Neue Zürcher Zeitung - 14.11.2019

(Marcin) #1

Donnerstag, 14. November 2019 INTERNATIONAL


Parlamentarier setzen


AfD-Politiker ab


Einzigartiger Vorgang in der Geschichte des Bundest ages


ANNA SCHNEIDER, BERLIN

Der AfD-Abgeordnete Stephan Brand-
ner ist nicht mehrVorsitzender des
Rechtsausschusses des Deutschen Bun-
destages. Erwurde amMittwoch mit den
Stimmen von CDU und CSU, SPD, FDP,
Grünen und Linken abgewählt.
«Brandners unsäglicheTweets,seine
dauernden Provokationen und sein Des-
interesse anrechtspolitischer Sacharbeit
haben diesen Schritt unumgänglich ge-
macht», sagteJohannesFechner, rechts-
politischer Sprecher der SPD-Bundes-
tagsfraktion, nach der Sitzung zur NZZ.
«Leider hat die AfD Brandner bis zuletzt
gestützt, was zeigt, dass siekeine bürger-
lichePartei ist.» Ähnlich äusserte sich
der CDU-Abgeordnete Ansgar Heve-
ling.Brandner habe durch seinVerhal-
ten gezeigt, dass er nicht in derLage sei,
denAusschuss adäquat zurepräsentieren,
sagte er. «Die AfD wurde mehrfach dar-
auf hingewiesen, dass dasVerhältnis zwi-
schen Brandner und einem grossenTeil
desAusschusses zerrüttet sei undkein
Vertrauen mehr bestehe. Doch die AfD
nutzte die Gelegenheit nicht, denVorsitz
jemand anderem zu übertragen.»
Auslöser für die Abwahl waren rhe-
torische Entgleisungen des 53-jährigen
Juristen im Netz. Zuletzt hatte er auf
Twitter dieVerleihung des Bundesver-
dienstkreuzes an den–AfD-kritischen


  • Rocksänger Udo Lindenberg als «Ju-
    daslohn» bezeichnet. Nach demTerror-
    anschlag von Halle hatte er, ebenfalls auf
    Twitter, einFoto des jüdischen Publizis-
    ten MichelFriedman geteilt und diesen
    als «deutschen Michel» verunglimpft.


Die Abwahl desVorsitzenden eines
Ausschusses ist ein Novum in der 70-jäh-
rigen Geschichte des Bundestags. «Es ist
uns nicht leichtgefallen, und besserwäre
es gewesen, es wäre nicht nötig gewe-
sen», sagte der FDP-Abgeordnete Marco
Buschmann. Die Geschäftsordnung sieht
nur vor, dassAusschüsse ihreVorsitzen-
den selbst wählen. Hiermit hatte sich
vergangeneWoche der zuständige Ge-
schäftsordnungsausschuss des Parla-
ments beschäftigt und festgestellt, dass
deshalb eine Abwahl möglich sei.

Dies sieht Brandner anders. Er zeigte
sich empört über dasVorgehen.Dadie
Abberufung einesVorsitzenden in der
Geschäftsordnung nicht ausdrücklich
geregelt sei, bedürfe es einer Entschei-
dung des gesamten Bundestags, meinter.
Dieser Entscheidung sei derAusschuss
mit seinerAbwahl zuvorgekommen.Das
Thema ist für die AfD nicht vomTisch,
sie will es am Donnerstag auf dieTages-
ordnung setzen.Wen die AfD statt Brand-
ner für denAusschussvorsitz nominiert,
ist offen. In der Zwischenzeit übernimmt
der stellvertretendeVorsitzende,Heri-
bert Hirte von der CDU,das Amt.

