Neue Zürcher Zeitung - 06.11.2019

(Michael S) #1

4INTERNATIONAL Mittwoch, 6. November 2019


Der zweite Orban in der EU freut Brüssel


Das rumänische Parlament hat den nationalliberalen Minister präsidenten Ludovic Orban und sein Kabinett bestätigt


VOLKERPABST, ISTANBUL


MichaelJacksons ersterAuftritt in Buka-
rest in den frühen neunzigerJahren ist
vor allem deshalb in Erinnerung geblie-
ben, weil sich der amerikanischePop-Star
mit denWorten «Hello Budapest» an die
Menge wendete.In denJahren danach
verwechselten zahlreiche weitereVertre-
ter des westlichen Show-Geschäfts die
rumänische mit der ungarischen Haupt-
stadt. Und vor einigenJahren verpass-
ten sogar mehrere hundertFussballfans
aus Bilbaodas Spiel ihrer Mannschaft
in Bukarest, weil sie versehentlich nach
Budapest geflogen waren.


Siegfür KlausIohannis


Für den oberflächlichen Betrachter ist
di e Verwechslungsgefahr künftig noch
grösser. DennRumäniens neuerRegie-
rungschef, der aus einem ungarisch-
rumänischen Elternhaus stammt, trägt
denselben Namen wie Ungarns Minis-
terpräsident: Orban. Politisch haben
die beiden das Heu aber nicht auf der-
selben Bühne.Als das rumänischeParla-
ment am Montagabend Ludovic Orban


knapp als neuen Ministerpräsidenten
des siebtgrössten EU-Staats bestätigte,
bedeutete dies einen weiteren Sieg für
di e proeuropäischen Kräfte im Kampf
mit der früherenRegierungspartei, der
postkommunistischen PSD. Das dürfte
auch in Brüssel fürAufatmen gesorgt
haben.DieJustizreformen der letzten
Jahre unter der PSD-Regierung hatten
den rumänischen Rechtsstaatausge-
höhlt und dasLandneben Ungarn und
Polen zu einem dritten Sorgenkind für
Brüssel werden lassen.
Insbesondere für Präsident Klaus
Iohannis ist dieWahl einTr iumph. Der
neueRegierungschef ist Präsident der
NationalliberalenPartei, der auch der
dezidiert proeuropäische Iohannis bis zu
seinerWahl ins oberste Staatsamt ange-
hörte. Obwohl nominell überparteilich,
hat sich Iohannis deutlich gegen den
Regierungskurs der PSD gestellt und
seine altenParteifreunde unterstützt.
Im Mai trug der Präsident wesentlich
zum klaren Sieg der Opposition bei den
Europawahlen bei, indem er gleichentags
eineVolksbefragung über diekontrover-
senJustizreformen durchführen liess und
so dieWahlbeteiligung derRegierungs-

gegner erhöhte.Es ist ein offenes Ge-
heimnis inRumänien, dass dieRefor-
menvorallem darauf abzielen,korrup-
tenPolitikern Straffreiheitzuzusichern.
Nur wenigeTage zuvor war der lange
Zeit allmächtige und vielerorts ver-
hasste Präsident der PSD, Liviu Drag-
nea,rechtskräftig verurteilt worden und
musste eine Haftstrafe antreten. Am


  1. Oktober gelang es dann der ver-
    einten Opposition Ministerpräsidentin
    VioricaDancila (PSD) mit einem Miss-
    trauensvotum zuFall zu bringen.Dass
    noch dieseWoche die neueRegierung
    vereidigtwurde, obwohl die PSD mit
    einem Boykott das Quorum zu verhin-
    dern suchte,ist für Präsident Iohannis
    besonders günstig. AmWochenende fin-
    det der ersteDurchgang der Präsident-
    schaftswahl statt, bei der Iohannis als
    klarerFavorit gilt.
    DiePräsidentschaftswahlzeigt aller-
    dings auch, dass die Gegner derPost-
    kommunisten nicht geeint sind, sondern
    nur für den Sturz der früherenRegie-
    rung ein Zweckbündnis eingegangen
    sind. USR-Plus und Iohannis’ Natio-
    nalliberale etwa sehen sich alsKon-
    kurrenten.Auch sonst ist dieKoalition


aus sechs Oppositionsparteien brüchig
und für Mehrheiten auf Stimmen von
Überläufern des früheren Regierungs-
lagers angewiesen. Bis zu Neuwahlen
ist die PSD weiterhin stärksteFraktion
imParlament.

