Die Welt Kompakt - 31.10.2019

(Brent) #1

DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT DONNERSTAG, 31. OKTOBER 2019 BÜCHER 25


und normal arbeitenden Men-
schen sind zum Erbarmen
schrecklich.


Sie sind mit der früheren chile-
nischen Präsidentin Michelle
Bachelet befreundet, die heute
fffür die Vereinten Nationen ar-ür die Vereinten Nationen ar-
beitet. Haben Sie sich mit ihr
wegen der aktuellen Eskalation
ausgetauscht?
In letzter Zeit habe ich nicht mit
ihr gesprochen, aber ich bin mir
sicher, dass Sie darüber genauso
besorgt ist, wie ich es bin. Diese
Krise kann von der faschisti-
schen Rechten benutzt werden,
um einen Unterdrückungsstaat
zu schaffen, statt zu versuchen,
die fundamentalen Nöte der Be-
völkerung zu lösen.


In Ihrem neuen Buch beschrei-
ben Sie einen Unterdrückungs-
staat in der Vergangenheit: Die
Militärdiktatur Pinochets
zwingt Ihren Romanhelden
Victor zur Flucht nach Vene-
zuela – so wie es Ihnen selbst
Mitte der Siebzigerjahre wider-
fffahren ist. Heute ist in Vene-ahren ist. Heute ist in Vene-
zuela unter dem Sozialisten


Maduro ebenfalls eine Diktatur
entstanden. Sehen Sie einen
Unterschied zwischen rechten
und linken Diktaturen?
Eine rechte Diktatur ist gewöhn-
lich straffer organisiert. Von ei-
nem autoritären Standpunkt aus
betrachtet, könnte man viel-
leicht sogar sagen, dass sie bes-
ser funktioniert. Aber die Le-
bensumstände für all die Men-
schen, die diese Repressionen
ertragen müssen, sind in beiden
Fällen dieselben.

Im Venezuela ist die Lage we-
gen der anhaltenden Wirt-
schaftskrise, der Sanktionen
und des innenpolitischen
Machtkampfes weiterhin deso-
lat. Es ist seit Langem unklar,
wie dieses Drama enden wird.
AAAber es wird enden. In Chile hat-ber es wird enden. In Chile hat-
ten wir 17 Jahre lang eine Dikta-
tur. Sie war sehr effizient. Sie
kontrollierte alles: Andere poli-
tische Parteien waren nicht er-
laubt, kein Kongress, kein unab-
hängiges Rechtssystem, es gab
keine Pressefreiheit – jegliche
Freiheit war untersagt. Und den-
noch endete diese Diktatur. Ob-

wohl mir dies lange Zeit unmög-
lich schien, weil sie einfach alles
kontrollierte. Aber das Ende für
Pinochet kam. Auch die Situati-
on in Venezuela wird bald en-
den, einfach deshalb, weil sie un-
tragbar geworden ist.

Die Lage in Venezuela hat mehr
als 4,5 Millionen Menschen in
die Flucht getrieben. In Ihrem
neuen Roman erinnern Sie
jetzt an eine vergessene Flücht-
lingskrise – als 1939 während
des Spanischen Bürgerkriegs
mehr als eine halbe Million
Menschen ins Nachbarland
Frankreich flohen.
Ja.

Sie zeigen das Gegenteil einer
„Refugees Welcome“-Kultur.
Frankreich war überfordert,
brachte die Menschen in völlig
unzulänglichen Lagern an der
KKKüste unter, viele verhunger-üste unter, viele verhunger-
ten, starben an Krankheiten,
Kälte oder Hitze.
Schon in den Anfängen des Spa-
nischen Bürgerkriegs hatten
viele spanische, baskische und
katalanische Flüchtlinge ihr
Land in Richtung Frankreich
verlassen, konnten sich in die
Gesellschaft dort integrieren.
Als aber der Diktator Franco
1 939 das ganze Land unterwarf
und auf Barcelona vorrückte,
ffflohen mit einem Mal eine halbelohen mit einem Mal eine halbe
Million Menschen über die
Grenze. Auf diese Invasion der
VVVerzweifelten war Frankreicherzweifelten war Frankreich
nicht vorbereitet. Sie hatten mit
1 0.000, vielleicht 15.000 gerech-
net, nicht mit 500.000. Sie
wwwussten nicht, was sie mit allussten nicht, was sie mit all
diesen Menschen machen soll-
ten. Die Lebensbedingungen in
den von Stacheldraht umgebe-
nen Lagern waren grauenvoll.
Viele Menschen starben, vor al-
lem Kinder. Ich habe für mein
Buch in den Regionen selbst re-
cherchiert, mit Menschen ge-
sprochen, die all dies miterlebt
hatten. Aber meine wichtigste
Informationsquelle war Victor
Pey, ein langjähriger Freund,
den ich Mitte der Siebziger im
politischen Asyl in Venezuela
kennengelernt hatte.

