Neue Zürcher Zeitung - 06.11.2019

(Michael S) #1

Mittwoch, 6. November 2019 INTERNATIONAL 3


ANZEIGE

Selenski will Frieden im Donbass


Der ukrainische Präsident macht viele Zugeständnisse und stösst damit auf Gegenwehr in der Bevölkerung


MARKUSACKERET, KIEW


Auf derBankowa-Strasse im Zentrum
Kiews ist plötzlich etwas los. Drei, vier
farbige Zelte stehenherum, ein paar
Männer halten Transparente in die
Höhe, und an der Hauswand kleben
handgeschriebene Plakate. Es ist nicht
irgendeine Mauer, sondern dieFassade
des wuchtigen Amtssitzes des ukraini-
schen Präsidenten.Wolodimir Selenski,
der volkstümliche Schauspieler-Präsi-
dent, öffnete die kurze Strasse nach sei-
nem Amtsantritt für die Bevölkerung.
Diese nutzt den Ort seit kurzem für Pro-
teste gegen diePolitik des Hoffnungs-
trägers. Es geht um umstritteneReform-
projekte , aber auch um den Donbass.


Gegenwind der Strasse


Der Aufmarsch an diesem Mittag An-
fang November ist sehr bescheiden –
erst recht imVergleich zu den grossen
Demonstrationen im Oktober im Stadt-
zentrum. Erstmals spürte Selenski, der
mit überwältigender Mehrheit gewählte
Präsident, harten Gegenwind. Gewählt
auchin de rHoffnung,ermögedem
Land Frieden bringen, machte er sofort
nach seinemAmtsantritt die Suche nach
einer friedlichen Lösungfür den fest-
gefahrenen Konflikt im Donbass zu sei-
ner Priorität. Er brachte Dynamik in
die verhärtetenFronten und die sich im
Kreis drehenden Gespräche in Minsk,in
denen Ukrainer,Russen sowieVertre-
terder Organisationfür Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa (OSZE)
und der beiden selbsternannten«Volks-
republiken» von Donezk und Luhansk
die MinskerVereinbarung vomFebruar
2015 umzusetzen versuchen.
Der erfolgreiche Gefangenenaus-
tausch mitRusslandAnfang September,
bei dem prominente Gefangene in die
Ukraine zurückkehrten, habe Selenski


beflügelt und angespornt, einTreffen
im sogenannten Normandie-Format
mit dem russischen Präsidenten Putin,
Frankreichs Präsident Macron und der
deutschen Kanzlerin Merkel zu errei-
chen,sagtder KiewerPolitologeWolo-
dimirFesenko. Selenski sei gewillt,seine
nach wie vor erstaunlich hohen Zu-
stimmungswerte von 66 Prozent in die
Waagschale zu werfen,um auch unange-
nehme Entscheidungen zu treffen.

Umstrittener Abzug


Tatsächlich ist derzeit in dem auf ganz
Europa ausstrahlendenKonflikt so viel
in Bewegung wie seitJahren nicht mehr.
Im Sommer einigten sich die Unter-
händler in Minsk auf einenTruppen-
rückzug bei Stanizja Luhanska. Der
Ort ist der einzige Brückenkopf,an dem
man aus dem von der KiewerRegierung
kontrolliertenTeil derRegion Luhansk
in das jenseits eines Flusses liegende
Gebiet der«Volk srepublik» Luhansk
gelangen kann.Mehrere hundert Meter
Niemandsland liegen jetzt zwischen
dem letztenKontrollpunkt in Stanizja
Luhanska, der halbzerstörten Brücke

und den Einheiten der«Volksrepublik».
Dies ist ein grosser Erfolg, weil an vielen
Teilen der sogenanntenKontaktlinie die
verfeindetenTruppen in kurzer Distanz
zueinander stehen und es fast täglich
Tote beim gegenseitigen Beschuss gibt.
Aber es ist für beide Seiten auch ris-
kant, weil sie einst hart erkämpftesTer-
ritorium aufgegeben haben. Die ukrai-
nische Armee und dieFreiwilligen tun
sich schwer damit.Bei einem Besuch an
der Frontlinie kam es zu einer medien-
wirksamenAuseinandersetzung Selens-
kis mit diesen.Vor einem Abzug sollten
siebenTage dieWaffen schweigen, was
sie kaum je tun.Trotz alledem ordnete
Selenski im Oktober auch einenRück-
zug bei Solote und danach beiPetriw-
ske an. Dieser ist aber beiPetriwske ins
Stocken geraten.
Selenski,sagt der PolitologeFe-
senko, wolle zeigen, dass er dieVerein-
barungen einhalte. Zeigen will er das
vor allemRussland, an dem für einen
Frieden im Donbasskein Weg vorbei-
führt. Der Kreml spielt das voll aus: Seit
der Wahl Selenskisstellt er sichauf den
Standpunkt, dieser müsse erst einmal
seinenFriedenswillen unter Beweis stel-

