Neue Zürcher Zeitung - 14.11.2019

(Marcin) #1

40 FILM Donnerstag, 14. November 2019


Madeleine(Kim Novak) wirdvon Scottie (James Stewart) umworben: Szene aus Alfred Hitchcocks«Vertigo». HULTON /GETTY

René Gardi wünschte sich eine Schweizer Kolonie in Afrika


Wird die antiqui erte Denkweise des Schweizer Afrika-Erklärers im Dokumentarfilm «African Mirror» reprod uziert oder kritisiert?


LORY ROEBUCK


Sein «schwarzes Arkadien», wie er
es nannte, lag im Norden Kameruns.
Dort zog es den BernerReiseschrift-
stellerRené Gardi ab1948 jahrzehnte-
lang immer wieder hin. Seine Ein-
drücke teilte er in Büchern,Fernseh-
sendungen undFilmen mit den Eid-
genossen.
Gardi, ein ehemaliger Sekun-
darschullehrer, wurde zum grossen
Afrika-Erklärer in der Schweiz. Er
schwärmte von den edlenWilden und
ihrem vormodernen Leben, das er
gerne mit jenem der Schweizer Berg-
ler verglich – eine heileWelt, in der
keine «Autoritätskrise» existierte und
wo niemand derRendite nachrannte.
Wenn Gardi seine Sehnsucht inWorte


zu fassen suchte, dann schrieb er in
sein Tagebuch: « Manchmal wünschte
ich, wir Schweizer hätten auch eine
Kolonie.»

Vertrauen ins Publikum


Kann, soll, darfein Film Sätze wie jenen
über dieKolonialmacht Schweizkom-
mentarlos stehenlassen? Müsste er Gar-
dis Fiktion eines makellosen Arkadiens
nichtreale Bilder von Armut, Krieg
und Krankheit entgegenstellen? Müsste
er dem in GardisWerk stets stum-
menVolk der Mafa – Gardi nennt es
beimkolonialistisch fremdbestimmten
Namen «Matakam» – nicht eine eigene
Stimme geben?
Regisseur Mischa Hedinger sieht
von alledem ab, ganz imVertrauendar-

auf, dass sich Gardis verklärte Sicht
von selbst entlarvt – und dass die Zu-
schauer den Clou bemerken, mithin ge-
nau hinsehen und hinhören. Dies ist
mutig, auch erfrischend. Und imFall
von «African Mirror» geht diese Stra-
tegie auch auf.
Wenn Gardi zuBeginn des Filmes
erzählt, wieer denWasserkrüge tragen-
denFrauen «einFünfernötli» zusteckte,
um «inRuhe filmen zukönnen», lässt
uns das aufhorchen. Genauso, wenn
er sagt, wie schön es wäre, wenn man
rings um das ganze Mandara-Land
einen hohen Zaun bauenkönnte, wenn
es gelänge, alles Böse, alles Überflüs-
si ge, was aus Europakommt, fernzu-
halten.Wennman die Matakam einfach
einsperrte. Seines eigenen Eingriffs in
dieseKultur ist sichGardi gar nicht be-

wusst– für den Zuschauer ist es offen-
kundig.
Spätestens, als imFilm auf Gardis
schwärmerischeAufnahmen von nack-
ten, schweissüberströmten Oberkör-
pern dessen überraschendes Geständ-
nis folgt, er habe mit mehreren seiner
Schüler «Unsittlichkeiten» begangen,
ist Gardis Heuchelei entlarvt. Mehr
noch: Dieseraff inierte Gegenüberstel-
lung zeigt, dassRegisseur Hedinger auf
subtileWeise das Material eben doch
kontextualisiert.

Schon 1980 in der Kritik

Eine zweite Szene bestätigt diesenVer-
dacht. Gardi feiert imJahr 1960 mit
«Mandara – Zauber der schwarzen
Wildnis»Weltpremiere an der Berlinale.

SeinFilm findet bei der Preisverleihung
eine lobende Erwähnung. Doch als der
Film wenig später in den Kinosanläuft,
verweigert ihm die deutsche Prüfstelle
ein Prädikat (und damit Steuerfreiheit).
Der Grund: Gardis Kommentartext,
den er imFilm zu seinen Bildern vor-
li est, sei mangelhaft und müsse «nicht
nur umgeschrieben, sondern von Grund
auf neukonzipiert werden».
Als Gardi das erfährt, fällt er aus
allenWolken.Auch den ausbleiben-
denErfolg an den Schweizer Kino-
kassen kann er sich nicht erklären.
Die Zuschauer von «African Mirror»
dagegen stellen zufrieden fest:René
Gardi und seine paternalistische Hal-
tung waren schon damals angezählt.
Nun verpasst ihnen Hedinger noch den
K. -o.-Schlag.

