweizer Startup-
Firmen investieren», verspricht er im
typisch unbescheidenen Stil einesWag-
niskapitalgebers aus dem SiliconValley.
In Deutschland sei er in rund140 Fir-
men engagiert.
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