Stephan Brandner
Abgeordneter
PD der AfD

Der Mann, der Trump gefä hrlich werden könnte

Der ehemalige Staatsanwalt Ad am Schiff leitet die Impeachment-Untersuchung des Repräsentantenh auses


ANDREASRÜESCH


Als die Kameras der grossen amerikani-
schenFernsehsender am Mittwoch die
erste öffentliche Anhörung im Amts-
enthebungsverfahren gegen Präsident
DonaldTr umpinsganzeLandüber-
trugen, standen nicht nur die Zeugen
im Scheinwerferlicht.Viel hängt in den
kommendenWochen auch vom Mann
in der Mitte der Abgeordneten-Tribüne
ab –Adam Schiff. Der Demokrat aus
Kalifornien leitet die Impeachment-
Ermittlungen und wird voraussichtlich
nächsten Monat demRepräsentanten-
haus einen Bericht abliefern, auf dessen
Grundlage dann über eineAnklage ent-
schieden wird.
Schiff ist damit zum öffentlichen Ge-
sicht einer Untersuchung geworden,
dieTr umpregelmässig als Hexenjagd
brandmarkt.Keinen anderenPolitiker
der DemokratischenPartei deckt er mit
derart vielen Beleidigungen ein wie den
59-jährigenVorsitzenden des Geheim-
dienstkomitees. Er verunglimpft ihn als
korrupt, als«Lügen-Desaster» und als
Schande für dasLand, macht sich über
SchiffsÄusseres («Bleistift-Hals») lus-
tig und tituliertihnam liebsten mit dem
Schimpfnamen «Shifty Schiff» (durch-
triebener Schiff). Wenn nicht alles
täuscht, ist jedoch gerade dieserFuror ein
Zeichen dafür, dass der Präsident in ihm
einen ernstzunehmenden Gegner sieht.


Beherrscht und ruhig


Der Gegensatz zwischen den beiden,
in Stil und Inhalt,könnte kaum grösser
sein. Schiff pflegt das Image eines stets
beherrscht und ruhig argumentieren-
den Staatsdieners. Pointiert, aber ohne
übertriebenePolemik hat er in den ver-
gangenenWochen dieVorwürfe gegen
Tr ump in der Ukraine-Affäre dargelegt.
Der Zufall will es, dass die Ermittlungen
von einem früheren Staatsanwalt gelei-
tet werden – Schiff arbeitete bis zu sei-
nem Einstieg in diePolitik in den neun-


zigerJahren in der Zweigstelle der Bun-
desanwaltschaft von Los Angeles. Dem
Repräsentantenhaus gehört er seit 2 001
an; er vertritt einen wohlhabenden
Wahlkreis amRande von Los Angeles,
der auch Hollywood umfasst. Sein juris-
tischer Hintergrund – er verfügt über
Abschlüsse der Universitäten Stanford
und Harvard – erweist sich als hilfreich,
wenn es darum geht, der Öffentlichkeit
die Brisanz vonTr umpsVerhalten in der
Affäre zu erläutern.
So hat er beispielsweise in einfachen
Worten erläutert, weshalbTr umpsFor-

derung nach ukrainischen Ermittlun-
gen gegen den innenpolitischen Rivalen
Joe Biden denTatbestand derKorrup-
tion erfüllenkönnte. DasAngebot einer
Amtshandlung (die Leistung von Mili-
tärhilfe) imTausch gegen einen Gefal-
len (Wahlhilfe) ist in dieser Sichtweise
nichts anderes als Bestechlichkeit. Letz-
teres wiederum zählt gemäss der ameri-
kanischenVerfassungzujenenVerbre-
chen, die ein Amtsenthebungsverfahren
rechtfertigen.
Hinter derFassade des charmant
lächelnden Abgeordneten blitzt aller-

dings immer wieder ein verbissener
parteipolitischer Grabenkämpfer her-
vor. Schiff machtkein Hehl aus seiner
Verachtung für den Präsidenten, und
mit Geringschätzung straft er auch seine
republikanischenKollegen im Geheim-
dienstkomitee. Noch vor einemJahr-
zehntgalt dieses Gremium als Hort der
überparteilichen Zusammenarbeit, wo
rationale Argumente im Dienste der
nationalen Sicherheit denAusschlag
gaben. Schiff und der ranghöchste
Republikaner in demAusschuss, Devin
Nunes, sind einander jedoch spinne-

feind. DerVorsitzende ist daran nicht
unschuldig; er lässt dieRepublikaner
seine Macht auf kleinlicheWeise spü-
ren, etwa wenn dieWebsite des Ge-
heimdienstkomitees nur in einer win-
zigenFussnote einen Link zu den Stel-
lungnahmen derAusschussminderheit
aufführt.

