Neue Zürcher Zeitung - 14.11.2019

(Marcin) #1

Donnerstag, 14. November 2019 FEUILLETON 41


Das gute Leben tropft vor Schweiss

Sport tr eibt den Wahn der Messbarkeit an – und befreit die Gesellschaft viel leicht auch wiederdavon


WALTER MENGISEN UND MARKUS CHRISTEN


Das wohlammeisten in unseren ge-
sundheitsversessenen Zeiten missver-
standene Zitat lautet: «mens sana in
corpore sano». Landauf, landab wird es
inReden eingeflochten; mitVorliebe
vonPolitikern, wenn sie die Nähe zur
Sportszene suchen.
Im Original desrömischen Satirikers
Juvenal heisst es allerdings:«. ..oran-
dum est ut sit mens sana in corpore
sano» – oder in einer gängigen Über-
setzung: «Betensolleman darum, dass
ein gesunder Geist in einem gesunden
Körper stecke.» Das Zitat ist alsokei-
nesfalls eineAufforderung zum Sport-
treiben und behauptet auch nicht, nur
in einemgesundenKörperkönne ein ge-
sunder Geist gedeihen.Vielmehr bringt
es die Ambivalenz des Sports hinsicht-
lich seinerRolle für das gute Leben des
Menschen zumAusdruck.
Tatsächlich widerspiegelt der Sport
zentrale und widersprüchliche Aspekte
des Menschseins und der Organisation
einer Gesellschaft:Sportlichkeit ist ein
moralisches Ideal, und gleichzeitig führt
der sportlicheWettbewerb oft zu Her-
dentrieb. Der Erfolg von Nationen wird
an sportlichen Siegen gemessen,und
ebenso soll Sportvölkerverbindend sein.
MancheSportler werdenMultimillio-
näre, während viele andere, unabhängig
von ihren Leistungen, kaum etwas da-
von haben. Und die ach so gesunden
Athletinnen und Athleten beenden ihre
Karrieren nicht selten in lädiertenKör-
pern und zuweilen auch mitgebroche-
nem Geist.


Sport und Gesundheit


Dies steht ineinem eigentümlichenKon-
trast zum heutigen Mantra in Gesell-
schaft undWissenschaft, wonach Sport-
treiben zu einem gesunden und guten
Leben gehört.
Gewiss haben wir viele Erkennt-
nisse,die einen positiven Zusammen-
hang zwischen Sport und Gesundheit
aufzeigen. Eine deutsche Langzeit-
studie, die Sporttreibende und Sport-
muffel während über 25 Jahren beglei-
tet hatte, fand etwa, dass 50-Jährige, die
sportlich aktiv sind, die Leistungsfähig-
keit voninaktiven 40-Jährigen über-
steigenkönnen. Diverse Untersuchun-
gen zeigen, dass nur schon derVerzicht
auf Lift undRolltreppe eine der effek-


tivsten Massnahmen zur Prävention
diverser Krankheiten ist.
Gewiss –regelmässige Bewegung
allein ist nochkein Sport im herkömm-
lichen Sinn, doch interessanterweisever-
lagert sich das alltägliche Bewegen der
Menschen zunehmend in den definier-
ten Bereich sportlicher Betätigung. Die
meisten Menschenbrauchen ihren Kör-
per im Alltag kaum mehr – dafür umso
intensiver imFitnessstudio, auf derJog-
ging-Strecke oder imTenniscourt.

