Neue Zürcher Zeitung - 06.11.2019

(Michael S) #1

Mittwoch, 6. November 2019 SCHWEIZ


Die Schweiz fördert im abgeschotteten Eritrea


eine fortschrittliche Berufsbild ung


Aus innenpolitischen Gründen engagiert sich der Bund wieder im ostafrikanischen Land


DAVID SIGNER, MASSAWA, TOBIASGAFAFER


Massawa amRoten Meer ist eine der
heissesten Städte derWelt. Die Altstadt
ist eineRuine, seit sie gegen Ende des
eritreischen Unabhängigkeitskampfes
1990 von Äthiopien bombardiert wurde.
Die Neustadt ist schatten- und gesichts-
los.Aber es gibt ein Gebäude, das her-
vorsticht, das MassawaWorkersTr aining
Centre (MWTC). Der dreistöckige Neu-
bau lehnt sich mit seinenRundbögen an
die traditionelle Architektur desOrtes
an, aber versucht offensichtlich zugleich,
eine Brücke in die Zukunftzuschlagen.
Das passt gut zurAufgabe. Denn hier
sollen Lehrlinge verschiedener Berufs-
zweige eine Ausbildung erhalten, die
Theorie und Praxiskombiniert – ein
Novumin Eritrea.
Bei unserem Besuch des Zentrums
im Oktober sind sechs Berufsschulleh-
rer aus der Schweiz anwesend. Sie ver-
suchen, ihren eritreischenKollegen In-
puts für eine zeitgemässe Didaktik zu
vermitteln, die weniger lehrerzentriert
und mehr handlungsorientiert ist. Man
spürt, dass die eritreischenFachkräfte
kaum etwas anderes kennen alsFrontal-
unterricht, bei dem der LehrerTheorien
vorträgt, die die Schüler dann auswendig
lernen müssen. Alles andere scheint für
sie nicht ganz seriös zu sein.


Beliebter LehrgangKühltechnik


AmVormittag arbeiten die Schweizer
mit den eritreischen Lehrern; am Nach-
mittag um vier, wennes nicht mehr ganz
so heiss ist, beginnen die einheimischen
Ausbildner den Unterricht mit den Schü-
lern. Am meisten Zuspruch geniesst
offenkundig der LehrgangKühltechnik.
Das erstaunt wenig bei vierzig Grad im
Schatten. Sehr beliebt ist auch Informa-
tik, wobei bemerkenswert ist, dass sieb-
zig Prozent der Interessierten junge
Frauensind. Die Elektriker arbeiten an
diesemTagamThemaWiderstand.
Die meistenTeilnehmer der sieben-
monatigenAusbildung, die jetzt eben
erst begonnen hat, haben bisher schon
gearbeitet,aber nicht unbedingt auf dem
Beruf, in dem sie hier trainiert werden.
Dasind zum Beispiel der 28-jährige
Mahmudund der 23-jährigeJonas. Sie
arbeiteten vorher beide in einem Büro
und hatten beruflich nochnie mit Elek-
trik zu tun.Aber sie sagen beide, dass
ihnen dasTr aining gut gefalle und sie
später gerne auf diesem Beruf arbei-
ten würden. Sie leben noch zu Hause in
Massawa, im Gegensatz zu ihren Mit-
studierenden Gabriel und Soryana. Die
beiden 22-Jährigen sindAuswärtige, sie
wohnen imWohnheim gleich neben
demAusbildungszentrum.


Bemerkenswert ist, dass alle vier
noch im Nationaldienst sind, der im
Zusammenhang mit Eritrea so viel zu
reden gibt. Ursprünglich war er auf 18
Monate beschränkt, de facto ist er je-
doch unbefristet.Daran hat bis jetzt
auch derFriedensschluss mit Äthiopien
vom letztenJahr nichtsgeändert. Nicht
selten trifft manVierzig- oderFünfzig-
jährige, die immer noch nicht entlassen
wurden.Für das diktatorischeRegime
von Isaias Afewerki ist der National-
dienst wohl vor allem, unabhängig
von der Bedrohung durch aussen, ein
Kontrollinstrument nach innen, um die
eigene Bevölkerung am kurzen Zügel
zu halten.
Das Ausbildungszentrum wird von
der Direktion für Entwicklung und
Zusammenarbeit (Deza) unterstützt.
Auch dies ist ein Novum. Denn 2006
hatte sich der Bund nach unüberwind-
lichen Schwierigkeiten mit derRegie-
rung aus dem abgeschottetenLand am
Horn vonAfrikazurückgezogen. Aber
dann wuchs der innenpolitische Druck
in der Schweiz. Um dieRücknahme
von abgewiesenen Asylbewerbern zu
erleichtern, brauche es zunächst bes-
sere Beziehungen zurRegierung, lau-
tete die Überlegung.