len, bevor es zu einemTreffen mit Putin
kommenkönne. Fo rmal hält Moskau an
der Erfüllung des MinskerAbkommens
fest. Immer wieder neueVorbedingun-
gen stellt Moskau für einen Gipfel im
Normandie-Format. Und nach einigem
Zögern ist Selenski bisher immer dar-
auf eingegangen. Olexi Haran,Professor
für vergleichendePolitikwissenschaft
und Direktor der Ilko-Kutscheriw-Stif-
tung für demokratische Initiativen in
Kie w, sieht das mit Skepsis. Selenski
setze alles auf dasTreffen mit Putin und
er fülle deshalb dieForderungen, ohne
dass klar sei, was er dafür bekomme.
Als Beispiel führt er dieKontroverse
um die sogenannte Steinmeier-Formel
an, einenvomdamaligen deutschen
Aussenminister unternommenenVer-
such, die Umsetzung des Minsker Ab-
kommens zu vereinfachen. In den bei-
den «Volksrepubliken» sollen demnach
Lokalwahlen nach ukrainischemRecht
durchgeführt werden.AmVorabend der
Wahl erhalten die beiden Gebilde pro-
visorisch einen Sonderstatus mit mehr
Eigenständigkeit innerhalb des ukrai-
nischen Staates. Beurteilt das Büro für
demokratische Institutionen und Men-

schenrechte der OSZE dieWahlen als
frei und fair, wird der Status definitiv.
Erst dann erhält Kiew auch dieKon-
trolle über die ukrainisch-russische
Grenze in diesenRegionen zurück.
Der Kreml machte im Sommer plötz-
lich die Unterschrift unter die Stein-
meier-Formel zur Bedingung für einen
Normandie-Gipfel. Aber weil dieFor-
mel gar nie als schriftliches Dokument
gedacht war, zögerte Selenskis Unter-
händler in Minsk, der frühere Präsident
LeonidKutschma.Am1. Oktober unter-
schrieb er trotzdem.Haran verweist dar-
auf, dass dieStein meier-Formel eigent-
lich mit Sicherheitsbedingungen ver-
knüpft gewesen sei, so aber aus diesem
Kontext herausgerissen worden sei. Des-
halb hält er den Schritt für gefährlich.
Ein e breiteKoalition ging deshalb im
Oktober zweimal auf die Strasse.

Von allen Seiten unterDruck


Selenski steht von allen Seiten unter
Druck. DieFurcht, vonRussland über
den Tisch gezogen zu werden,ist gross.
VomWesten fühlt sich die Ukraine zu-
gleich dazu gedrängt, endlich zu einer
vernünftigen Lösung mit Moskau zu
kommen. Es sei wichtig, dass imWesten
verstanden werde, was das heisse, sagt
Haran. Denn es ist in derTat völlig un-
klar, wie unter den politischen und ge-
sellschaftlichen Bedingungen, die der-
zeit in den«Volksrepubliken» herrschen,
freieWahlen durchgeführt werden sol-
len. Es fehlt an freien Medien und Insti-
tutionen.Würden dann zweiAugen zu-
gedrückt und dieWahlen in fast jedem
Fall anerkannt?Das aber hiesse, die
politischenVerhältnisse inDonezk und
Luhansk zu legalisieren.
In der Ukraine gibt es zwar eine
Mehrheit für einenFrieden, aberkeine
Mehrheitfür einenFrieden um jeden
Preis. Dass Donezk und Luhansk mehr
oderwenigerautonomeGebildewerden,
findet in der ukrainischen Bevölkerung
keine Zustimmung. Die Furcht ist gross,
dass dies Russlands Einfluss auf die
Ukraine definitiv festschreiben würde.
Damit hätte Putin zumindest etwas von
demerreicht,wasihm2014 vorschwebte,
als er mithalf, das Aufbegehren in der
Ostukraine anzuzetteln.
Und wenn SelenskisAbsicht,bis spä-
testensineinemJahrLokalwahleninden
abtrünnigen Gebieten durchgeführt zu
haben, scheitert? DerPolitologeFe-
senko sagt , es sei dieRede von einem
«Plan B», den aber niemand so genau
kenne.Selenski und seine Leutekämen
aus derFernsehproduktion. Sie dächten
inEpisodenvonSerien.DienächsteStaf-
fel deutesich jeweils erst an.

Derukrainische PräsidentWolodimirSelenski aufTruppenbesuchander Frontlinie in derRegion Donezk. REUTERS

100 Kilometer

Luhansk

Solote

Donezk
Petriwske

RUSSLAND

UKRAINE

Separatistengebiete

NZZ Visuals/lea.