Und der Sie dann zu Ihrer Ro-
manfigur, dem spanischen Me-
diziner Victor Dalman, inspi-
rierte.
Und in Chile musste er Jahr-
zehnte später abermals vor einer
Diktatur fliehen. Pinochet
zwang ihn ins Exil nach Vene-
zuela, wo er mir seine Geschich-
te erzählte. Ich habe sie seit 40
Jahren in mir getragen.

WWWarum haben Sie so lange ge-arum haben Sie so lange ge-
wartet?
Ich habe so viele Geschichten in
mir, Tausende Geschichten. Es
hat wohl damit zu tun, dass heu-
te wieder ständig über Flücht-
linge diskutiert wird. Ich spürte
eine Dringlichkeit, diese Ge-
schichte aufschreiben zu müs-
sen.

In Ihrem Roman ist Victor in
Chile ein renommierter Herz-
chirurg, der nach dem Putsch

einem seiner früheren Feinde
das Leben rettet, indem er ihn
operiert. Ist das magischer
Realismus, etwas, das Sie sich
ausgedacht haben?
Nein, das ist meinem Freund tat-
sächlich so passiert. Er gehörte
tatsächlich zu den besten Herz-
spezialisten Chiles. Und er hat
das Leben eines Menschen ge-
rettet, der ihn gefoltert hatte.
Das habe ich nicht erfunden.
Selbst mir würde die Vorstel-
lungskraft fehlen, mir etwas Der-
artiges auszudenken.

Sie erzählen auch die Geschich-
te, wie Pablo Neruda 1939 nach
Paris entsandt wurde, um von
Frankreich aus mit dem Damp-
fffer „Winnipeg“ 2200 Bürger-er „Winnipeg“ 2200 Bürger-
kriegsflüchtlinge aus Spanien
nach Chile zu bringen. Es war
ein humanitärer Akt, allerdings
in einem fest abgesteckten
Rahmen: Neruda sollte eine
AAAuswahl treffen ...uswahl treffen ...
Er sollte vor allem Facharbeiter
auswählen, die in Chile ge-
braucht wurden. Er sollte aus-
drücklich keine Menschen neh-
men, die für ein bestimmtes Ge-
dankengut standen. Was schon
verrückt war. Denn die meisten
waren ja vor der Franco-Diktatur
geflohen, weil ihre Ansichten
dort nicht mehr erlaubt waren.
Wie sollte man anhand solcher
VVVorgaben auslesen? Nerudaorgaben auslesen? Neruda
wählte zwar jene Berufsgruppen
aus, die man ihm vorgegeben
hatte, aber eben auch Intellektu-
elle, Künstler, Wissenschaftler,
Professoren, Journalisten, Men-
schen, die er aus seiner Zeit, die
er in Spanien verbracht hatte,
kannte. Und das waren Men-
schen, die Chile später zum Bes-
seren veränderten.

Ist Nerudas Aktion vergleich-
bar mit der heutigen Situation,
in der Rettungsschiffe regelmä-
ßig Hunderte von Flüchtlingen
und Migranten im Mittelmeer
aufgreifen und vor dem Ertrin-
ken bewahren?
Schauen Sie, die Leute sprechen
heute doch nur deshalb von ei-
ner Flüchtlingskrise, weil die
Flüchtlinge jetzt erstmals in gro-
ßen Mengen vor den Toren Eu-
ropas und an der Grenze der
USA stehen. Dabei gab es schon
immer große Flüchtlingsbewe-
gungen – in Asien, in Südameri-
ka und in Afrika. Die Gründe da-
fffür sind immer dieselben: Men-ür sind immer dieselben: Men-
schen fliehen aus politischen
Gründen, vor Gewalt, Armut,
Sklaverei, vor Dürre und ande-
ren Klimafolgen. Aber erst jetzt,
da all diese Menschen für alle
sichtbar dem Westen so nahe
kommen, reden wir von einer
Krise. Niemand verlässt sein
Haus, seine Heimat, in der seine
Sprache gesprochen wird, wenn
er nicht ums sein Leben fürch-
tet. Ohne die Pinochet-Diktatur
hätte ich nie mein Heimatland
verlassen. Ich floh, weil ich in
Panik war.