SelbstverschuldeteWunden


Schiff hat in seinem politischen Kampf
auch wiederholt dummeFehler began-
gen. Nachdem er anfänglich behauptet
hatte,seinKomitee habekeinenKontakt
zum anonymen Hinweisgeber, der die
Affäre insRollen gebracht hatte, musste
er sich späterkorrigieren. Schwere Kri-
tik zog er auchauf sich,als er in einer
Komiteesitzung die Beweislage gegen
Tr ump auf grob irreführendeWeise zu-
sammenfasste.
Dennoch ist sein politischer Stern
mit der Impeachment-Untersuchung
eindeutig im Steigen begriffen. Schiff
geniesst denRückhalt der Speakerin
NancyPelosi,die hinter denKulissenda-
für gesorgt hat, dass die federführende
Rolle vom Geheimdienst- und nicht
vomJustizkomitee übernommen wird.
Letzteres steht unter demVorsitz des
eigenwilligen NewYorkersJerry Nad-
ler, der mit der Speakerin nicht immer
am selben Strick zieht. Nicht nurkommt
Schiff wiePelosi aus Kalifornien, er ge-
niesst auch eine gewisse Nähe zu ihr,
weil sie selber einst im Geheimdienst-
komitee Karriere gemacht hatte.Wie
Pelosi gehört Schiff zu jenem Flügelder
DemokratischenPartei, der lange Zeit
vor einemüberstürzten Impeachment-
Verfahren warnte. Seit demAusbruch
der Ukraine-Affäre unterstützt er die
ForderungnachTrumps Absetzung je-
dochvehement.AufseinenSchultern
lastet die Erwartung derPartei, dass es
ihm gelingen wird, das öffentliche Spek-
takel wochenlanger Hearings in eine
scharfeWaffe gegen den Präsidenten
zu verwandeln.

Adam Schiffmacht aus seinerVerachtungfür PräsidentTrump kein Geheimnis. CHARLES REX ARBOGAST /AP

Olaf Scholz punktet im Rennen


um den SPD-Vorsitz


Der Erfolg bei der Grundrente bri ngt Kritiker der grossen Koalit ion in Argumentationsnöte


HANSJÖRG MÜLLER, BERLIN


Am Dienstagabend trafen die verbliebe-
nen Kandidaten für dasParteipräsidium
der deutschen Sozialdemokraten in einer
Debatte aufeinander. Deutsche Medien
berichteten ebensoreisserisch wie ste-
reotyp von einem «Duell», tatsächlich
handelte es sich aber umkeinen Zwei-
kampf, denn es waren zweiPaare, diesich
gegenüberstanden: auf der einen Seite
die frühere brandenburgische Land-
tagsabgeordnete Klara Geywitz, die zu-
sammen mit demFinanzminister und
Vizekanzler Olaf Scholz antritt; auf der
anderen die baden-württembergische
Bundestagsabgeordnete Saskia Esken
und der frühere nordrhein-westfälische
FinanzministerNorbertWalter-Borjans.
Es ist das erste Mal, dass die SPD ihr
Parteipräsidium in einem Mitgliederent-
scheid bestimmt; in der ersten Abstim-
mungsrunde lagen Geywitz und Scholz
nur knapp vor Esken undWalter-Bor-
jans; dasRennen gilt nach wie vor als
offen. Esken undWalter-Borjans, die als
Kandidaten des linkenParteiflügels gel-
ten, haben die Unterstützung derJung-
sozialisten unddes mächtigennordrhein-
westfälischenLandesverbands.


