Neue Zürcher Zeitung - 14.11.2019

(Marcin) #1

Donnerstag, 14. November 2019 FEUILLETON 39


Der Philosoph JürgenHabermasentwirft Perspektiven


eines Denkens für das 21.Jahrhundert SEITE 42


Die Bibliotherapie will Eifersüchtige, Einsame,


aberauchLesemuffel mit Büchern kurieren SEITE 43


Der neue Marsch der Grünen


Vom ETH-Hörsaal gehen manche den direkten Weg zur GLP-Frakti on. Das ist nicht unproblematisch.Von Felix E. Müller


Wenn die Schweiz amWahlsonntag am



  1. Oktober einen grünen Erdrutsch er-
    lebt hat, dann spielte dabei dieETH
    eine Schlüsselrolle. Warum?Wer etwa
    im Kanton Zürich die Kandidatenlisten
    der grünenParteien genauer unter die
    Lupe nahm, dem musste die stattliche
    Zahl von Absolventen dieser Bildungs-
    institution auffallen.Vor allem in den
    Reihen der Grünliberalen finden sie sich
    gehäuft,hauptsächlich Umweltnatu rwis-
    senschafter, aber auchAtmosphären-
    physiker oder Physiker.
    Die meisten sind nicht mehr an der
    Hochschule tätig, dennoch bewegen sie
    sich als Inhaber vonBeratungs- und Pla-
    nungsunternehmen für Umweltfragen,
    Klimapolitik, Solartechnik, Energie-
    effizienz weiterhinin d eren Magnet-
    feld.Vom ETH-Abschluss zum Besitzer
    einer Kleinfirma für energetische Ge-
    bäudesanierungen zumParteimitglied
    der Grünliberalen: So sieht der Marsch
    durch dieInstitutionen dieser neuen
    Generation aus.
    Seit dem 20. Oktober wissen wir, dass
    sie als Nationalrätinnen und National-
    räte zu den Schalthebeln der Macht grei-
    fen,um–gleichwiedie68erGeneration–
    die Gesellschaft,dieWirtschaft,diePoli-
    tik in ihrem Sinne umzugestalten.Was
    die Soziologie-Institute der1968er Uni-
    versitäten waren, sind heute die Depar-
    temente für Umweltwissenschaften der
    ETH Zürich und der EPFL inLausanne:
    KristallisationspunktefürwacheGeister,
    Ideengeneratoren sowie Netzwerkplatt-
    formen für politisch Engagierte.
    Dass dieETH in dieseRolle schlüpfte,
    ist das Ergebnis eines langen Prozesses.
    Im Wort «eidgenössisch» schwang ja
    stets ein wenig mit, dass dieETH-Welt
    eineWelt der alten,gefestigten Ordnung
    sei. Naturschutz war etwas für Biologen,


für Geografen, Zoologen oder gar Phil-
Einer.An derETH dominierte dasTech-
nische. In der Energieforschung etwa
standen die Bedürfnisse der Energie-
grossindustrie im Zentrum –Wasserkraft
und Atomtechnologie. Das Eidgenössi-
sche Institut fürReaktorforschung in
Würenlingen (heutePaul-Scherrer-Insti-
tut) trug seinenAuftrag gar im Instituts-
namen und diente als Speerspitze der
Nuklearindustrie, die imBauvon AKW
den Königsweg der künftigen Energie-
produktion sah.

SpäterErfolg derÖkologie


DiemoderneÖkologiebewegung,diesich
um1970inKalifornienherausbildete,war
inZürichlangeZeitnuralsschwachesTie-
fenbeben spürbar. Zwei Grosskatastro-
phen änderten dies, wie dieETH selbst
in einemRückblick auf die Gründung
desFachsUmweltwissenschaftenschreibt:
«Durch die Ereignisse von Tschernobyl
und Schweizerhalle beschleunigt, wurde
der Studiengang Umweltnaturwissen-
schaften im Herbst1987 erstmals ange-
boten.» Erwartet wurden damals 20 bis
30 Studenten,es schrieben sich deren 130
ein – ein Erfolg, der nie mehr abriss. Der
schon damals beträchtlicheFrauenanteil
ist seither noch grösser geworden.
Ganz offensichtlich hat die Zahl der
Absolventen in dieserFachrichtung eine
kritische Masse erreicht, so dass sie nun
in den politischen Mainstream durch-
gebrochenist. Das sei, werden Besorgte
sagen, nicht unproblematisch. Sahen die
Kritiker der1968er Bewegung das Leit-
fach Soziologieweniger alsWissenschaft
denn als angewandtePolitik imJargon
der Frankfurter Schule, so galten (und
gelten) Naturwissenschafter in der Be-
völkerung als akademisch seriöser.

Sie erstellen,so wird gemeinhin an-
genommen, objektive Messreihen, wer-
ten diese auf derBasis objektiver Natur-
gesetze aus und prüfen dann,ob sich da-
du rcheine Ausgangshypothese bestäti-
gen lässt oder nicht. Die gewonnenen
Erkenntnisse stellt derWissenschafter
dann der Gesellschaft (und derPolitik)
zur Verfügung, die damit machen kann,
was sie will. «Zweckfreie»Wissenschaft
ist ein Schlagwort,das ineiner solchen
Argumentationskette rasch einmal
fällt und in dem die Befürchtung mit-
schwingt, dass ein direktes politisches
Engagement desWisse nschafters ne-
gativeFolgen habe. Nicht nur die indi-
viduelleReputation eines Forschers
könnte leiden,sondern dieWissenschaft
per se sei gefährdet, weil sich deren Er-
gebnisse so viel leichter als politisch
manipuliert brandmarken liessen.

