Neue Zürcher Zeitung - 06.11.2019

(Michael S) #1

Mittwoch, 6. November 2019 INTERNATIONAL


Cortés bereit ete der Globalisierung den Weg


Vor 500 Jahren zogen die Spanier in d ie Hauptstadt der Azteken ein und begründeten die weltweite Vorherrschaft Europas


WERNERJ.MARTI


Tenochtitlán, die Hauptstadt des Azte-
kenreichs, muss eine äusserst eindrucks-
volle Erscheinung gewesen sein.Die spa-
nischen Eroberer unterHernán Cortés
ha tten noch nie so etwas gesehen. Bei
ihrer Ankunft am 8. November 1519
zählte die Stadt rund 200000Ein wohner.
Damit war die heute als Mexiko-Stadt
bekannte Metropole damalsdie grösste
Stadt auf dem amerikanischenKonti-
nent, weit grösserauch als fast alle euro-
päischen Städte. Doch nicht nur wegen
ihrer Grösse beeindruckte die Stadt die
Spanier, sondern auch wegen ihrerLage,
ihres Reichtums und ihrer akribischen
Organisation.Auf einer grossen Insel im
Texcoco-See gelegen, wurde sie durch
drei grosseDämme vom Ufer her er-
schlossen. Besonders staunten die Spa-
nier über den riesigen Markt, auf dem
alles zum Leben Notwendige feilgebo-
ten wurde und jederWare ihr festerPlatz
zugewiesen war. Das Zusammentreffen
von Cortés mitKönig MoctezumaII. in
Tenochtitlán besiegelte das Ende des
Aztekenreichs und den Beginn der welt-
weitenDominanzder Europäer.


LockrufdesGoldes


Cortés war am 10.Februar 1519 mit elf
Schiffen und rund 600 Spaniern von
Santiago de Cuba aus in See gestochen.
Mit dabei waren als Bedienstete auch
200 Taíno-Indianer und eine unbekannte
Zahl schwarzafrikanischerSklaven.Aus-
serdem führten die Eroberer16 Pferde,
4 leichte Kanonen, 32 Armbrüste und
13 Gewehre mit. Cortés’Auftrag war
die Erkundung der südöstlichenKüste
von Mexiko zwischenYucatán undVe-
racruz.Wie in der spanischen Conquista
üblich, hatte seine Expedition zwar den
Segen der Krone, wurde aber auf privat-
wirtschaftlicherBasis durchgeführt.
Die Ereignisse während desFeldzuges
wurden von Bernal Díaz del Castillo,
einem Untergebenen von Cortés, in einer
Chronik sehr detailliert festgehalten. Es
handelt sich natürlich um eine spanische
Sichtweise. Doch sie wurde mehrals drei
Jahrzehnte nach den Ereignissen nieder-
geschrieben und dürfte deshalb weniger
von denAmbitionen derKonquistadoren
beeinflusst sein als etwa die damaligen
Briefe von Cortés an denKönig. Díaz del
Castillo scheut sich auch nicht, Negatives
über die Eroberer zu berichten, wieetwa
die ständigen internenKonflikte und häu-
figen Gehorsamsverweigerungen. Die
Zitate imFolgenden sind diesemAugen-
zeugenbericht entnommen.
Während ihrer Erkundung der mexi-
kanischenKüste hörten dieKonquista-
doren von der lokalen indianischen Be-
völkerung immer wieder von der Azte-
kenhauptstadtTenochtitlán, die grosse
Mengen an Gold und anderen Reichtü-
mern besitzen soll. Nachdem er beiVe-
racruz eine Siedlung gegründet hatte, be-
schloss Cortés in Überschreitung seines
Mandats, mit dem Gros seiner Leute zu
dieser Stadt zu ziehen. Um eineRebel-
lion unter seinen Leuten zu verhindern,
liess er kurzerhand die Schiffe zerstören.
Damit war derRückweg nachKuba abge-


schnitten.Der fast dreimonatige Marsch
nachTenochtitlán forderte ihnen alles ab.
Immer wieder mussten sie gegen India-
nervölker kämpfen, zumeist in gros-
ser Unterzahl. Drei besonders schwere
Schlachten schlugen sie gegen die Tlax-
calteken, deren Anzahl Krieger Díaz del
Castillo auf 50 000 schätzte:
Im Nuwaren wir von allen Seiten von
Heeresmassen eingeschlossen, die 25
Quadratkilometer der Ebene füllten.
In der Mitte standunser Häufchen
von 400 Mann.
Trotzdem blieben sie letztlich sieg-
reich undkonnten die Tlaxcalteken als
Verbündete gewinnen.Mit mehreren
tausend ihrer Krieger zogen sie darauf
weiter Richtung Mexiko-Stadt. Es ist bis
heuterätselhaft, wie eine Gruppe von
wenigen hundert spanischen Abenteu-
rern es schaffenkonnte, in allen Schlach-
ten mit übermächtigen, feindlich ge-
sinnten indianischen Kriegervölkern
die Oberhand zu behalten und bis nach
Mexiko-Stadt durchzumarschieren.
Die krasse zahlenmässige Unter-
legenheit wurde teilweise wettgemacht
durch die bessereAusrüstung,insbe-
sondere mit Pferden undFeuerwaffen.
Auch gelang es den Spaniern immer

