Neue Zürcher Zeitung - 06.11.2019

(Michael S) #1

Mittwoch, 6. November 2019 ZÜRICH UNDREGION 19


OBERGERICHT

Autolenker überholt Polizeifahrzeug


vor Ampel und bricht alle Regeln


Das Urteil der Vorinstanz wird bestätigt


ALOIS FEUSI

Dies ist eine jener Situationen, die wohl
jedeAutomobilistin und jederAutomo-
bilistkennt und hasst: Man steht vor
einer Ampel, sie hat längst auf Grün
geschaltet, es ist Nacht, dasWetter ist
garstig,und man möchte endlich wei-
terfahren. Doch derVordermann macht
keinenWank, und auch die anderen
Autos in derKolonne bleiben stehen.
Manche nehmen es gelassen, an-
dere ärgern sich und hupen vielleicht
ein oder zwei Mal. Und dann gibt es
jene, die einen mehr oder weniger krea-
tiven, aber eben illegalenAusweg aus
der Klemme suchen.Das geht in den
allermeistenFällen glimpflich aus, kann
aber auch richtig viel Ärger mit den
Strafbehörden nach sich ziehen.

Polizei übersehen

Diese Erfahrung musste ein damals
36-jähriger Ingenieur an einer Kreu-
zung inWetzikon machen. An einem
Abend im Mai 20 18 kurz vor 22 Uhr
schloss er mit seinem VW Golf auf drei
trotz Grünlicht stillstehendeFahrzeuge
auf.Auf der Spur für dieRechtsabbie-
ger stand ein weiteresAuto.
In der Annahme, dass an der Spitze
derKolonne ein Lernfahrer mit den
Tücken des Anfahrens kämpfe oder
jemand einePanne habe, scherte der
Mann nach links über die ausgezogene
Sicherheitslinie aus. Er fuhranden war-
tendenAutos vorbei und passierte die
Schutzinsel desFussgängerstreifens auf
der verbotenen Seite, ehe er auf der
Kreuzung wieder in diekorrekte Spur
einbog und seineFahrtfortsetzte.
Der Golf-Fahrer hatte das Pech,
dass derKombi auf der Abbiegespur
ein zivilesPolizeiauto war. Dessen Be-
satzung hatte die Lenkerin des vorders-
tenFahrzeugs bei der Ampel angespro-
chen, weil etwas mit dessenRücklich-
tern nicht in Ordnung war. Dass eine
Polizeiaktion der Grund für den Stau
war, konnte der Mann von seinemWa -
gen aus nicht sehen, weil ein vor ihm
in derKolonne stehender Minivan die
Sichtversperrte.
Natürlichreagierten diePolizisten
auf das waghalsige Manöver des Golf-

Fahrers. ImFebruar 20 19 flatterte die-
sem ein Strafbefehl der Staatsanwalt-
schaft See/Oberland ins Haus. Erwurde
der fahrlässigen grobenVerletzung der
Verkehrsregeln schuldig gesprochen
und mit einer bedingten Geldstrafe von
20 Tagessätzen zu140 Franken bei einer
zweijährigen Probezeitbelegt.
Ausserdem erhielt der Ingenieur
eine Busse von 600Franken wegen
Übertretung derVerkehrsregelverord-
nung. Im Zuge desVerfahrens hatte
sich nämlich herausgestellt, dass er
die obligatorische periodische Abgas-
wartung seinesAutos mitJahrgang 1996
versäumt hatte.

Alles unter Kontrolle?

DerVerkehrssünder erhob Einsprache
gegen den Strafbefehl.Das Bezirks-
gericht Hinwil bestätigte das Urteil,

und am Montag hat der Mann nun vor
dem Zürcher Obergericht gestanden.
Er und sein Anwalt versuchen zu be-
legen, dass durch das verbotene Manö-
verkeine erhöhte abstrakte Gefähr-
dung der anderenVerkehrsteilnehmer
resultiert habe. Daher sei er vomVo r-
wurf der grobenVerkehrsregelverlet-
zung freizusprechen.
Der Beschuldigte schildert, wie er
zunächst kurz gewartet und «freundlich
gehupt» habe, ehe er über die Sicher-
heitslinie gefahren und im Schritttempo
an den stehendenFahrzeugen und der
Schutzinsel vorbei zur Kreuzung gerollt
sei. Zwar mache die Strasse an jener
Stelle eine leichte Linkskurve,doch
dank dem Scheinwerferlicht allfälliger
entgegenkommenderAutos hätte er bei
Gefahr sofortreagierenkönnen.