Heraus ausdem Elfenbeinturm!


Die Auffassung,die Wissenschaft habe
sich in ihrem eigenen Interesse poli-
tisch abstinent zu verhalten, geriet mit
der 1968er Bewegung aber unter Druck.
Es gehe nicht an,dass sich hochbezahlte
Forscher hinter dicken Hochschulmau-
ern einfach den Dingen widmeten, auf
die sie gerade am meisten Lust hätten,
hiess es;es sei nicht die Bestimmung der
Wissenschaft, nur dieFragen zu lösen,
die sie sich selber stelle.Forschung be-
dürfe zu ihrer Legitimation einer gesell-
schaftlichenRelevanz.«Heraus aus dem
Elfenbeinturm!», riefen die Kritiker. Sie
taten dies auch im Namen der Steuer-
zahler, die doch ein Anrecht darauf hät-
ten,dass die von ihnen finanziertenWis-
senschafter einen Beitrag zur Lösung
der drängenden Probleme der Gegen-
wart leisteten.

Die Auffassung, wissenschaftliche
Forschung sollte direkter auf aktuelle
Herausforderungenreagie ren und in
die Arbeit derPolitik einfliessen, ge-
wann nach dem Bericht über die «Gren-
zen desWachstums» des Club ofRome
1972 und dem Ölschock von1973 mäch-
tiganRückhalt.ZweiJahrespäterführte
die Schweiz nationaleForschungspro-
grammeein,diegena udieserZielsetzung
dienen sollten. Das erste Programm be-
fasste sich mit dem Herzinfarkt, damals
Todesursache Nummer eins; schon das
NFP 04 war der Energiefrage und dem
Ausstieg aus dem Öl gewidmet.
Diese Saat geht heute endgültig auf.
Bei vielen Klimaforschern verfestigte
sich in den letztenJahren der Eindruck,
ihr Tun sei von höchster gesellschaft-
licherRelevanz, weil es um die Exis-
tenzbedingungen auf diesem Planeten
ginge. Doch diePolitik höre nicht wirk-
lich zu, obwohl man besser schon ges-
tern gehandelt hätte als heute. Um die
Verbreitung der Botschaft zu erleich-
tern und die Sensibilisierung derPoli-
tiker zu verbessern, führte dieETH gar
spezielleKurse mit demTitel «Umwelt-
systeme undPolitikanalyse»ein.
Der bekannte amerikanische Klima-
tologe Michael E. Mann schrieb schon
vor sechsJahren in der «NewYork
Times», es sei «nicht mehr länger ver-
tretbar, an den Seitenlinien zu verblei-
ben».Wenn Wissenschafter sich nicht in
der öffentlichen Debatte engagierten,
würden sie einVakuum schaffen,«das
gefüllt wird von denen, deren Agenda
von kurzfristigen Eigeninteressen be-
stimmt wird».Das Risiko, dasmit einem
solchen politischen Engagement ver-
bunden sein kann, erfuhr Mann am eige-
nen Leib:Aus Kreisen der sogenannten
Klimaleugner wurde er hart attackiert

und diffamiert. Er sah sich gar gezwun-
gen, seinenRuf gerichtlich zu vertei-
digen, obwohl seineForschungsergeb-
nisse in wissenschaftlichen Kreisen weit-
herum anerkannt werden.

Politikist schwierig


Dieses Beispiel zeigt den vielenETH-
Absolventen, dass der Gang desFor-
schers in die praktischePolitik nicht
ohne Risiko ist.Je stärker sichWissen-
schaft politisch einmischt, desto mehr
droht ihreAutonomie insVisier von
Kritikern zu geraten.Nie sollten sie des-
halb vergessen, was sie hoffentlich im
Rahmen ihres Studiums gelernt haben:
dass Skepsis und kritisches Hinterfra-
gen auch eigenerPositionen zur Grund-
haltung desForschers gehören.
Gefährlich ist die Selbstüberschät-
zung auf der Grundlage des eigenen,
grossen Fachwissens. Denn Wissen-
schaft undPolitik sind zwei unterschied-
licheSysteme mit je ihren eigenen Ge-
setzlichkeiten, was heisst, dass sich wis-
senschaftlicheErkenntnisse nie eins zu
eins inPolitik umsetzen lassen.Vor Jah-
ren veröffentlichte der britische «Guar-
dian» eine Liste der zwanzig Dinge,wel-
che Wissenschafter über diePolitik wis-
sen sollten. Zu diesen gehören dieAus-
sagen «Making policy is really difficult»
und «No policy will ever be perfect».
Gerade dieVertreter der Grünliberalen
mit ihrem eher technokratischenPolitik-
ansatzkönnten sich an dieserTatsache
noch wundreiben.
Wenn die vielen Neopolitiker mit
ETH-Abschlusspolitischerfolgreichsein
wollen,dürfen sie folglich die feine Linie
zwischen Engagement und Propaganda
nie aus denAugen verlieren. Ihre«alma
mater» und das Klima wird es freuen.

Kurz nachdem Grossbrand im Industriegebiet Schweizerhalle (1986) begann sichdie ETHverstärkt mit ökologischen Themen zu befassen. MICHAEL KUPFERSCHMIDT / KEYSTONE
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