Eingeschränkter Spielraum


Beobachter warnen deshalb vor über-
höhten Erwartungen an Ministerprä-
sident Ludovic Orban und seinTeam.
Eine erstePriorität ist die überfällige
Nominierung eines neuen Kandidaten
für denKommissarsposten, nachdem
Brüssel bereits zweiVorschlägeDan-
cilas zurückgewiesen hat. Zudem muss
dringend ein Budget für daskommende
Jahr verabschiedet werden.
Wie viel Gestaltungsspielraum die
neueRegierung darüber hinaus haben
wird, ist unklar – und ebenso, ob sie
überhaupt bis zum Ende der Legisla-
tur im Dezember 2020 im Amt blei-
ben wird. DieRufe nach vorgezogenen
Neuwahlensind bereits jetzt deutlich zu
vernehmen.Tr otz den erfreulichen Ent-
wicklungen der letzten Monate bleibt
dieLage inRumänien volatil.

Das Silicon Va lley spaltet die Demokraten


IT-Millionäre zählen zu den wichtigstenGeldgebern der Partei – das Verhältnis hat sich jedoch eingetrübt


MARIE-ASTRID LANGER


Es waren Schlagzeilen, die Mark
Zuckerbergeigentlich vermeiden wollte:
DerFacebook-Chef habe demWahl-
kampfteam des demokratischen Prä-
sidentschaftsanwärtersPete Buttigieg
Mitarbeiter vermittelt, titelte Bloom-
bergvor wenigenTagen.Auf persön-
liche Empfehlungvon Zuckerbergund
seinerFrau Priscilla Chan hin arbeiteten
nun zwei Bekannte für den aufstreben-
den Demokraten. In einerFacebook-
Telefonkonferenz noch am gleichenTa g
versuchte Zuckerberg,die Meldungen
herunterzuspielen:Weder er nochFace-
book würden sich hinter einen bestimm-
ten Kandidaten stellen.
Im derzeitigen gespaltenen politi-
schen Umfeld bemüht sichFacebook
tunlichst, jeglichen Anschein einer Be-
vorzugung eines Kandidaten zu vermei-
den.Vehement streitet Zuckerbergseit
Monaten ab,seinNetzwerk zensiere
die freieRede vonKonservativen; ein
Vorwurf, der auch gerne von Präsident
Tr umpkommt. Doch tatsächlich zählt
das SiliconValley seitJahren zu den
wichtigsten Geldgebern demokratischer
Politiker,konkretdie meist wohlhaben-
den Angestellten derTechnologiefirmen
spenden gerne «links»:Wie eine Unter-
suchung der Analysefirma GovPredict
für dieJahre 2004 bis 20 18 zeigt, gingen
90 Prozent der Spenden in diesem Zeit-
raum an demokratische Kandidaten.
Das erklärtsich dadurch, dass das
SiliconValley im progressiven Kali-
fornien beheimatet ist,und die dortige
politische Einstellung spiegeltsich auch
in den Mitarbeitern derTech-Firmen.
Nicht umsonst trägt dieWestküste den
Spitznamen «Left Coast».


«Zerschlagt ‹BigTech›»


Zwarspendenauch dieTechnologie-
firmen selbst über «political action com-
mittees» (PAC) an Kandidaten, aller-
dings bemühen sie sich dabei um poli-
tis cheParität:Wie eineAufstellung der
Nichtregierungsorganisation Open
Secrets zeigt,gaben diegrossenTechno-
logiekonzerne imWahlkampf 2020 bisher
fast gleiche Summen an die beidenPar-
teien. Ein ähnliches Bild zeigt sich für die
vergangenen landesweitenWahlen.
Doch nun ist das SiliconValley selbst
zu einemPolitikum geworden: Einige
linke demokratische Präsidentschafts-
kandidaten profilieren sich imWahl-
kampf mit scharferKritik an denTechno-
logieriesen, allen voran die Senatorin aus
Massachusetts ElizabethWarren. «Die