Die Sicht in die vonrechts ein-
mündende Strasse sei auf der Höhe
derVerkehrsinsel ebenfalls gut gewe-
sen, beteuert er. Erräumt ein, dass die
Ampel unmittelbar nach seinemAus-
scheren von Grün auf Gelb geschaltet
habe, die Zeitspanne fürsWiederein-
biegen hinter dem Lichtsignal sei aber
mehr als ausreichend gewesen. Schliess-
lich hätten die vor der Einmündung
in die Hauptstrasse stehendenAutos
noch mindestens drei SekundenRot ge-
habt, und ausserdem seien alleFahr-
zeuge durch das Licht ihrer Scheinwer-
fer erkennbar gewesen.
Auf dieFrage des Richters, was pas-
siert wäre,wenn einVelo ohne Be-
leuchtung vonrechts in die Haupt-
strasse eingebogen wäre, antwortet
der Beschuldigte, dass derRadfahrer
ja dazu beiRot hätte fahren müssen.
«Siegehenalso davon aus, dasskeiner
beiRot fährt?», fragt der Richter leicht
sarkastisch. «Es gibt ja auch Leute, die
Verkehrsinselnlinks umfahren.»

«Saudumme Aktion»

UnterZuhilfenahme vonAufnahmen
von Google StreetView sowie gestützt
auf das Protokoll derPolizistenkommt
das Obergerichtzum selben Urteil wie
dieVorinstanz. Allerdings senken die
Richter die Höhe desTagessatzes der
bedingten Geldstrafe von140 auf 90
Franken. Der Alleinernährer einer
dreiköpfigenFamilie hat nämlich in-
zwischen eineWeiterbildung begon-
nen und sein Arbeitspensum stark
reduziert.
Er habe zwar nicht eventualvor-
sätzlich, aber doch grob fahrlässig ge-
handelt, erklärt der Gerichtsvorsit-
zende Christian Prinz dem Beschuldig-
ten.EinFreispruch sei nicht möglich.
«Rückblickend ist das eine saudumme
Aktion. Mehr Geduld wäre angebracht
gewesen», stellt der inzwischen37-jäh-
rigeVerkehrssünder fest. Die Aktion
trägt ihm neben der BusseVerfahrens-
und Gerichtskosten von insgesamt 5600
Franken plus das Honorar seinesVer-
teidigers ein.

Urteil SB 190397 vom4. 11.2019;nochnicht
rechtskräftig.

Stimmrechtsbeschwerde


der Juso gegen Regierung


In einem Inserat werben fünf Regierungsräte für Ruedi Noser


DOROTHEEVÖGELI

Am Samstag hat der«Tages-Anzeiger» ein
Inserat abgedruckt, in dem die Zürcher
Regierungsräte CarmenWalker Späh,
Ernst Stocker, MarioFehr, Silvia Steiner
und Natalie Rickli den FDP-Ständerats-
kandidatenRuedi Noser zurWahl emp-
fehlen.Laut denJungsozialisten verbietet
das Gesetz demRegierungsrat,als Exe-
kutive impliziteWahlempfehlungen ab-
zugeben. DieJungpartei hat deshalb eine
Stimmrechtsbeschwerde eingereicht, wie
sie am Dienstag mitteilt.
Darin verlangen die StadtzürcherJuso
vomRegierungsrat, jene Mitglieder zu rü-
gen, die im Inserat erscheinen. DesWei-
teren solle sich die Exekutive offiziell
von der Empfehlung für den Stände-
ratskandidatenRuedi Noser distanzie-
ren. «DerRegierungsrat darf sich nicht
inWahlen einmischen.Das Inserat er-
weckt den Eindruck, derRegierungsrat
habe sich als Gremium fürRuedi Noser
ausgesprochen. Damitverstossen die
Mitglieder gegen geltendesRecht», sagt
Anna LunaFrauchiger, Co-Präsidentin
derJuso.
LautAussagen des Co-Präsidenten
Nathan Donno ist es zudem «absolut
inakzeptabel», dass SP-Sicherheitsvor-

