Neue Zürcher Zeitung - 14.11.2019

(Marcin) #1

Donnerstag, 14. November 2019 INTERNATIONAL


Ein Wirtschaftszweig auf Frauenschultern


Zwischen der spanischen Exkl ave Melilla und Nordmarokko halten rund 30 000 Frauen einen schwunghaften Handel aufrecht


SUSANNE KAISER, MELILLA


Die Grenze ist eineWelt für sich, ein
kleiner, wimmelnderKosmos. Es istFati-
masWelt. Hier verbrachte die 33-Jährige
fast ihr halbes Leben, hier bekam sie
ihren ersten Sohn,hier schläft sie nachts
zusammen mitTausenden von anderen
Frauen. Die wenigstenkennt sie.
Abends gegen sechskommtFatima
aus der nordmarokkanischen Stadt Na-
dor zum Grenzübergang, der die spani-
sche Exklave Melilla mit Marokko ver-
bindet.Vier Tage dieWoche von Mon-
tag bis Donnerstag. Sie reiht sich in die
Schlange ein und wartet zwölf Stunden,
denn «wer zu spätkommt, macht auch
keineTour,dafür gibt es hier zu vielKon-
kurrenz», erklärt sie. Deshalb verbringt
Fatima die Nacht auf der Strasse. So
wie rund 30000 andere Schmugglerin-
nen jedenTag. Niemand an der Grenze
hört gerne dasWort Schmuggel, nicht
die Grenzbeamten, nicht die Händler
und am wenigsten die Schmugglerinnen
selbst. Sie nennen sich schlicht «Portea-
doras», mit dem spanischen Begriff für
«Trägerinnen».
Fatima kennt das Geschäft wie kaum
eine andere. Seit fünfzehnJahren arbei-
tet sie schon alsTrägerin. «Das machst
du nur, wenn dukeine Wahl hast», sagt
sie. Fatima hatkeineWahl.Sie muss ihre
Familie ernähren. Einen anderen Beruf
hat sie niegeler nt, sie ist mit dem Grenz-
handel gross geworden.


Wettlauf um dieWaren


Die Grenze öffnet.Das Schubsen und
Drängeln beginnt, jede derFrauen will
ganz vorne sein. Immer wieder gibt es
Tote durch das Gedränge, Fatima hat
das schon öfter erlebt.Sie s elbst ist nur
knapp schlimmerenVerletzungen ent-
gangen. Einmal hat sie sich das Bein ge-
brochen undkonnte vier Monate lang
nicht aufstehen. Seitdem humpelt sie.
Das merkt man besonders in jenem
Moment, wenn Fatima die Grenz-
kontrollen passiert hat und drüben in
Melilla ist:Nun beginnt derWettlauf der
Frauen um dieWaren.
Das Zeitfenster für ihr Geschäft ist
kurz, nur zwischen sechs Uhr morgens
undzwölfUhrmittagsdürfenGüterüber
dieGrenze.«WennduzuspätbeimLager
ankommst, haben andereFrauen schon
alles geschultert, und du musstohne
Lohn nach Hause gehen», sagt Fatima.
Sie ist stark und weiss ihre Ellbogen ein-
zusetzen,deshalbbekommtFatimameis-
tens einen derLastensäcke, fünfzig bis
hundert Kilogramm schwer. Mindestens
zwei Männer sind nötig, um dasPaket
auf ihre Schultern zu hieven. Dann hum-
pelt Fatimalos,mitschwankendemGang
langsamRichtung Grenze. Die Lasten
sind so riesig, dass die gekrümmteTräge-
rin darunter einfach verschwindet.
Was genau sie transportiert, weiss
Fatima nicht, die Säcke sind gut ver-
schnürt, und sie kann weder lesen noch
schreiben. Meistens sind es unspektaku-
läreDingewieSchuhe,Decken,Kleidung,
Kosmetik- und Elektroartikel.Alles, wo-
von es auf der anderen Seite zu wenig
gibt oder was verboten ist. Seit neues-
tem sind Plastiktüten ein Exportschla-
ger, durch den Plastikbann in Marokko.
Der Handel folgt einem ausgeklügel-
ten System: Ein Händler in Nador kauft
in Melillaein. Er schickt dazu einen
Mittelsmann zumLagerhaus mit einem
«Ticket», einem StückPapier, auf dem
Stückzahl und Kaufpreis der Produkte
vereinbart sind. Der Mittelsmann be-
zahlt und übergibt das geschnürtePaket
zusammenmitdemTicketaneineTräge-
rin.SieschlepptdieLastüberdieGrenze.
Dort fährt ein Lieferwagen diePakete
weiter nach Nador. Dafür bekommt die
Trägerin zwischen 10 und 20 Euro Provi-
sion. Das ist ihrTagesverdienst.
In derWelt derTrägerinnen dreht
sich alles um dieSchlange vor dem
Grenzübergang. Hier verbringtFatima
einen grossenTeil ihrer Zeit. Stunden-
lang wartet sie in brütender Hitze oder
wenn es schüttet. Es gibtkeinen Schat-
ten, es gibtkeinen Schutz,keine Toi-
letten und nichts zu trinken. Da liegen


die Nerven blank. MancheFrauen sind
hochschwanger oder krank,aber aus der
Reihe tanzen dürfen sie deshalb nicht.
Fatima leuchtet das ein: «Denn sonst
würden jaalle sagen,ich bin krank.»Das
ist die Logik der Schlange.
Wer aus derReihe tritt, bekommt
den Schlagstock derPolizei zu spüren.
Fatima findet das richtig. «DiePolizei
muss ihre Arbeit machen, damit alles
glatt läuft.»Jede Frau habe es ja selbst
in der Hand, sich anständig zu beneh-
men .Eine andere Behandlung hat sie
nie kennengelernt.