Das ist die unbekannte Vorges chichte von «Vertigo»

Alfred Hitchcocks Meisterwerk prägt das Kino bis heute. Doch blieb unbemerkt, dass es auf einer französischen Erzählung beruht


EDI ZOLLINGER


Scottie (James Stewart) kann es kaum
glauben. Hat er nicht mit eigenen
Augen gesehen, wie sich Madeleine
(Kim Novak) von einem hohen Kirch-
turm in denTod stürzte? Und jetzt geht
die verlorene Geliebte am helllichten
Tag vor ihm über die Strasse, als wäre
sie von denToten auferstanden. Zwar
ist die Schöne jetzt brünett statt platin-
blond und trägt ein Kleid, wie es Made-
leine niegetragen hätte.Aber die Ähn-
lichkeit ist verblüffend. Also spricht er
die jungeFrau an. Sie behauptet, sie
heisseJudy und habe ihn noch nie in
ihrem Lebengesehen. Dennoch lässt sie
sich von ihm zum Essen einladen. Und
auch als er sie wiedersehen will, ist sie
einverstanden. Schon bald werden die
beiden einPaar.
Es beginnt eine Liebesgeschichte,
wie man sie sich quälender kaum den-
ken kann. Scottie liegt nämlich gar
nichts an der jungenFrau. Er will nur
seine Madeleine zurück. Also kauft er
Judy ein gleichesKostüm, wie es Made-
leine bei ihremTod getragen hat, er
sucht die richtigen Schuhe für sie aus
und zwingtsie, sich die Haareblondie-
ren zu lassen. Zufrieden ist er erst, als
sie sichdiese auch noch wie dasVorbild
zum perfekten Knoten hochsteckt.End-
lich kann er seine Madeleine wieder in
den Armen halten.
DieSzenen aus Hitchcocks«Vertigo»
(1958) habenFilmgeschichte geschrie-
ben. In seinem berühmten, rund fünfzig-
stündigen Interview mit dem britischen
Regisseur sieht schonFrançoisTruffaut
in diesenPassagen den Höhepunkt des
Werks. Und Hitchcock gibt ihmrecht.
Zudem fühlen sich verschiedene Inter-
preten durch Scottie,der das Bild einer
Toten in der Gestalt einer anderen Frau
neu aufleben lässt, an den mythischen
Bildhauer Pygmalion erinnert, von dem
Ovid in den «Metamorphosen» erzählt.
Pygmalion bittet die Götter, eine Sta-
tue, die er selber geschaffen hat, leben-
dig werden zu lassen, damit sie seine
Frau werden kann. Und das wird inter-
essant, wenn man eine Erzählung von
Théophile Gautierkennt, aus der – so
behaupte ich – die Grundidee zu Hitch-
cocks Meisterwerk stammt.


Verliebt in einen Rubens


DieRede ist von Gautiers Erzählung
«LaToison d’or». Dort verliebt sich ein
junger Kunstmaler vorRubens’ Ge-
mälde «Die Kreuzabnahme» in der
Kathedrale von Antwerpen unsterb-
lich in Maria Magdalena, die unten
links im Bild zum Gekreuzigten hoch-
schaut. Immer wieder muss der Prot-
agonist die gemalte Schönheit – die
bei Gautier einfach Madeleine heisst



  • in der Kirche besuchen.Auch wenn
    sie schon seit zweitausendJahren tot
    sei,werde er ihre Asche durch sein
    eigenesFeuer wiederbeleben, sagt der


junge Mann seufzend vor dem Bild.
Wenigstens einmal wolle er sie in sei-
nen Armen halten dürfen!
Da sieht er einesTages auf der
Strasse eine jungeFrau vorübergehen,
die der vonRubens gemalten Made-
leine erstaunlich ähnlich sieht.Erfolgt
ihr, lernt siekennen, die beiden wer-
den einPaar. Und jetztkommt es zum
gleichen quälenden Schauspiel wie bei

Hitchcock. DerKunstmaler kauft seiner
Geliebten ein Kleid, wie es Madeleine
auf dem Gemälde trägt, und er frisiert
ihr auch die Haare nach demVorbild.
Und da die junge Frau, wenn auch
unterTränen, das entwürdigende Spiel
mitmacht, kann zum Schluss geheiratet
werden. Dank ihr als Modell wird der
Protagonist schliesslich zum richtigen
Künstler.

Gautier zeigt deutlich, dass es ihm in
seiner Erzählung um dasThema der Er-
weckung von denToten geht. Nicht nur,
dass er seinen Helden wünschen lässt,
die Heilige, die schon seitzweitausend
Jahren tot sei, möge für ihn wieder zu
leben beginnen.Auch die vom jungen
Mann angebetete Madeleineselbst hat
eng mit derAuferstehung zu tun. Maria
Magdalena, so liest man im Johan-
nesevangelium, ist die Erste, die dem
aus dem Grab auferstandenen Chris-
tus begegnet.Wenn Rubens’ «Kreuz-
abnahme» aus der Kathedrale von Ant-
werpengleichsam dieVorgeschichte zur
Auferstehung Christi erzählt, dann lässt
Gautier in seiner Erzählung wiederum
Maria Magdalena selbst, die erste Zeu-
gin derAuferstehung, neu zum Leben
erwachen.
DieParallelen zu Hitchcocks auf-
erstandener Madeleine sind zu offen-
sichtlich,als dass sie rein zufällig hät-
ten zustandekommenkönnen. Und
auch wenn der britische Regisseur
Gautiers Erzählung wohl kaum ge-
lesen hat, gibt es eineVerbindung zwi-
schen den beiden.

