Neue Zürcher Zeitung - 14.11.2019

(Marcin) #1

Donnerstag, 14. November 2019 INTERNATIONAL


Bolivien hat eine Interimspräsidentin

Die oppositionelle Senatorin Jeanine Áñez übernimm t mit Billigung der Justiz die Nachfolge von Evo Morales


PETERGAUPP,SAN JOSÉ DE COSTA RICA


Mit Ach und Krach ist das politische
Vakuum, das in Bolivien seit dem über-
raschendenRücktritt des Präsidenten
Evo Morales am Sonntag herrschte, am
Dienstag gefüllt worden.Als Interims-
präsidentin amtiert jetzt die 52-jährige
SenatorinJeanine Áñez.Voraus ging
ein Spruch desVerfassungsgerichts,wo-
nach Áñez nach den Demissionen des
Staatspräsidenten, desVizepräsidenten
sowie der Senatsvorsitzenden alsVize-
präsidentin des Senats automatisch ins
vakante Amt des Staatschefs nachrückt.


Es sei unerlässlich, dass die Exekutiv-
funktion angesichts der schwierigen
sozialen und politischenLage ununter-
brochen gewährleistet sei, erklärten die
hohen Richter.
Die Zeremonie der Amtsübernahme
er folgte in einer wenige Minuten dau-
ernden Sitzung desParlaments inLa
Paz, die von den Abgeordneten und
Senatoren des bisherregierenden Movi-
mientoal Socialismo (MAS), die in bei-
den Kammern eine Zweidrittelmehrheit
stellen, boykottiert wurde.Angetan mit
der Präsidentenschärpe in denrot-gelb-
grünenFarben der bolivianischen Natio-
nalflagge begab sich die Interimspräsi-
dentin danach vomParlamentsgebäude


in den benachbartenPalacio Quemado,
den historischen Sitz des Staatschefs. In
einer kurzen Ansprache sagte Áñez, es
sei ihreAufgabe, dem Land die Demo-
kratie zurückzugeben. Zu diesem Zweck
werde sie sorasch wie möglich Neu-
wahlen einberufen. Die Bolivianer ver-
dienten es, in Freiheit und Demokra-
tie zu leben; nie mehr dürfe ihnen ihre
Stimme geraubt werden.Das verfälschte
Wahlergebnis vom 20. Oktober war der
Auslöser der massiven Proteste, die zum
Sturzvon Morales führten.
Zunächst muss die Präsidentin ein
provisorisches Kabinett berufen, um
nach den wochenlangen Unruhen den
Regierungsapparat wieder zumLau-
fen zu bringen. Am Dienstagkehrte
im Land weitgehendRuhe ein, nach-
dem in denTagen zuvor noch gewalt-
tätigeKundgebungen und Zusammen-
stösse stattgefunden hatten. Insge-
samt haben dieAusschreitungen seit
dem 20. Oktober laut offiziellen Zah-
len siebenTote und mehrere hundert
Verletzte gefordert.

ZweiteFrau an derStaatsspitze


JeanineÁñez stammt aus der zumAma-
zonasbecken gehörendenRegion Beni
im Norden Boliviens. Sie istJuristin
mit Diplomenin öffentlicherVerwal-
tung und höherem Bildungswesen. 2006
wurde sie in dieVersammlung gewählt,
welche die seit 2009 geltendeVerfas-
sung ausarbeitete; seither vertritt sie ih re
Region im Senat, zuletztfür die liberal-
konservativePartei Movimiento Demó-
crata Social. Áñez ist die zweiteFrau

an der Spitze Boliviens. 1979 und 1980
amtierte nach einem Militärputsch Lidia
Gueileracht Monatelang als provisori-
sche Präsidentin,bis sie durch einen wei-
teren Staatsstreich abgesetzt wurde.
Laut Morales, seinenParteigängern
und seinenSympathisanten imAusland
ist auch die jetzige provisorische Prä-
sidentin durch einen Putsch ins Amt
gekommen. In diesemFall ist freilich
in Rechnung zu stellen, dass bereits
Morales’erneute Kandidatur in die-
sem Jahr gegen dasResultat eines von
ihm selber gewünschten Plebiszits von
2016 verstossen hatte und dass er nun

das für ihn ungünstigeWahlresultat ver-
fälschen liess. Die Armeeführung emp-
fahl ihm die Demission erst, nachdem
seine Stellung durch die massiven Pro-
teste der Bevölkerung bereits unhaltbar
geworden war.

Morales in der Opferpose


Auf denWink der Generälereagierte
Morales schnell mit der Flucht ins Exil
nach Mexiko, obwohl er sich bereits in
seiner politischen Hochburg in der Pro-
vinz Chapare in Sicherheit gebracht
hatte , wo sein Leben kaum gefährdet

war, wie er behauptet.Das nicht erzwun-
gene Exil erleichtert es Morales, sich mit
grösserem internationalem Echo als Op-
fer einer zivil-militärischenVerschwö-
rung darzustellen. Er macht auchkein
Geheimnis daraus,dass er seine politi-
sche Karriere in Bolivien nicht für be-
endet erachtet.
Für die Befriedung desLandes wäre
es vermutlich besser gewesen, wenn
Morales nicht der Rücktritt nahe-
gelegt worden wäre, da er bereits zuge-
sagt hatte, die verfälschtenWahlen zu
annullieren und einen neuen Urnen-
gang unter einer neu zu bestimmenden
Wahlbehörde anzuordnen.Jetzt hängt
viel davon ab, wie sich der MAS verhal-
ten wird. Boykottiert die seit 13Jahren
stärkstePartei Boliviens diekommen-
den Wahlen, werden es die künftige Le-
gislative und Exekutive schwer haben,
sich als legitime Instanzen zu behaup-
ten. Stellt sich Morales’Partei zurWahl,
wird sie zweifellos eine starke Stellung
behaupten und diekeineswegs einheit-
liche bisherigeOpposition dazu zwin-
gen, zusammenzuhalten.
Um ein Comeback zu erreichen,
muss Morales nicht unbedingt wieder
Präsident sein.Andere Muster sind zum
Beispiel in Argentinien zu beobachten,
wo Cristina Kirchner alsVizepräsiden-
tin demnächst wieder dieFäden ziehen
wird, oder in Brasilien, wo Luis Inácio
«Lula» da Silva trotz verhinderterWie-
derkandidatur nach 2011 sowieVerur-
teilung und Gefängnisaufenthalt wegen
Korruption der populärstePolitiker der
Linken geblieben und wieder im Ge-
spräch als Präsidentschaftsanwärter ist.

Jeanine Áñez will soraschwie möglichNeuwahlen durchführen. REUTERS

Ein wirklicher Putsch
sieht anders aus
Kommentar auf Seite 13

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