Vom Kultischen zum Rationalen


Die Nebenwirkungen diesesTr ends sind
wohlbekannt. Phänomene des Spitzen-
sports wie Verschleisserkrankungen
oder Doping finden sich zunehmend
auch im Breitensport und hintertreiben
die Gesundheitsbemühungen. Doch
lässt sich dieFrage nach derRolle des
Sports für das gute Leben auf die Ge-
sundheitreduzieren?
Dies wäre wohl ebenso eineVerkür-
zung wie das genannte Zitat vonJuve-
nal. Gerade Intellektuelle fragen oft
grundsätzlicher:Was bringt einen Men-
schen dazu, in einem Oval wie von einer
Tarantel gestochen zu sprinten, um da
anzukommen, wo er vor rund einer
Minute gestartet ist?Warum jagen er-
wachsene Männer und zunehmend auch
Frauen während 90 Minuten einemBall
nach und sehen darin einen wesent-
lichen Sinn im Leben?
Der Soziologe Niklas Luhmann hat
denKörper und damit diekörperliche
Betätigung als Fluchtpunkt der Sinn-
losigkeit bezeichnet. Und der Schrift-
steller MartinWalser hat es so ausge-
drückt: «Sinnloser alsFussball ist nur
noch eins: Nachdenken überFussball.»
Doch so einfach sollte man es sich
auch nicht machen.Unbestritten
ist, dasskörperliche Bewegung eine
Grundkomponente des menschlichen
Daseins ist. Sie war zwingend für das
Überleben der Spezies und ist nachwie
vor unerlässlich, um selbst zum Men-
schen zu werden, denn unsere Gehirn-
struktur wird wesentlich durch Bewe-
gung geprägt.
Entsprechend finden sich aus anthro-
pologischer Sicht zahlreiche Befunde,
die auf eine kultische Einbindungvon
Bewegung in den Alltag von Menschen
schliessen lassen, was über die alltäg-
lichen Erfordernisse hinausgeht. Spiele,
Wettkämpfe undTanz symbolisierten

das Ringen zwischen Gut und Böse –
das sportliche Element war gewisser-
massen eingebettet in einen umfassen-
den kulturellenRahmen.
Diese Art der Einbettung des Sports
ist heute aber weitgehend verschwun-
den. Der moderne Sport ist ein Kind
der industriellenRevolution und da-
mit geprägt von Prinzipien wieRatio-
nalisierung, Quantifizierung, Rollen-
spezialisierung und dem Streben nach
Rekorden. Bemerkenswert ist da-
bei auch das ethischeMotiv, Chancen-
gleichheit zu erzielen.Das wirkt manch-
mal durchaus bizarr: Beim Start eines
100-Meter-Laufs etwa tun wir alles, da-
mitkein Unterschied entstehen kann.
Wir messen hochpräzis den Druck auf
den Startblock,damit niemand zu früh
startet – und nach 100 Metern messen
wir wieder so genau, damit eine Diffe-
renz entsteht.
Moderne digitale Technologien –
vonSensoren bis hin zuraffinierter
Auswertungssoftware – haben dabei im
Spitzensport eine geradezu erstaunliche
Durchdringung erreicht. Individuelle
Athleten werden in ihrer Tätigkeit aufs
Genauste vermessen. DerVerbund von
Bewegungswissenschaft, Sportphysio-
logie und Ernährungsforschung führt
dann zu ausgeklügelten Plänen, wie das
Tr aining –und das Leben – des Sport-
lers ausgestaltet sein soll. Über Mann-
schaftssportarten werden enorme Men-
gen statistischerDaten gewonnen, wel-
che dieIndividuen wie deren Zusam-
menspiel aufs Genauste erfassen.
Der Sport erweistsich dabeieinmal
mehr als einTr endsetter und Brennglas
einer Entwicklung,welche die moderne
Gesellschaft als Ganzes erfasst hat.
Unter dem Stichwort «Digitalisierung»
erleben wir gegenwärtig eineDurch-
dringung sozialer und wirtschaftlicher
Prozesse mit allerlei technischen Gerät-
schaften, welche diese mess- und ana-
lysierbar machen mit dem Zweck, die
Effizienz zu erhöhen.
Unter dem Stichwort «Quantified
Self» hat dieserTr end längst auch das
Individuum erreicht. Eine im vergan-
genenJahr veröffentlichte Studie von
TA-Swiss zu diesemThema schätzte,
dasses derzeit rund 4 00000 Apps gibt,
dieFunktionen in den BereichenLife-
style, Fitness, Sport und Ernährung ab-
decken.
Gerade besser gebildete Menschen
und solche mit höherem Einkommen

