Neue Zürcher Zeitung - 06.11.2019

(Michael S) #1

Mittwoch, 6. November 2019 ZÜRICH UND REGION 17


Zürichs riesiges Stadtmodell weist auch in die Zukunft –


seit 30 Jahren arbeitet Philipp Waller daran SEITE 18, 19


Ein Autofahrer, der eine Schutzinsel links umf uhr,


zieht vor Obergericht – erfolglos SEITE 19


Kanonen aus der Stadt Zürich


Rheinmet all Air Defence baut Flugabwe hrwaffen gleich neben einem Wohnquartier in Zürich-Nord – zumindest bis auf weiteres


ANDRÉ MÜLLER (TEXT), ANNICK RAMP (BILDER)


Zürich ist eine linke, fri edliebende Stadt



  • aber auch einer der wenigen Orte in
    der Schweiz, wo noch im grossen Stil
    Waffen hergestelltwerden:In alternden,
    grauenFabrikhallen an der Birchstrasse
    produziert Rheinmetall Air Defence
    Flugabwehrkanonen und die zugehöri-
    genRadarsysteme, mitten in Oerlikon.
    Deren Geschichte geht zurück auf die
    1876 gegründete Maschinenfabrik Oerli-
    kon.1906 spaltete sich dieRüstungsfirma,
    die später als Oerlikon-Bührle bekannt
    wurde, von dieser ab. 1999 verkaufte sie
    ihre Kanonenproduktion (Oerlikon Con-
    traves Defence) an den deutschenWaf-
    fenhersteller Rheinmetall.
    Die Stadtprofitiert weiterhin davon:
    Bei einemJahresumsatz von rund 300
    MillionenFranken undetwa 20 Millionen
    Franken Gewinn fälltjeweils eine sieben-
    stellige Summe für die Stadtfinanzen ab.
    Hinzukommen die Einkommenssteuern
    der gut tausend Mitarbeiter, von denen
    lau t Firmenangaben etwa die Hälfte in
    der Stadt selbst lebt.


LieberWaffen alsWohnungen


Rheinmetall versteckt überhaupt nicht,
was sie tut. In der Montagehalle stehen
Dutzende von Kanonenrohren inReih
und Glied,aufFernsehern an denWänden
laufen leicht martialischeWerbevideos in


Endlosschleife: Kanonen zuLand und auf
Schiffen, die fliegende Geräte abschies-
sen.AlsArbeitgeber will Rheinmetall da-
gegen nichts von militärischerFührungs-
kultur wissen. Reinhard Flückiger, der bis
vor einem Monat für Produktion und Be-
trieb in Oerlikon zuständig war, sagt,dass
die Hierarchien flach seien.«Wir behan-
deln die Mitarbeiter wie Unternehmer
in ihrem eigenen Bereich und gewähren
ihnen so viel Eigeninitiative undVerant-
wortung wie möglich.»
Man bilde zudem60 Lehrlinge aus, um
die rare n Fachkräfte selbst heranzuzie-
hen.Aber kriegen die Rheinmetall-Ange-
stellten im linken Zürichkeine Probleme,
wenn sie ihren Nachbarn oder am Eltern-
abend sagen, dass sieWaffen herstellen?
In seinemKollegenkreis sei daskein
Thema, sagt einTechniker, der für eine
mit Schalke-04-Fanutensilien verzierte
Hightech-Zerspanungsmaschine verant-
wortlich ist und mit dieser Aluminium-
teile fertigt. Er könne dahinterstehen,
man produziere jakeine Tretminen.
An diesemFreitagnachmittag herrscht
in den Hallen ein eher lockerer Betrieb.
ZumTeil liegt es daran, dass viele ältere
Mitarbeiter an einerVeranstaltung zur
Pensionierung sind; doch es ist klar, dass
Rheinmetall in Zürich eher zu viel als zu
wenig Fläche zurVerfügung steht.«Wir
könnten diese Hallen niemals alleine aus-
füllen», sagt Flückiger. Daher auch das
Bekenntnis zu einer grossenFertigungs-

tiefe: Rheinmetall fertigt, lagert und
lackiert in Oerlikon, hier setzt man die
Kanonen undFeuerleitsysteme aus bis
zu 24 000 Einzelteilen auch zusammen.
Laut Flückigersprechen zudem Flexibi-
litätund Sicherheit der Lieferkette dafür,
mehr inhouse zu machen, auch wenn das
ein bisschen teurer sei.
Zudem bietet Rheinmetall diverse
Fertigungs- und Logistik-Dienstleistun-
gen für StadlerRail,ABBund andere
Unternehmen an. Diverse Mieter haben
sich auf dem weitläufigen Areal angesie-
delt,darunter die ClimeworksAG,die mit
modernenFiltern CO 2 aus der Luft sau-
gen will. Rund 80Personen arbeiten hier
für denETH-Spin-off.