Für die Regionlebenswichtig


Dass dieFrauen überhaupt dieWaren
überdieGrenzeschmuggelndürfen,vor-
bei an den Grenzschützern und vorbei
am Zoll,liegt an einer Lücke imSystem:
Nach der marokkanischen Zollbestim-
mung darf Handgepäck zollfrei passie-
ren – was amKörper getragen werden
kann, darf hinüber.Wie gross und wie
schwer, dazu sagt dieRegelung nichts.
Ob die Lücke absichtlich besteht oder
zufällig,ist schwer zu sagen.Der Handel
istalsogenaugenommennichtillegalund
wird etwas verklausuliert auch «atypi-
sches Geschäft» genannt.Weil Melilla
undNordmarokkovondemGeschäftle-
ben, wurde es von staatlicher Seite bis-
her zumindest geduldet.
Doch nun berichten Beobachter vor
Ort, dass Marokko das Grenzgeschäft
womöglich verbietenkönnte. Offiziell
hat sichRabat noch nicht dazu geäus-
sert. Immer wiederkommt es aber zu
Unterbrechungen, mal wird ein Grenz-
übergang vorübergehend geschlossen,
mal darf einen ganzenTag lang nir-
gendwoeineTrägerinmit Lastensack
passieren.Für dieFrauen und für die
beiden Grenzregionen wäre einVerbot
des Grenzgeschäfts ein schwerer Schlag.
«Melilla und Nordmarokko brauchen
diesen Handel dringend», sagt die Stadt-
historikerin Sofie Steinberger. Sie er-
forscht dieAlltagsgeschichte der beiden
Grenzstädte Nador und Melilla.«Was
wir hier sehen, ist dieSynergie zwischen
zwei vergessenenRegionen.» Melilla
lebte früher vom Handwerk und von der
Industrie, bis der Sektor zu grossenTei-
len wegbrach. Heute liegt die Arbeits-
losigkeit bei über 25 Prozent.Die kleine

spanische Exklave lebt schonlange fast
ausschliesslich vom Grenzhandel.«Weil
die Bestechungsgelder hoch sind, wer-
den die marokkanischen Grenzbeam-
ten in einemRotationssystem einmal
im Jahr ausgetauscht.Wer an der Grenze
eingesetzt wird,der wird quasi belohnt»,
erklärt Steinberger.
Auf der anderen Seite des Zauns
sieht es nicht anders aus. Die nord-
marokkanische Rif-Region ist seit je
strukturschwach. «In Nador gibt es
keine Waren, keine Fabrik, nichts.Alles
kommt aus Melilla», sagt Fatima, die ihr
ganzesLeben in derGrenzregion ver-
bracht hat.Sie kam schon als Kind in die
spanische Exklave, um Kaugummis zu
verkaufen. Damals, vor dem Zaun, war
das noch völlig unproblematisch. Heute
ist es umgekehrt, sie bringt die Dinge in
die andere Richtung.
Nordmarokko bringt der inoffi-
zielle Gütertransfer Arbeit, Geld und
selbst wiederum Bedeutung alsWaren-
umschlagplatz für dieRegion um Na-
do r. Rund 400000 Menschen hängen
indirekt von der Arbeitder Trägerinnen
in Melilla und in Ceuta ab, wo es den
Grenzhandel ebenfalls gibt. DieFrauen
ernähren also allein fast ein Zehntel der
gesamtenBevölkerunginNordmarokko.
Als Marokko im Sommer 2018 Last-
wagenmitGüternausMelilladieEinfuhr
verweigerte, gewann die Arbeit derTrä-
gerinnen zusätzlich an Bedeutung.Viele
derWaren, die sonst von LKW transpor-
tie rtwurden,werdenseithervondenTrä-
gerinnen über die Grenze gebracht.

Schleppen auch bei Krankheit


Den Handel gibt es schon seitJahr-
zehnten. Nordmarokko wurde traditio-
nell über Melilla mitWaren versorgt,ein
Relikt aus derKolonialzeit. Doch seit
einiger Zeit versucht Marokko sich wirt-
schaftlich unabhängiger zu machen und
baut in grossemStil die Häfen an der
Mittelmeerküste aus. Schiffe mitWaren-
containern sollen dort direkt anlegen,
nicht mehr in Melilla. Die Exklave hat
dadurch ihre Bedeutung als Umschlag-
platz mehr und mehr eingebüsst. Ihre
einzige Einnahmequelle aus dem un-
verzollten «Export» kann sie nur mit
Mühe und nur dank derTrägerinnen
aufrechterhalten.