setzen Lifestyle- und Sport-Applika-
tionen überdurchschnittlich häufig ein


  • was insofern ironisch ist, als doch ge-
    rade eine höhereAusbildung das kriti-
    sche Bewusstsein über die zahlreichen
    mess- und analysetechnischen Probleme
    dieser Anwendungen schärfen sollte.
    Tatsächlich erfassen vieleApps nicht,
    was sie zu messen vorgeben – und auch
    der Schutz der dadurch gewonnenen
    persönlichen Datenist oft fragwür-
    dig. So bergen dieseTechnologien der
    Selbstvermessung nicht nur die Hoff-
    nung auf ein gesünderes und angeneh-
    meres Leben, sondern auch die Gefahr
    von Selbsttäuschung, Uniformierung
    undFremdkontrolle.


Die späte Befreiung


Diese Zusammenhänge bergen eine
interessantePerspektive für dieRolle
des Sports im guten Leben. Gerade weil
der Sport die Quantifizierung auf die
Spitze getrieben hat, zeigen sich dort
auch zunehmend ihre Schattenseiten.
Baseball-Spieler etwa beklagen, dass die
umfassendeVermessung ihrer Tätigkeit
dem Spiel seine Seele nehme – «es tö-
tet», wie derBaseball-StarJaysonWerth
im vergangenenJahr sagte.
Auch die jungen Athletinnen und
Athleten an der Sporthochschule in
Magglingen unterziehen sich dieser
Technisierung undVisualisierung – sie
werden zu vermessenen und gläsernen
Menschen. Zuweilen macht sich auch
hierein Unbehagen breit, denndie
Optimierung derkörperlichen Leistung
nimmt dem Sport eine wesentlicheKom-
ponente, nämlich die derreinenFreude
an Bewegung, ohne Ziel und Absicht –
das freie Spiel der eigenen Kräfte.
Nicht wenige Leistungssportler ma-
chen nach dem Ende ihrer Karriere
dieseWiederentdeckung ihres Sports
jenseits der quantitativenDurchdrin-
gung.Sie finden im Sport wieder eine
Sinnhaftigkeit,die ihremWesen ent-
spricht. Sokönnte dereinst der Sport,
heuteVorreiter der digital beschleunig-
ten Quantifizierung derWelt, diese auch
wieder aus diesemWahn befreien.

Walter MengisenundMarkus Christensind
studiertePhilosophen und treiben aktiv Sport.
Die 10 .BielerPhilosophietage loten vom
14. bis zum 17 .November inMagglingendas
SpannungsfeldzwischenSportundPhiloso-
phieaus.www.philosophietage.ch

Spielfreudeund Sportbegeisterungsind keineFrage des optimalen Schuhwerks. CARL RECINE /REUTERS