wieder, Völker , die mit den Azteken
verfeindet waren, auf ihre Seite zu zie-
hen. Sie waren deshalb innerhalb der
gegen die Azteken kämpfendenTrup-
pen bald nur noch eine kleine Minder-
heit. Bei denVerhandlungen mit diesen
Völkern spielte eineFrau wohl eine ent-
scheidendeRolle. Cortés’ Übersetzerin
Malinche (oder Marina), eine indiani-
sche Sklavin, die er vonYucatán mitge-
bracht hatte, war weit mehr als Dolmet-
scherin,sie war seine Beraterin, «Chef-
diplomatin» und auch Geliebte.

In göttlicher Mission


Nicht unterschätzt werden darf auch
ein psychologischerFaktor. Cortés und
seine Leutewaren absolut davon über-
zeugt, dass sieeine göttliche Mission zur
Christianisierung von Heiden ausführ-
ten und damit den Schutz des Allmäch-
tigen genossen. So wagten sie es, trotz
ihrer geringen Anzahl geradewegs in die
Hauptstadt der Azteken zu marschieren:
Der Gedanke an denTod beschäftigte
uns alle.[. ..]DasfesteVertrauen auf
unseren Herrn Christus gab uns immer
wieder die Hoffnung, dass er unsauch
in dieser Gefahr vor der Übermacht
der Mexikaner schützen werde.
Am 7. November 151 9 kamensie
schliesslich amTexcoco-See an:
Am nächsten Morgenerreichten wir die
Hauptstrasse nach Iztapalapa.Von dort
aus sahen wir zum ersten Mal die grosse
Zahl der Städte undDörfer, die mitten
in den See gebautwaren, und die noch
weitaus grössere Zahl der Ortschaf-
ten an den Ufern, und schliesslich die
sehr gepflegte,kerzengerade Strasse, die
in die Stadt Mexiko führte.Wir waren
bass erstaunt über dieses Zauberreich.
Hoch undstolzragten die festgemau-
erten,steinernenTürme, Tempelund
Häuser mitten aus demWasser.[. ..]
Wir wurden in Iztapalapa inwahren
Palästen einquartiert, in riesigenBau-
ten aus schön behauenen Quaderstei-
nen, die mit Holzwerk aus Zedern und
anderenwohlriechenden Hölzern aus-
geschmückt waren.Alle Gemächer
waren mit baumwollenenTapeten be-
hangen. Zu diesenPalästen gehörten

herrliche Gartenanlagen mit vieler-
lei blühendenBäumen,Rosenhecken
und Blumenbeeten, mit Obstgärten und
einemTeich,der durch einen Kanal mit
demSee verbundenwar.[. ..]Auf den
verschiedenen Gewässern schwammen
vielerleiVögel.Alleswar so schön und
anmutig, dass man sich gar nicht satt-
sehen konnte.
Am darauffolgendenTag zogen die
Spanier friedlich inTenochtitlán ein, und
wurden von Moctezuma empfangen:
Moctezuma sass auf einem überaus
kostbarenTragsessel, umgeben von
anderen Grossen seinesReiches, und
kam langsam auf uns zu.Als wir die ers-
tenTürme der eigentlichen Stadt Mexiko
erre ichten,stieg er von seinem Sessel,die
vornehmsten Kaziken fassten ihn unter
dem Arm und führten ihn unter einen
prächtigenBaldachin, der mit grünen
Federn, feinem goldenen und silbernen
Schnitzwerk, mitPerlen und Edelstei-
nen reich geschmücktwar.[. ..]Zahlrei-
che andere Grosse umgaben den Herr-
scher, breiteten vor ihm kostbareTücher
auf denBoden, damit sein Fuss nicht
die nackte Erde berühren müsse, und
trugen seinenBaldachin.[. ..]Als man
Cortés meldete, dass Moctezuma selbst
in der Nähe sei, stieg er vom Pferd und
ging ihm zu Fuss entgegen. Nun gab es
von beiden Seiten grosseBegrüssungs-
zeremonien. Moctezuma hiess Cortés
willkommen, und letzterer antwortete
durch Marina,er wünsche, dass Mocte-
zuma sichwohl befinde.
Moctezuma führte Cortés und seine
Leute darauf in die Stadt und quar-
tierte sie imPalast seines verstorbe-
nenVatersein. Die Spanier blieben
fastachtMonate inTenochtitlán, führ-
ten sich aber ziemlich ungehörig auf.
Laut Díaz del Castillo nahmen sie ihren
Gastgeber Moctezuma fest und hielten
ihn im ihnen zugewiesenenPalast als
Geisel.
In denTempeln zerstörten sie die
religiösenFiguren der Azteken. Als
Reaktion auf grausame Menschenopfer
bei einerreligiösen Zeremonie töteten
sie Priester und anderePersonen aus
der aztekischen Elite.Auch Moctezuma
selber kam unter ungeklärten Umstän-