heutigen grossen Technologiefirmen
haben zu viel Macht – zu viel Macht über
unsereWirtschaft, unsere Gesellschaft
und unsere Demokratie», twitterteWar-
ren imFrühjahr. IhrWahlprogramm sieht
vor, zahlreiche frühereFirmenübernah-
men rückgängig zu machen.
Speziell gegenFacebook führtWar-
ren einen Kleinkrieg,und sie gelobt,
denKonzern imFall ihresWahlsiegs
zu zerschlagen. EineWarren-Präsident-
schaft wäre fürFacebook «richtig doof»,
hatte Zuckerberg bei einer firmeninter-
nenVeranstaltung gesagt, von der spä-
terAudioaufnahmen an die Öffentlich-
keit gelangten, «wir würden uns massiv
gegen eine Zerschlagung wehren».
Vor wenigenTagen gabWarren nun
bekannt, dass sie imWahlkampfkeine
Spenden vonmehrals 200 Dollar von
Technologiefirmen annehmen werde. Be-
reits getätigte Spenden werde ihrWahl-
kampfteam zurückgeben.Damit legt sie
«BigTech» in die gleiche Schublade der
in denAugen der Linken moralisch ver-
werflichen Sektoren wie «Big Pharma»,
«BigBanks» und «Big Oil». Doch nicht
alle Kandidaten haben eine derart feind-

liche Haltung gegenüber denTechnolo-
giekonzernen angenommen – zumal sie
schlichtweg auf die Gelder von dort an-
gewiesen sind, um in dem monatelangen
Wahlkampf zu überleben. Der langjäh-
rige Google-Chef Eric Schmidt war jüngst
Gastgeber für eineFundraising-Veran-
staltung fürJoe Biden, und der Linkedin-
Gründer Reid Hoffmann rührte die
Werbetrommel für Cory Booker.

Buttigieg als idealer Kandidat


SpeziellPete Buttigieg versteht die Geld-
hähne des SiliconValley anzuzapfen –
mehr nochals selbst die kalifornische
Senatorin Kamala Harris. Der 37-jäh-
rige Buttigieg ist für viele Millennials in
Kalifornien eine Identifikationsfigur, zu-
maler homosexuell ist und Kalifornien
Fahnenträger der LGBT-Bewegung ist.
Aus Sicht des SiliconValley sei Butti-
gieg als gemässigter, wirtschaftsfreund-
licher Kandidat der ideale Präsident-
schaftsanwärter, sagte derPolitologe
Raphael Sonenshein von der California
State University in Los Angeles gegen-
über Bloomberg: Anders alsWarren

wolle Buttigieg dieTech-Firmen eben
nicht zerschlagen, sondern besserregu-
lieren.«Seine Botschaft passt zum Zeit-
geist der Innovation und zu einem nach
vorne gewandten Blick.» SeinWahl-
kampf-Manager sagte im Frühjahr
gegenüber der Associated Press:«Wir
wollen einenWahlkampf,der sichein
wenig ‘disruptive’anfühlt, unternehme-
risch eben. Derzeit fühlt es sich an wie
ein Startup.» Die Strategie zahlt sich für
Buttigieg buchstäblich aus: Er hat schon
fünf Mal so viele Spendengelder aus dem
SiliconValley erhalten wie der derzeitige
FrontrunnerJoeBiden.
Eine Neuerung imWahljahr 2020
könnte den Geldgebern aus dem Sili-
conValley eine noch grössere Hebel-
wirkung verschaffen: Im demokratischen
Vorwahlkampf 2020 stimmt Kalifornien
nicht mehr als Schlusslicht imJuni ab,
wenn der Spitzenreiter der Demokraten
quasi schon feststeht, sondern erstmals
deutlich früher, am «SuperTuesday». Die
Stimmen der Bürger im bevölkerungs-
reichsten Gliedstaat dürften so gewichti-
ger in derFrage sein, wer sich als Heraus-
forderer von DonaldTrumpdurchsetzt.