Neue Ziele für alte Geschütze


Ob Rheinmetall selbst langfristig in
Zürich bleibt, scheint offen. Nicht, weil
die Stadt das Rüstungsunternehmen
«draussen» haben will,ganz im Gegenteil:
Sie legte 2015 fest, dass auf einem Gross-
teil des Rheinmetall-Areals auch in Zu-
kunft nur Industrie und Gewerbe ange-
siedelt werden darf. Bekannt ist aber, dass
sich das Unternehmen selbst überlegt,die
Produktion von Zürich an einen anderen
Ort zu verlagern.Das brächte mehr Miete,
in derPeripherie wäre es aber schwieri-
ger, guteFachkräfte anzuwerben.Für sie
ist derArbeitsplatz mitten in der Stadt ein
grosses Plus.Weil der Entscheid noch aus-

steht, investiertdie Firma eher ein Mini-
mum in den Standort, was den alternden
Gebäuden doch anzusehen ist.
Auch einTeil derKerntechnologie von
Rheinmetall stammt aus Bührle-Zeiten:
Noch immer kaufen einigeLänder die
Ende der1950erJahren entwickelten
35 -Millimeter-Zwillingskanonen. Auch
das seit den1990erJahren entwickelte
Nachfolgemodell ist noch lange nicht
überholt. «Unsere Kunden wollenSys-
teme, die im Einsatz garantiert funktio-
nieren», sagt CEOFabian Ochsner. Da-
her griffen sie eher auf erprobte Kanonen
zurück, alsetwas Neues auszuprobieren.
Die «Bührle-Kanonen» treffen schon
langekeine Flugzeuge mehr, weil diese
aus grosser Distanz und Höhe angreifen


  • lange bevor sie in denRadius der Flug-
    abwehrgeschützekommen. GegenFern-
    lenkwaffen, Mörsergranaten und die auf-
    kommenden Drohnen seiensie aberge-
    eignet, sagt Ochsner.
    Die Kanonen feuern deswegenkeine
    Geschosse mehr, sondern Behälter mit
    einerArt Schrotladung.Kurz bevor diese
    beim Ziel ankommen, lösen sich durch
    Überdruck unzählige kleine Zylinder
    aus Wolfram und bilden eine ArtWolke.
    Wenn dieRakete oder Drohne hinein-
    fliegt, sollte sie so einigeTreffer abbe-
    kommen, die sie aus derBahn werfen.
    Das Schwierige sei,sagt Ochsner, die
    Schrotwolke im richtigen Moment aus-
    zulösen. Hier sei man der türkischen,


polnischen und chinesischenKonkur-
renz noch voraus.
Ein zentraler, höchst umstrittener
Standortfaktor bleibt dasWaffenexport-
regime. SeitJahr undTag ringt diePolitik
darum,ob die Richtlinien gelockert oder
verschärft werden sollen.Derzeitzeich-
net sich in Bern imRahmen der «Kor-
rekturinitiative» eine breitere Front für
eineVerschärfung ab.Der Bundesrat will
der InitiativeeinenGegenvorschlag ent-
gegenstellen, der in eine ähnliche Rich-
tung zielt.
CEOFabian Ochsner sagt, dass seine
Firma jeden Export bewilligen lassen
müsse. «Ich habe hier nichts zuverste-
cken.Wirfragen Bern,und Bern entschei-
det.» Er macht aberkein Hehl daraus,
dass er gern weiter anLänder wieThai-
land liefern würde, was 2017 untersagt
wurde wegen eines internenKonflikts
im Süden desLandes.Ochsner legtWert
darauf, dass seine Kanonen unbemannte
Ziele angreifen, im Unterschied etwa zu
Handgranaten, die sich auch leicht gegen
die Zivilbevölkerung einsetzen lassen.

Zum fünften Mal findet am Donnerst ag,


  1. November, in Zürich die «Lange Nacht der
    Unternehmen» statt. Der Industrie verband
    Zürich und die Unternehmergruppe Wettbe-
    werbsfähigkeit haben Rundgänge zu f ast allen
    grösseren industrielle nArbeitgebern in der
    Stadt organisi ert. Nebst Firmen wie Bombar-
    dier, SBB oder Planzer öffnet auch R heinmetall
    Air Defence seine Fabrikhallen für Besucher.


Lackierwerk,ein Kanonenrohr,ein Werbefilm für die Flugabwehrsysteme und ein Marketingspruch(von oben links im Uhrzeigersinn) in den Produktionshallen von Rheinmetall.

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