steher MarioFehr aktivWahlkampf für
einen Kandidaten derFreisinnigen be-
treibe. «MarioFehr soll sich Gedanken
darüber machen, ob er dieWerte der SP
überhaupt noch teilt», sagt Donno.
Regierungssprecher Andreas Mel-
chior bestätigt die Eingabe der Be-
schwerde bei der Staatskanzlei. Mate-
riellkönne er sich noch nicht dazu äus-
sern, zuerst müsse sich derRegierungsrat
mit dem Inhalt auseinandersetzen.Fest
stehe aber bereits jetzt, dass es sich bei der
Wahlempfehlung um das Engagement
einzelnerRegierungsmitglieder und nicht
um eineRegierungsmeinung handle. Es
gebekeinen Beschluss dazu.
StaatsrechtlerAndreas Kleykennt den
Inhalt der Beschwerde nicht im Detail.
AusderFerne kann er sich aber vorstel-
len, dass aufgrund der bisherigen Erfah-
rungen des Bundesgerichts eine solche
Wahlempfehlung akzeptabel ist.Regie-
rungsräte seien politische Menschen.So-
fern sie nicht als Gremium aufträten –
und das tun sie seines Erachtens im kri-
tisierten Inserat nicht –, sei es ihnen unbe-
nommen,zu fünft eineWahlempfehlung
abzugeben, sagt der Professor für öffent-
lichesRecht,Verfassungsgeschichte so-
wie Staats- undRechtsphilosophie an der
Universität Zürich.

Der Beschuldigte
schildert, wie er
zunächst kurz gewartet
und «freundlich
gehupt» habe.

sen Erhaltung. Bis zum grossen Umbau
stand «Klein-Zürich» sehr eingeengt in
der obersten Etage des Amtshauses. Es
musste in zweiTeilen aufgestellt werden,
dennoch hatte damals nicht das ganze
StadtgebietPlatz; in Altstetten musste
man auf ein Stück verzichten.


Der zweiteTod der «Annaburg»


Beim Umbau wurde dann der Innen-
hof des Amtshauses wieder geöffnet,
der Boden, auf dem das Modell stand,
fiel weg. Den neuen Standort fand man
im grosszügigen Hohlraum der Urania-
brücke. Wozuvor einLager war,schuf
das Büro Meletta Strebel Architekten
(MSA) den idealenRaum für das Stadt-
modell.Sie bauteneinFenster, installier-
teneine Beleuchtung, diewie ein Sternen-
himmel wirkt, und machten die Elemente
des Modells beweglich. Seither hat sich
unter Pressefotografen die Idee etabliert,
Hochbauvorstände und Stadtbaumeister
mitten im Stadtmodell abzulichten.
Wer momentan den Stadtmodellraum
besucht, kann einige Grossprojekte ent-
decken und ihreWirkungaufs Stadtbild
studieren. Der grösste Eingriff ist sicher
die Einhausung derAutobahn in Schwa-
mendingen, die als weisses Projekt be-
reits im Stadtmodell integriert ist.Da-
neben kann man die zwei Neubauten im
Uni-Quartier (Spitalgebäude von Christ
und Gantenbein, Uni-Bau von Herzog &


de Meuron) in ihrer Umgebung bewun-
dern – oder nachzuvollziehen versuchen,
wie stark die beidenTürme des Stadion-
projekts dieAussicht von Höngg aus be-
einträchtigen werden.
Bis 20 15 ging man auch in den Stadt-
modellraum, um sich zu vergewissern,
dass ein Gebäude noch immer stand, das
in derRealität schon1990 abgebrochen
worden war, die «Annaburg» nämlich,
jenes einst so beliebteAusflugslokal auf
dem Üetliberg,dem noch heute viele Zür-
cherinnen und Zürcher nachtrauern. Die
kleine, stolze «Annaburg» war irgendwie
das Herz, das Unvollkommene, dank dem
das perfekte Universum des Stadtmodells
erst richtig zur Geltung kam.Dann aber
war die «Annaburg» einesTages ein-
fach weg.Was blieb, war der schraffierte
Grundriss auf der Sperrholzplatte.
Immerhin wurde das Häuschennicht
von einem Besucher entwendet, wie
PhilippWaller versichert. Er hat nun ein-
fach auch den Üetliberggrat derRealität
angenähert und die «Annaburg» einge-
lagert. Gleiches geschieht auch mit Pro-
jekten, die nur für beschränkte Zeit ge-
braucht werden, wie etwa frühere Sta-
dionprojekte.Auch derSüdanflug ist noch
vorhanden, den man einst aus einer Plexi-
glas-Schiene hergestellt hatte, umbeurtei-
len zukönnen, welche Stadtbereiche da-
von betroffen sind. «Und ja»,sagteWaller,
«das Modell des Grossprojekts Ringling
liegt auch noch irgendwo im Schrank.»

In derWerkstatt gibt es nicht nur einzelneBauten, sondern auch ganze Grundplatten.


Sei t30Jahren kümmert sichPhilippWaller um die Aktualisierung des Stadtmodells.


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