Die Welt Kompakt - 31.10.2019

(Brent) #1

24 BÜCHER DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT DONNERSTAG, 31. OKTOBER 2019


D

er Weg zu Isabel Al-
lende führt über die
Golden Gate Bridge,
dann die Serpenti-
nenstraße nach Sausalito hinun-
ter – eine Kleinstadt mit Blick
auf die Bucht. Isabel Allende
empfängt uns in einem holzbe-
schlagenen, viktorianischen Ge-
bäude. Ihr Arbeitshaus, wie sie
betont. An den Wänden hängen
große Fotos. Eines zeigt sie mit
Barack Obama, der ihr die Medal
of Freedom überreicht. Auf ei-
nem anderen ist sie mit Antonio
Banderas zu sehen, der in der
VVVerfilmung ihres Debüts „Daserfilmung ihres Debüts „Das
Geisterhaus“ mitwirkte.


VON STEFAN AUST
UND MARTIN SCHOLZ

In ihrem aktuellen Roman
„Dieser weite Weg“ (Suhrkamp,
3 81 S., 24 €) beschäftigt sie sich
ein weiteres Mal mit den Folgen
der Pinochet-Diktatur und geht
doch weit darüber hinaus. Die
7 7-Jährige, Nichte zweiten Gra-
des des 1973 ermordeten chileni-
schen Präsidenten Salvador Al-
lende, beschreibt den Leidens-
weg zweier Flüchtlinge aus Spa-
nien, die vor dem Franco-Re-
gime nach Chile flohen – auf ei-
nem Flüchtlingsschiff, das der
spätere Literaturnobelpreisträ-
ger Pablo Neruda organisiert
hatte. In den Siebzigerjahren
mussten sie dann abermals flie-
hen – vor Pinochet. Flucht, Ver-
treibung, irgendwo ankommen
und doch nie wirklich zu Hause
sein – es sind die Lebensthemen
der Isabel Allende.
Zur Zeit unseres Interviews in
Sausalito war in Teilen ihrer Hei-
mat Chile noch nicht der Ausnah-
mezustand verhängt worden, die
Fernsehsender hatten noch keine
brennenden Fahrzeuge, Tränen-
gaswolken und Panzer gezeigt.
Isabel Allende hat Ähnliches er-
lebt, als sie 1975 vor der Pinochet-
Diktatur fliehen musste. Sie hat
uns dieses Interview daher aktua-
lisiert, zusätzliche Fragen zu der
aktuellen Lage beantwortet.


WELT: In Chile sind bei Mas-
senprotesten gegen soziale Un-
gleichheit 15 Menschen ums Le-
ben gekommen. Präsident Se-
bastián Pinera hat Panzer ge-
gen Demonstranten eingesetzt.
Jetzt hat er ein Paket von Sozi-
alreformen angekündigt.
Fürchten Sie eine Destabilisie-
rung Chiles wie zu Pinochets
Zeiten?
ISABEL ALLENDE: Ich hoffe,
dass die Regierung und die wohl-
habende politische Klasse in
Chile dem Volk zuhören. Die tie-
fffer reichenden Gründe für dieseer reichenden Gründe für diese
Krise sind eine Chancen- und
AAAusweglosigkeit, denen sich 80usweglosigkeit, denen sich 80
Prozent der Bevölkerung ausge-
setzt fühlen. Das sind Menschen,
die von Krediten leben müssen,
die schändlich niedrige Einkom-
men und Renten haben. Dies al-
les sind die natürlichen Folgeer-
scheinungen eines Neoliberalis-
mus, der Profit und Gier über al-
les andere stellt. In Chile sind
nahezu alle Bereiche entweder
verkauft oder privatisiert wor-


den: Wasser, Gas, Elektrizität,
das Gesundheitswesen, Bildung,
VVVerkehr. Ein Großteil der Bevöl-erkehr. Ein Großteil der Bevöl-
kerung kann sich ein menschen-
wwwürdiges Existenzminimumürdiges Existenzminimum
nicht mehr leisten, während die

Reichen in einer Blase leben und
es schaffen, Steuern zu vermei-
den und von der Korruption zu
profitieren. Repressionen gegen
die Demonstrierenden werden
diese Krise nicht beenden.

Dabei galt Chile zuletzt als Vor-
zeigeland Lateinamerikas, si-
cher, stabil, mit hohem Wirt-
schaftswachstum. Wie erklären
Sie sich diese für viele sehr
plötzliche Eruption der Gewalt?

Dieser Wohlstand hat sich nur in
Statistiken und Büchern be-
merkbar gemacht. In Chile gras-
siert eine wild wuchernde Un-
gleichheit. Die Einkommensun-
terschiede zwischen Reichen

„In Chile grassiert


eine wild wuchernde


Ungleichheit“


Sie floh vor der Pinochet-Diktatur, wurde später US-Staatsbürgerin.


Seitdem lebt Isabel Allende zwischen den Welten. Ein Gespräch über


die Unruhen in Chile und Pablo Nerudas vergessenes Flüchtlingsschiff

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