Eritrea ist der wichtigste Herkunfts-
staat von Asylsuchenden in der Schweiz.
DerBund hatdie Asylpraxis für Eritreer
in mehreren Schritten verschärft. Unter
anderem giltdieRückkehr nicht mehr
in jedemFall als unzumutbar. Im laufen-
denJahr lehnten die Behörden bis Ende
September 428Asylgesuche von Eritre-
ern ab. Zudem überprüft der Bund den
Status von rund 30 00 Eritreern, die vor-
läufig aufgenommenworden sind.Vo n
den 14 Personen, denen das Staatssekre-
tariat für Migration (SEM) ineiner
Stichprobe die Aufenthaltsgenehmi-
gung entzogen hat, ist bis anhinkeine
nachEritrea zurückgekehrt. Asmara
akzeptiertAusschaffungen nicht.Frei-
willigkehren nur wenige heim.

Förderungvon drei Projekten


Entwicklungszusammenarbeit kann in
solchenFällen eine naheliegende Art
sein, «einenFuss drin zu haben».Also
wagte die Deza 20 17 mit dem MWTC
einen neuerlichenVersuch in Eritrea
und unterstützt das Berufsschulprojekt
mit rund 1,4 MillionenFranken. Die
Unterstützung der Deza wurde kürzlich
verlängert – aber nur bis imFebruar


  1. Nun müssen dasAussendeparte-


ment und der Bundesrat entscheiden,
wie es mit dem Engagement in Eritrea
weitergeht. Eine Evaluation, die Edu-
ard Gnesa, der frühere Sonderbotschaf-
ter für Migration, erstellt hat, liegt auf
Ignazio Cassis’Tisch. Die Schweiz för-
dert in Eritrea seit 20 17 für rund 4,3 Mil-
lionenFranken drei Projekte.
Das Ausbildungszentrum inMas-
sawa wurde vom eritreischen Gewerk-
schaftsbundund vom Schweizerischen
Unterstützungskomitee für Eritrea
(Suke) initiiert.Dessen Gründer istToni
Locher,der schweizerische Honorar-
konsul für Eritrea. In der Schule in Mas-
sawa wurden bisher über 200 Lehrlinge
in sechs Berufen ausgebildet:Elektriker,
Elektroniker, Informatiker, Schreiner,
Schlosser undKühltechniker.Zu die-
sem Zweckreisenregelmässig Berufs-
schullehrer aus der Schweiz nach Mas-
sawa, um ihreeritreischen Lehrerkolle-
gen zu unterstützen.
Das Modell orientiert sich am dualen
Ausbildungsmodell der Schweiz. Bisher
gab es in Eritrea nur die Alternative zwi-
schen einer theorielastigenAusbildung an
der Universität, die kaum zur Berufsaus-
übung befähigte,und einer praktischen,
aber oft rudimentären, veralteten Lehre,
meist im Betrieb einesVerwandten.

Die Gruppe der Schweizer Lehrer
wird geleitet von dem pensionierten
Berufsschullehrer und Erwachsenen-
bildner HansFurrer.Auch er ist Mit-
glied des Suke. Er hält den unbefristeten
Nationaldienst ebenfalls für ein Unding,
äussert sich im Übrigen jedoch positiv
über die Situation in Eritrea. Punkto
Menschenrechte sei die Situation auch
nicht schlimmer als in anderen afrika-
nischenLändern, etwa inTogo oder
Ghana, meint er. In Ghana gibt es aller-
dings faireWahlen undeine freie Presse.
Nun ja, meintFurrerrelativierend – «was
nützt eine freiePresse ohne Ernährungs-
sicherheit?». Die ist allerdings auch in
Eritrea nicht gegeben.Kürzlich war der
Lebensmittelmarkt in der Hauptstadt
Asmara leer, weil sich dieBauern wei-
gerten, zu den vom Staat diktierten tie-
fen Preisen zu verkaufen. Und im Okto-
ber war im ganzenLandkein einheimi-
schesTr inkwasser erhältlich.

Ministeriummischt sichein


Aber bei allem Optimismus nervt sich
auchFurrer über die Einmischung des
Bildungsministeriums in den Lehrplan
des MWTC. So erwarte man zum Bei-
spiel, dass der Unterricht der angehenden
Elektriker mit dem Atom beginne. Für
Furrer der sichersteWeg, um die inTheo-
rie wenig beschlagenen Praktiker schon
in der ersten Stunde zu entmutigen.
DasAusbildungsprojekt in Massawa
ist zweifellos eine gute Sache.Ähn-
liche Zentren in anderenLandesteilen
sind geplant.Vielleicht kann die Berufs-
bildung junge Eritreer davon abhalten,
den gefährlichenWeg nach Europa ein-
zuschlagen; vielleicht kann das Zentrum
auchRückkehrwillige aufnehmen und
ihnen einePerspektive verschaffen. Ob
dies ohne einegrundsätzliche politische
Änderung in Eritrearealistisch ist und ob
es überhauptSinn ergibt,indemrepressi-
venLand Entwicklungszusammenarbeit
aufrechtzuerhalten, isteine andere Frage.

Zwei junge Männerind er Hafenstadt Massawa – dort können sie neuBerufeinTheorie und Praxis erlernen. TIKSA NEGERI / REUTERS

ÄTHIOPIEN

MMMMMassawaaaaassssssssawa
As mara

SUDAN

ERITREA

250Kilometer NZZ Visuals/lea.