Scholz imAngriffsmodus


FührendeMitgliederder Bundespartei
wie dieFamilienministerin Franziska
Giffey und derAussenminister Heiko
Maas haben sich dagegen für Geywitz
und Scholz ausgesprochen, die als Prag-
matiker gelten, aber auch für eineFort-
setzung der grossenKoalition. Esken


undWalter-Borjans stehen derKoali-
tion eher skeptisch gegenüber, vermie-
den es aber auch am Dienstagabend, sich
in derFrage festzulegen.
Vor allem Scholz gab sich in der
Debatte, die von derPartei über Live-
Stream übertragen wurde, ungewohnt
angriffig. Die Einigung über die Einfüh-
rung einer Grundrente, welche die Spit-
zen derKoalitionsparteien am Sonn-
tag erzielt haben, spielte ihm dabei in
die Hände.Auch neutrale Beobachter
sind der Ansicht, dass sich die SPD bei
der Grundrente gegenüber der Union
durchgesetzt habe. Esken undWalter-
Borjans stellte dies vor ein Problem:
Wenn die SPD gerade einen riesigen
Erfolg errungen habe, sei es sinnlos, ihn
kleinzureden, so wurdeWalter-Borjans
von Scholz ausgekontert, als er an dem
Kompromiss herummäkelte und andeu-
tete, die Sozialdemokraten hätten noch
mehr erreichenkönnen.
Mit der Grundrente ist den Kritikern
vom linken Flügel der SPD, die meinen,
dieParteikönne in derRegierung nichts
erreichen, ihr wichtigstes Argument ab-
handengekommen.Auch mit anderen
Themen vermochten Esken undWalter-
Borjans nicht zu punkten; argumentativ
standen sie wieder und wieder mit lee-
ren Händen da. Als Esken der Bundes-
regierung und damit auch Scholz man-
gelnde Bemühungen beim Klimaschutz
vorwarf, verwies derFinanzminister dar-
auf, das Klimapaket sei von der SPD-
Fraktion fast einstimmig beschlossen
worden. So viel sei in den vergangenen
Jahren schlechtgeredet worden, dass die
Partei davon krank geworden sei, sagte

Scholz. So gelang es ihm, sich selbst als
verantwortungsbewussten Exekutivpoli-
tiker darzustellen, während seineKon-
trahenten als sauertöpfische Besserwis-
ser dastanden.

CDU scheint nichtunsc hlagbar


Das Momentum, so schien es zumindest
am Dienstagabend, liegt nun aufder Seite
von Klara Geywitz und Olaf Scholz.Auch
die Entwicklungen beimKoalitionspart-
ner spielen den beiden in dieHände:
Dass Annegret Kramp-Karrenbauer, seit
knappeinemJa hr CDU-Chefin, bisher
kaum zuüberzeugen vermochte, gibt den
Sozialdemokraten neue Hoffnung.
Jeschlechter dieLage für die Union
aussieht, desto eherkönnte SPD-Mit-
gliedern, die sich mental bereits auf eine
Erneuerung ihrerPartei in der Opposi-
tion eingestellt hatten, bewusst werden,
dass die SPD womöglich doch noch eine
Chance hat, in absehbarer Zeit wieder
einen Kanzler zu stellen. Mit dem Prag-
matiker Scholz als Kanzlerkandidaten,
der auch in der Mitte punktenkönnte,
dürfte sich diese Chance am ehesten
nutzen lassen. Die CDU scheint nicht
mehr unschlagbar. In einer Umfrage
darüber,wen sich die Deutschen als
Kanzler wünschen, schnitt Scholz kürz-
lich weit besser ab als die CDU-Chefin.
Bis am 29.Novemberkönnen die
SPD-Mitglieder entscheiden, wer die
Partei künftig führen soll. Gewählt wer-
den die neuenVorsitzenden amPartei-
tag Anfang Dezember, doch gilt als si-
cher, dass die Delegierten dann dem
Votum der Mitglieder folgen.
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