Renée, dieWiedergeborene


Der «missing link» steckt imRoman,
den Alfred Hitchcock alsVorbild für
seinenFilm benutzt hat.Das Drehbuch

zu «Vertigo» entstand auf der Grund-
lage von «D’entre les morts» des fran-
zösischen Schriftstellerduos Boileau-
Narcejac. Und Pierre Boileau und
Thomas Narcejac wiederum sind dafür
bekannt, dass sie sich für ihreRomane
vonTexten fremderAutoren inspirie-
ren liessen.Was «D’entre les morts»
betrifft, hat man ihnen bisher schon
Anklänge an Kierkegaard, Proust,
Heidegger und Sartre nachgewiesen.
Am klarsten erkennbar sind aber die
Spuren, dieThéophileGautiers Erzäh-
lung «LaToison d’or» imRoman hin-
terlassen hat.
Neben den quälenden Szenen, in
denen aus der neuenGeliebten die alte
wird und die Hitchcock eins zu eins
von Boileau-Narcejac übernimmt, fin-
det man imRoman auch noch ganz
expliziteVerweise auf dieAuferstehung
Christi, vor deren Hintergrund Gautier
seine Geschichte inszeniert.Wenn er
seinen Helden wünschen lässt, Made-
leine möge für ihn wieJesus noch ein-
mal auferstehen, dann fällt dasWort
«résurrection» in «D’entre les morts»
gleich mehrmals.Zum Beispiel in
einer Szene, in welcher der Protago-
ni st über Christus nachdenkt, der in
seinem Grab gelegen habe, bis er am
drittenTag daraus hervorgetreten sei.
Der deutlichste Hinweis auf dieAuf-
erstehung steckt aber im Namen der

Frau, die imRoman zur neuen Made-
leine werden soll. Sie heisst bei Boi-
leau-Narcejac noch nichtJudy wie im
Film, sondernRenée – und damit auf
Französisch wortwörtlich «dieWieder-
geborene».
Ganz ähnlich wie GautiersKunst-
maler, der verschiedene Gemälde be-
trachtet, bis er sich in eine vonRubens
gemalteFrau verliebt, ist der Held in
«D’entre les morts» noch ein Hobby-
maler, derkeine Gelegenheit auslässt,
Kunstmuseen zu besuchen. Und wie
später imFilm spielt auch schon im
Roman ein gemaltesFrauenporträt eine
entscheidendeRolle.Madeleine frisiert
sich nach demVorbild eines Ölporträts
ihrer Urgrossmutter, deren Reinkar-
nation sie für den Protagonisten spielt.
Und tatsächlich stellt sich dieser die
Geliebte bei ihrer ersten Begegnung im
Roman auch noch alsvonihm selbstge-
maltesPorträt vor, das er in Gedanken
signiert.
Was der Held nach demTod der
Geliebten noch einmal zum Leben er-
wecken will, ist eben durchaus auch
ein Kunstwerk – wie in Gautiers «La
Toison d’or», wo die vonRubens ge-
malte Madeleine ein neues Leben er-
häl t. So blitzt sowohl bei Gautier als
auch bei Boileau-Narcejac bereits
der Pygmalion-Mythos auf, für den
sich schliesslich die Interpreten von
HitchcocksFilm immer wieder interes-
sieren werden.

BesterFilm aller Zeiten


Pygmalion, so endet die Geschichte
bei Ovid, hat mit der Inkarnation sei-
ner eigenen Statue Nachkommen, in
denen derKünstler und seinWerk wei-
terleben. So gelingt es ihm, denTod zu
überwinden.DerBildhauer nimmt da-
mit gleichsam vorweg, was Ovid auf der
letzten Seite seiner grossen Mythen-
sammlung von sich selber behauptet:
Auch wenn er dereinst sterben müsse,
heisst es da, werde der bessereTeil sei-
ner selbst imWerk, das er gerade voll-
endet habe, weiterleben.«Vivam», lau-
tet das letzteWort der «Metamorpho-
sen»: «Ich werde leben.»
Das könnte durchaus auch Hitch-
cockvon sich behaupten. Seit 2012
führt«Vertigo» die von der britischen
Filmzeitschrift «Sight & Sound» alle
zehn Jahre erstellte Liste der bes-
ten Filme aller Zeiten an. Sein Meis-
terwerk, das die in Gautiers Erzäh-
lung und in Boileau-Narcejacs Ro-
man wieder und wieder auferstandene
Madeleine noch einmal zum Leben er-
weckt, hat den Master of Suspense un-
sterblich gemacht.

Edi ZollingeristPrivatdozentfürFranzösische
undVergleiche ndeLiteraturwissensc haftenan
derLudwig-Maximilians-UniversitätMünchen.
Ein Buch zum hier angeri ssenen Thema ist in
Vorbereitun g.

Wie später im Film
spielt auch schon
im Roman ein gemaltes
Frauenporträt eine
entscheidende Rolle.
Free download pdf