Nur der Umgang mit bosnischen Imamen ist problemlos


Die Ausbi ldung der Predigeraus dem Balkanland ist klar strukturiert – notwendig ist mindestens ein Bachelor abschluss


SIMON HEHLI


Zum ersten Mal wurde in einer Studie
umfassend untersucht,woher die Imame
in derSchweizkommen und auf wel-
cheWeise die muslimischenVorbeter
ausgebildet wurden. DieForscher des
Schweizerischen Zentrums für Islam
und Gesellschaft (SZIG)kommenauf-
grund ihrer Untersuchung zum Schluss,
dass den «Import-Imamen» hierzulande
grosse Skepsis entgegenschlägt. Diese
Männerkennen oft die hiesigen Ge-
pflogenheiten nicht und sprechenkeine
Landessprache.


Missionierung unterbinden


Weitgehend problemlosist nur der Um-
gang mit der Gruppe der bosnischen
Imame, von denen es in der Schweiz
rundeinDutzend gibt. Ihm seikein


Fall bekannt, in dem es mit ihnen Pro-
bleme gegeben habe, sagt Co-Autor
Hansjörg Schmid gegenüber der NZZ.
«In Bosnien hat ein europäisch gepräg-
ter, liberaler Islam eine starkeStellung.»
DieAusbildung der Prediger aus dem
Balkanland ist klarstrukturiert. Seit
2005 genügt eineAusbildung an einer
Medrese, einem islamischen Gymna-
sium, nicht mehr für denImamberuf, es
braucht dazu mindestens einenBache-
lorabschluss.
FürSchlagzeilen sorgen jedochVor-
beter, die in ihren Moscheen Hasspredig-
ten halten oder zu Gewalt gegenFrauen
aufrufen.Aufgrund dieser Probleme hat
der Nationalrat den Bundesrat beauf-
tragt, in einem Bericht aufzuzeigen, wie
eineAusbildung in der Schweiz ausse-
henkönnte – auch um eine «islamisti-
sche Missionierung» zu unterbinden.
Hansjörg Schmid bezweifelt jedoch,

dass manAusbildungsfragen undRadi-
kalisierungsprävention so eng verknüp-
fen sollte. Bestärkt sieht sich der SZIG-
Direktor durch Erfahrungen imAusland,
besonders in den Niederlanden.
Dort begann der Staat vor fünfzehn
Jahren,Ausbildungsgänge an einzel-
nen Universitäten zu fördern. Doch all
die Programme sind gescheitert – unter
anderem weil sich die Muslime selber
nicht ausreichend einbezogen fühlten.
Der Staat habe zwar ein legitimes Inte-
resse an Integrations- und Sicherheits-
fragen, sagt Schmid. «Aber wenn man
dasThema Imame nur unterdiesen Ge-
sichtspunkten betrachtet, ist daskon-
traproduktiv, weil man so bei den Mus-
limen Misstrauen schürt.»
AlsVorbild für eine inländische Ima-
mausbildung wird zuweilen die Pfarrer-
und Priesterausbildung beigezogen:Auf
das staatlich organisierteTheologie-

studium, das die theoretischen Grund-
lagen vermittelt, folgt eine praktische
Ausbildung, welche die Kirchen sel-
ber verantworten. Doch für ein eigenes
«Imamseminar» ist die Schweiz wohl zu
klein. ZumVergleich: Hierzulande gibt
es noch rund 1400 katholische Priester,
ihre Zahl ist damit zehnmal grösser als
jene der Imame.HansjörgSchmid plä-
diert deshalb dafür,dass die Schweiz
mit Deutschland und Österreich zusam-
menarbeitet, um sowohl theoretische als
auch praktischeAusbildungsangebote
für Prediger aufzubauen – wobei in bei-
den Bereichen auch einTeil der Lehr-
gänge hierzulande stattfindenkönnte.

Vereinehabenzu wenigGeld


Ein Problem wird jedoch auf absehbare
Zeit ungelöst bleiben:Für hier aufge-
wachsene muslimische Akademiker ist

der Imamberuf finanziell wenig attrak-
tiv. Denn Moscheevereine haben oft
nicht genug Geld, um einen Seelsor-
ger inVollzeit anzustellen. Die Nach-
teile dieser Situation beklagte vor kur-
zem die Islamische Gemeinde Luzern
(IGL). In Kriens hatte der Moschee-
verein inTeilzeit einen Imam beschäf-
tigt, der sich im Umfeld vonPersonen
bewegte, die wegen islamistischer Um-
triebe verurteilt wurden. Nehmen die
Muslime jedoch zurFinanzierung des
Personals Gelder aus Saudiarabien oder
derTürkei an, gehen sie einReputa-
tionsrisikoein.
Eine Lösung für das Dilemmakönnte
eine staatliche Anerkennung sein, wie
sie der SP vorschwebt: Die muslimi-
schen Organisationen bekämen dann
dasRecht, Steuern zu erheben. Doch
ob das jemals politisch mehrheitsfähig
wird, steht in den Sternen.
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