Sie hatten in Chile Verfolgte
versteckt. Als das herauskam,
mussten Sie mit Inhaftierung
oder Schlimmerem rechnen.

Ja. Und ich floh zuerst alleine
nach Venezuela. Mein Ehemann
und meine beiden Kinder folgten
mir erst später. Anfangs dachten
wir noch, wir würden zurück-
kehren, hofften, dass diese Dik-
tatur nicht so lange dauern wür-
de. Wir blieben 13 Jahre.

Als Sie in den Siebzigern nach
VVVenezuela flohen, waren Sie einenezuela flohen, waren Sie ein
politischer Flüchtling, als Sie
1 988 in die USA kamen, waren
Sie eine Einwanderin. Beides
wird in gegenwärtigen Debat-
ten oft vermischt.
Ja, und genau dann wird es kom-
pliziert. Ich weiß, wovon ich re-
de, denn ich war, wie Sie richtig
sagen: beides – politischer
Flüchtling und Einwanderin. Das
sind zwei völlig verschiedene
Dinge. Ein Flüchtling muss seine
Heimat oft überhastet verlassen,
Besitztümer, eigentlich alles zu-
rücklassen. Und die meisten po-
litischen Flüchtlinge möchten in
ihre Heimat zurückkehren. Zur
WWWahrheit gehört auch, dass einahrheit gehört auch, dass ein
Flüchtling heute im Durch-
schnitt 25 Jahre lang fern von
seiner Heimat lebt.

Also im Prinzip: für immer?
Das heißt: Sie kehren gar nicht
mehr zurück. Und wenn sie es
doch tun, werden ihre Kinder ih-
nen nicht folgen. Und ihre Enkel
wissen gar nicht mehr, wo diese
Heimat liegt. Die Vertreibung ist
dauerhaft. Mit Migranten ver-
hält es sich anders: Die meisten
sind jung, gesund, sind auf der
Suche nach einem besseren Le-
ben. Sie werden von einem ge-
wissen Abenteuertum angetrie-
ben. Sie ziehen los, um sich in je-
nem Land, das sie ausgewählt
haben, zu etablieren. Und: Sie
schauen in die Zukunft, nicht in
die Vergangenheit. Ich selbst bin
nur deshalb in den USA geblie-
ben, weil ich mich in einen Mann
verliebt hatte, der mein zweiter
Ehemann wurde. Ich bin nicht
hergekommen, weil ich Amerika
oder den amerikanischen Traum
so liebte.

Sie haben mal gesagt, in Chile
wwwürde man Sie als Yankee be-ürde man Sie als Yankee be-
trachten, in den USA dagegen
als Latina. Was macht das mit
Ihnen?
Ich bin überall eine Fremde. So
ist das nun mal. Aber hier in Ka-
lifornien fühle ich mich sehr
wohl. In anderen Teilen der
USA, vor allem im Süden, fühle
ich mich nicht immer so wohl.
Ich spreche nach wie vor Eng-
lisch mit Akzent. Man kann mich
also leicht als Fremde identifi-
zieren. Für mich persönlich ist
das nicht schlimm, denn ich
kann hier für mich selbst sorgen,
habe Ressourcen, meine Familie,
meine Freunde. Anderen mit ei-
nem ähnlichen Background geht
es in den USA sehr viel schlech-
ter. Deshalb kümmere ich mich
mit meiner Stiftung um Flücht-
linge wie auch um Migranten aus
Lateinamerika, denn viele von
ihnen haben in den USA ein sehr,
sehr schweres Leben. Und seit
Trump regiert, wird es ihnen
noch schwerer gemacht.

„Ich war beides – politischer Flücht-
ling und Einwanderin“:Isabel Allende

LORI BARRA
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