den ums Leben. Schliesslich mussten
sie aber am 30.Juni1520 bei Nacht
und Nebel aus der Stadt fliehen. Beim
Rückzugsgefecht wurden mehrere hun-
dert Spanier und über 2000 ihrer india-
nischenVerbündetengetötet. Doches
war nur ein vorübergehender Sieg der
Azteken. Cortés schloss neue Bünd-
nisse mit ihrenFeinden und erhieltVer-
stärkung durch spanische Neuankömm-
lin ge.Ab Mai1521 belagerte er mit
zahlreichen indianischenVerbündeten
Tenochtitlán zuWasser und zuLand,
am 13.August fiel die durch eine Epi-
demie geschwächte Stadt. Die Spanier
machten Mexiko zumVizekönigreich
Nueva España.
Cortés’ Eroberung von Mexiko
führte zu einer grundlegenden Neuord-
nung des globalen Machtgefüges. Zwölf

Jahre später fiel nämlich auch die zweite
lateinamerikanische Grossmacht, das
Reich der Inka, in die Hände der Spa-
nier. Die beiden Gebiete mit ihrenrei-
chen Gold- und Silbervorkommen wur-
den zu Zentren im spanischenKolonial-
reich, dem ersten Imperium, in dem die
Sonne nie unterging. Es war so etwas
wie der Startschuss für die Globalisie-
rung. Mit dem anbrechenden Zeitalter
desKolonialismus etablierte sich die
weltweiteVorherrschaft Europas.
BernalDíazdel Castillo:DieEroberungvon
Mexiko. Herausgegebenvon Georg A.Narciss.
Insel-Verlag, Frankfurt amMain 20 17.
VitusHuber:DieKonquistadoren. Cortés,
PizarrounddieEroberungAmerikas. Verlag
C.H.Beck, München 2019.

Derspanische Eroberer Hernán Cortésreicht am 8. November1519 inTenochtitlán dem AztekenkönigMoctezumaII. die Hand. ALAMY

NZZ Visuals/lea.

Cortés'Marsc hauf Mexiko


500 Kilometer

Mexiko-Stadt
(Tenochtitlán)
Paso de Cortés

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MEXIKOMEXIKO

Eroberungszüge als Joint Ventures


wjm.·Bei den Eroberungszügen der
Konquistadoren handelte es sichnicht
umreguläre militärische Operationen.
Der in Harvard und an der Universität
Bern forschende HistorikerVitus Huber
korrigiert dieses Bild mit einem kürzlich
erschienenen Buch und bringt neues
Licht in dieWelt der spanischen Erobe-
rer. Er weist auf denJoint-Venture-Cha-
rakter dieser Unternehmen hin.
Die spanische Krone erteilte nor-
malerweise nur die Bewilligung für das
Unternehmen.Diese erlaubte einem
Lizenznehmer, eine Expedition auszu-
rüsten und die nötigen Leutezumobili-
sieren. Die Schiffe musste er in derRe-
gel selbst finanzieren. Die übrigenTeil-
nehmer mussten für sich selbst aufkom-
men.Als Gegenleistung für dieVergabe


der Lizenz erhielt der spanischeKönig
einenTeil der Kriegsbeute. DerRest
wurde bereits vor der Expedition nach
festenProzentsätzen auf dieTeilnehmer
aufgeteilt.Dabei erhielt ein Eroberer
umso mehr, je mehr er selbst Mittel ins
Unternehmen eingebracht hatte. Beson-
ders hochangerechnet wurde der Besitz
eines Pferdes oder besondererWaffen.
Die meistenKonquistadoren waren
mili tärisch unerfahren. Sie kamen aus
zivilen Berufen.Als der wichtigste Be-
weggrund zu ihrerTeilnahme an einem
Eroberungszug lässt sich «das Stre-
ben nach materieller Bereicherung und
sozialer Statuserhöhung» (Vitus Huber)
nennen. Die EroberungLateinamerikas
verlief also nicht nach einem vorgegebe-
nen Generalplan der spanischen Krone.
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