Ursprünglich war das Grenzgeschäft
die einzige Möglichkeit fürWitwen und
Alleinerziehende, sich und ihre Familien
überWasser zu halten. Deshalb haftet
dem Beruf derTrägerin noch heute ein
Stigma an, in der sozialen Hierarchie
stehen sie ganz unten, auf einer Stufe
mit Prostituierten. Es ist eine typische
Frauenarbeit, Männerkonnten bisher
immer etwas Besseres finden.«Ich hätte
gern e etwas anderes gemacht», gibt auch
Fatima zu.Aber sie muss ihre fünf Kin-
der und ihren kranken Mann ernähren.
Dieser ist arbeitsunfähig, seit er einem
der Kinder eine Niere spendete.Allein
für die Miete zahleFatima 100 Euro
monatlich.Plus die teuren Lebensmittel,
ein Kilo Kartoffeln 60 Cent,Brot 1 Euro,
Tomaten 1 Euro 60,rechnet sie vor.
«An der Grenze arbeiten auch alte,
schwerkranke und verletzteFrauen,
weil sie anders nicht überlebenkön-
nen», erzählt sie. Gerade Kranke seien
gezwungen,sich in die Schlange zu stel-
len, weil sie sonst Behandlung und
Medikamente nicht bezahlenkönnten.
Just in diesem Momentkommt einealte
Frau am Grenzübergang vorbei,schwer
auf ihren Krückstock gestützt, mit zwei
riesigenLastensäcken auf dem krum-
menRücken.
Fatima selbst hat als Schwangere bei
allen fünf Kindern bis kurz vor der Ge-
burt geschleppt, hinten dasPaket, vorne
der Bauch. Eines der Kinder erblickte so
am Grenzübergang das Licht derWelt.
Fatima hat auch bei anderen Geburten
geholfen. «Du kannst dirkeine Pause
leisten.Wer Schwäche zeigt, istraus.»
Ob Alte, Junge, Kranke, Gesunde
oder Hochschwangere – vor der Grenze

sind sie allegleich. Das schweisst zusam-
men, es gebe viel Solidarität unter den
Frauen, sagt Fatima. DerKonkurrenz
zum Trotz. «Gestern zum Beispiel stand
neben mir in der Schlange eineFrau,die
hat Krebs und kann kaum noch etwas
tragen. Also habe ich ihr dasPaket ab-
genommen. Sie braucht das Geld beson-
ders dringend, für die Behandlung.»

Der Gewinn für die Männer


HeuteistdasGeschäfthärterdennje.Wo
Fatima früher vier bis fünfTouren ma-
chenkonnte, ist sie jetzt froh, wenn eine
glückt.Die Provision ist in den letzten
Jahren gesunken,weil immer mehr Men-
schen mit dem atypischen Grenzhandel
ihr Geld verdienen.Viele jungeFrauen
drängenindasBusiness,siekommenvon
weit her: «Unter anderem aus derWest-
sahara,seitMarokkodenWarentransport
zwischen Mauretanien und den Bewoh-
nern derWestsahara unterbunden hat»,
erklärt die Historikerin Steinberger.
Konkurrenz bekommen dieFrauen
neuerdings vor allem von Männern. Be-
sonders junge und flexible Männer ohne
familiäreVerantwortung machen den
Trägerinnen ihre Geschäftsgrundlage
streitig.Ein neuer Grenzübergang hat
kürzlich geöffnet, nur für die Männer-
schlange. Überhaupt ist das Grenzbusi-
ness ein Männergeschäft.Frauen ma-
chen die Schwerstarbeit.Kontrolliert
wird sie jedoch von Männern, die Ge-
schäfte machen Männer, die Gewinne
streichen Männer ein. So wurden die
Tickets eingeführt, umFrauen abhängi-
ger zu machen und zu verhindern, dass
sie auf eigeneRechnung tragen.
«Nichts hat sich geändert, was die
prekären und unmenschlichen Arbeits-
bedingungen derFrauenangeht. Ihre
Situation ist seitJahrzehnten die glei-
che,sie haben überhauptkeine Rechte»,
sagt CristinaFuentes, deren Menschen-
rechtsorganisation aus Andalusien, die
Asociación Pro Derechos Humanos de
Andalucía (APDHA),sich seitJahren
mit dem Phänomen derLastenträgerin-
nen beschäftigt.Auch Fatima spürt die
zermürbendeRoutine des immerglei-
chen Kampfes:«Geändert hat sich in
den fünfzehnJahren nur meinKörper,
ich bin nicht mehr so stark wie früher.»
Sie sagt das mit Sorge.

Wasman auf demKörper trägt, darfzollfrei über die Grenze. Die Trägerinnenwarten oftstundenlang, bis sie von Melilla hinübernachMarokko dürfen. YOUSSEF BOUDLALL/REUTERS

150 Kilometer

Melilla (E)
Nador

Tanger

MAROKKO

SPANIEN

Ceuta (E)
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