Polens Justizreformen verstossen gegen EU-Recht


Der Europäische Gerichtshof taxiert die Zwangspensionierung von Richtern als gesetzwidrig


DANIELSTEINVORTH, BRÜSSEL


Nun ist es amtlich:Polen hat mit sei-
nen umstrittenenJustizreformen teil-
weise das EU-Recht verletzt.Das gab
der Europäische Gerichtshof (EuGH)
in Luxemburg am Dienstag bekannt.
Die polnischeRegierung habe vor zwei
Jahren gesetzeswidrig dasPensionsalter
für Richter an ordentlichen Gerichten
herabgesetzt und gleichzeitig demJus-
tizminister dasRecht eingeräumt, die
aktive Dienstzeit einzelner Richter zu
verlängern.Aus Sicht der EU-Kommis-
sion schränktePolen damit die Unab-
hängigkeit seinerJustiz ein. Im Septem-
ber 2018 hatte Brüssel eine Klage beim
EuGH gegen dasLand eingereicht.


Richter aufsAbstellgleis


Tatsächlich diente die neueRuhestands-
regelung von 2017 der polnischenRegie-
rungletztlichdazu,missliebige Richter
au fs Abstellgleis zu schicken. Sie hatte
das Ruhestandsalter per Gesetz für


Richter an den ordentlichen Gerichten,
für Staatsanwälte sowie für Richter am
Obersten Gericht inWarschau von zu-
vor 67 auf 60Jahre fürFrauen und auf 65
Jahrefür Männer abgesenkt.
Das Heikle daran war ein Zusatz,
der es dem polnischenJustizminister
ermöglichen sollte, individuell über die
Verlängerung des Dienstalters einzel-
ner Richterinnen und Richter zu ent-
scheiden.Damit, so argumentierte nun
auch der EuGH in seiner Urteilsbegrün-
dung, könnte dieRegierung inWarschau
darauf zielen, «bestimmte Gruppen von
(. ..) Richtern, wenn sie dasRegelruhe-
standsalter erreicht haben, willkürlich
aus dem Dienst zu entfernen und gleich-
zeitigeinen anderenTeil dieser Richter
im Amt zu belassen».
Schon im Sommer hatte der EuGH
entschieden, dass die Gesetze,die das
oberste polnische Gericht betreffen,
gegen das Unionsrecht verstossen. Die
nationalkonservative Regierung von
Jaroslaw Kaczynski hatte zwar bereits
im vergangenenJahr auf die Klage der

EU-Kommissionreagiert und das Ge-
setz geändert. So begrenzte sie die Be-
fugnisse desJustizministers und hob das
Pensionsalter vonFrauen auf 65Jahre
an. Das Ur teil des EuGH vom Dienstag
bezi eht sich jedoch auf die vorherigen
Regelungen. Neben den rechtswidri-
gen Befugnissen desJustizministers kri-
tisiert es die unterschiedlichenRuhe-
standsalter von Männern undFrauen,
die eine «unmittelbare Diskriminierung
aufgrund des Geschlechts» darstellten.

«IllegitimeEinmischung»


Kritiker werfen derRegierungspartei
PiS seitJahren vor, Polens Demokratie
und Rechtsstaat abzubauen. Bei derPar-
lamentswahl Mitte Oktober wurde sie
dennoch mit fast 44 Prozent der Stim-
men erneut stärkste Kraft. IhreJustiz-
reformen begründet die PiS mit der an-
geblich ineffizienten Arbeit der polni-
schen Gerichte, und sie weist die Be-
denken aus Brüssel als «illegitime
Einmischung» zurück.Aus Sicht der

Luxemburger Richter aber beruht das
Unionsrecht eben gerade darauf, dass
alle EU-Staaten die in den EU-Verträ-
gen verbrieften Grundwerte wie Men-
schenwürde, Demokratie undRechts-
staatlichkeit teilen. Zwar sei die genaue
Organisation derJustiz eine nationale
Angelegenheit, doch müssten alle Staa-
ten einen wirksamenRechtsschutz ge-
währleisten – wofür die Unabhängigkeit
der Richter eineVoraussetzung sei.
Als nächstes muss die EU-Kommis-
sion nun prüfen, obPolen den Ände-
rungen bereits nachgekommen ist.Falls
dies aus Sicht der Brüsseler Behörde
nicht derFall ist,könnte sie erneut vor
dem EuGH klagen.Dann drohenWar-
schau empfindliche finanzielle Sanktio-
nen. Parallel dazu läuft bereits seit zwei
Jahren einVerfahren nachArtikel 7 der
Uni onsverträge, an dessen Ende sogar
ein Entzug des Stimmrechts in der EU
stehenkönnte.Dies müsste jedochvon
allen übrigen EU-Mitgliedern einstim-
mig beschlossen werden, was sehr un-
wahrscheinlich ist.

Wissenschaftlich fundierteAnlage-
kompetenzüber6000Aktienund
21 000Obligati onen. http://www.swiss-roc k.ch

INVESTIERENSIE,

WOINSPIRATIONZUR
BEREICHERUNGWIRD.
Free download pdf