Handke, Rau


und Domingo


Im Jubiläumsjahr zeigt Salzburg
engagiert umstrittene Künstler

BERND NOACK,SALZBURG

Die Salzburger Festspielehalten an
Peter Handkefest. Ungeachtet der an-
haltenden Kritik am Nobelpreisträger
wird es imkommendenJahrmit dem
Auftragswerk «ZdenekAdamec» eine
Uraufführung beim Festival geben.
Bei derVorstellung des Programms für
das 100-Jahr-Jubiläum der Festspiele
2020 sagte deren Schauspielchefin Bet-
tina Hering: «Dies wird eine ideale Ge-
legenheit sein, sich mit demWerk dieses
Autors auseinanderzusetzen.»
Das Stück, lange vor derimZusammen-
hang mit dem Literaturnobelpreis wieder
aufgekeimten Diskussion über Handkes
poetisch-politische Einlassungen zurRolle
Serbiens imBalkankrieg beimAutor be-
stellt, dreht sich um den TschechenAda-
mec, der sich 2003 auf demWenzelsplatz
in Prag öffentlich verbrannte. Die titel-
gebendeFigur aber taucht gar nicht auf,
vielmehr werden er und seineVerzweif-
lungstat in einer Art Suchbewegung von
den Spielern eingekreist.
Für RegisseurinFriederike Heller,
die schon einige frische Handke-Stücke
auf die Bühne brachte, feiert derText
einmal mehr und trotz tödlichemFinale
die Sprache als ein Instrument derVer-
söhnung und derVerständigung. Nur
mit und durch sie, meinte Heller, könne
es zu einem Zusammenlebenkommen:
«Ich sehe da ein utopisches Moment.»

«Jedermann» und füralle


Weniger Utopie als Rückblick und
Standortbestimmung sind die Merkmale
der SalzburgerFestspiele, die imkom-
mendenJahr auf ihreGründung vor hun-
dertJahren durch MaxReinhardt, Hugo
von Hofmannsthal und Richard Strauss
zurückblicken.Kunst- und Bürgerfeste
wirdesimSommer geben–und die Idee,
dass «Jedermann» gemeint ist, wenn das
Kulturspektakelmit 222Aufführungen
in 44Tagen über 15 verschiedene Büh-
nen geht, wird grossgeschrieben.
Eine «Begeisterungsgesellschaft»
wünscht sich denn auch HelgaRabl-
Stadler, die Präsidentin derFestspiele,
und will Salzburgganz im SinneRein-
hardts zur «Weltkunstzentrale» ausrufen.
Patriotisch gesinnt, fügte sie wünschend
hinzu, dass sich aber auch das kleine
Österreich in diesenWochen auf «Identi-
tät und Selbstbewusstsein» besinne. Fünf
sz enische Neuproduktionenstehen den
Opernbesuchern bevor: «Elektra», «Don
Giovanni», «Tosca», «Boris Godunow»
und Luigi Nonos «Intolleranza1960»;
alsRegisseurekonntenunter anderem
Romeo Castellucci, Christof Loy undJan
Lauwers gewonnen werden. In derWie-
deraufnahme der «Zauberflöte» wird
die DirigentinJoana Mallwitz dieWie-
ner Philharmoniker leiten.
Im Schauspiel gibt es neben Handke
eine weitere Uraufführung: MiloRau
untersuchtin«Everywoman» mit Ursina
Lardi die weibliche Sichtweise auf die
Probleme des «Jedermann», jenes ewig
Irrenden, der seit der Erfindung derFest-
spiele mit kurzen Unterbrechungen auf
dem Domplatz den Sinn des Lebens und
desTodes sucht.

Mit allenSchnörkeln


Die Überraschung ist hier vielleicht, dass
man sich weder zu einerNeubearbeitung
der alten Inszenierung noch überhaupt zu
einer textlichen und inhaltlichen Entstau-
bung des barock-verschnörkelten Stückes
durchringenkonnte.Dafür wirdJossi
Wieler das selten gespielteWerk «Das
Bergwerk zuFalun» von Hofmannsthal
herausbringen. Explizit anreinhardtsche
Vorlieben erinnern schliesslich die Insze-
nierungen von Shakespeares «Richard
III.» (Regie: Karin Henkel) und Schil-
lers «Maria Stuart» (Regie: MartinKusej).
Nicht nurPeter Handke übrigens hält
man nun also in Salzburg dieTr eue, auch
einen weiteren ins Gerede geratenen
Künstler will man hier nicht fallenlas-
sen. Sie habe Plácido Domingo stets als
einen integren Star erlebt, meinteRabl-
Stadler.Also wird er trotz den gegen ihn
erhobenen Missbrauchsvorwürfen in
Verdis «I vespri siciliani» zu hören sein.
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