Pete Buttigiegzeigt sic hdem SiliconValley gegenüberwohlgesinnt–andersals einigeseiner Konkurrenten. DANIEL ACKER / BLOOMBERG

Labour will


schnelle Brexit-


Abstimmung


Mit einem ambitionierten
Mittelwegin denWahlkampf

BENJAMIN TRIEBE, LONDON

Endlich das Brexit-Chaos beenden– mit
diesemVersprechen schaffte es Boris
Johnson im Sommer, britischer Premier-
minister zu werden. Mit einem ähnlichen
Versprechen versucht nun derLabour-
ChefJeremy Corbyn, ihn imWinter zu
verdrängen. Zum Wahlkampfauftakt
legte derFührer der grössten Opposi-
tionspartei am Dienstag einen Zeitplan
vor, der ähnlich ambitioniert ist wie sei-
nerzeit jener vonJohnson: DerRegie-
rungschef wollte in drei Monaten den
Austrittsvertrag mit der EU neu verhan-
deln,was ihm überraschend gelang. Cor-
byn möchte innerhalb vonsechsMona-
teneine Brexit-Volksabstimmung abhal-
ten, undes wäre ähnlich überraschend,
wenn er das hinbekäme.

GespaltenePartei


Jeremy Corbyn ist um seineLage vor
den im Dezember anstehenden Neu-
wahlen nicht zu beneiden: DieLabour-
Partei und ihreWähler sind gespalten in
Anhängerund Gegnerdes EU-Austritts.
Bei denKonservativen sind hingegen
die Brexit-Befürworter in der Mehrheit,
die Brexit-Partei verspricht einen harten
Schnitt, und die Liberaldemokraten und
die Scottish NationalParty (SNP) bedie-
nen ausschliesslich das «Remain»-Lager.
Die Befürchtungen in derPartei sind
gross, Labourkönnte zwischen diesen
Blöcken zerrieben werden. Corbyn hat
sich deshalb für einen Mittelweg ent-
schieden:Labour befürwortetden Bre-
xit, möchte Grossbritannien allerdings
in der EU-Zollunion verbleiben lassen
und dasLand eng an den EU-Binnen-
markt binden.Wenn das mit der EU
arrangiert wordenist, soll es demVolk in
einemReferendum präsentiert werden,
zusammen mit der Option auf einen
Verbleib in der EU.Wie derLabour-
Chef nunkonkretisierte, sollen dieVer-
handlungen mit Brüssel innerhalb von
drei Monaten abgeschlossen werden.
Das ist nicht ganz aus der Luft gegriffen,
denn das künftigeVerhältnis zur EU
wird nicht imAustrittsvertrag rechtlich
verbindlich fixiert, sondern nur in einer
politischen Absichtserklärung umrissen.
Allerdingsist esaus organisatori-
schen Gründen sehr schwierig, eine
Volksabstimmung innerhalb von sechs
Monaten aufzugleisen. Zwischen dem
Parlamentsentscheid für das erste Bre-
xit-Referendum und seinem tatsäch-
lichenVollzug im Sommer 20 16 lag rund
einJahr. Corbyn wies Bedenken mitdem
Argument zurück, dieVorbereitungen
würden nach seinem Amtsantrittsofort
beginnen und parallel zu denVerhand-
lungen mit der EU stattfinden. Doch
wie die Strategie vonLabour ausfallen
wird, wenn ihm dasVolkkeineParla-
mentsmehrheit beschert – worauf der
gegenwärtigeRückstand in den Umfra-
gen schliessen lässt –, darauf wollte sich
der70-jährige Oppositionsführer nicht
festlegen.Theoretisch wäre eineKoali-
tion mit anderenParteien möglich.

Absage derLiberaldemokraten


Zu diesenParteien zählen die Libe-
raldemokraten, gegenwärtig die viert-
stärkste Kraft im Unterhaus. DiePartei-
chefinJo Swinson eröffnete am Dienstag
ebenfalls denWahlkampf und wieder-
holte ihren unrealistischen Anspruch, Pre-
mierministerin zu werden. Ziel derPartei
ist die Absage des EU-Austritts. Swinson
lehnte es kategorisch ab, mitLabour zu
koalieren – nicht nur wegen des Brexits,
sondern auch wegen Corbyns sozialistisch
anmutenderWirtschaftsagenda.
Doch dass ihrePartei eineLabour-
Regierung ohne Corbyn temporär dul-
den würde, um den Brexit-Befürworter
BorisJohnson von der Macht fernzuhal-
ten, wollte sienicht explizit verneinen.
Auch nannte sie nochkeine Details über
Wahlabsprachen mit kleinerenParteien,
die ebenfalls den Brexit verhindern wol-
len. Nur dassLabour nichtTeil dieser
Absprachen sein wird, darin warSwin-
son deutlich.
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