Süddeutsche Zeitung - 31.10.2019

(Chris Devlin) #1

FEIERTAGSAUSGABE


WWW.SÜDDEUTSCHE.DE HMG MÜNCHEN, DONNERSTAG/FREITAG, 31. OKTOBER/1. NOVEMBER 2019 75. JAHRGANG /44. WOCHE / NR. 252 / 3,30 EURO


Berlins Bäume haben eigentlich einen
mächtigen Schutzpatron. BenWagin, heu-
te 89, hat sich Zeit seines Lebens für sie
eingesetzt. Mehrere Zehntausend von ih-
nen hat der Bildhauer, Zeichner und Akti-
onskünstler in der Stadt gepflanzt. An der
Brandmauer eines Hauses im Bezirk Tier-
garten hat er mit dem „Weltbaum I“ das
erste große Wandbild in Berlin geschaf-
fen – darauf der Auspuff eines Motorrads
und ein schreiender Baum. Bundesweit
ist Wagin daher auch unter dem Titel
„Baumpate“ bekannt.
Doch all der Beistand hat nichts ge-
nutzt: Verstärkt durch die vergangenen
zwei Hitzesommer sterben nicht nur Ber-
lin, sondern allen Städten in Deutschland
die Bäume weg. In Koblenz müssen 500
gefällt werden, in Karlsruhe 1200, in Ber-
lin schwand der Bestand in den vergange-
nen zwei Jahren um rund 7000. Und der
Bergahorn an Würzburgs Straßen, er ist
inzwischen komplett ausgestorben.
Es ist nicht nur die Trockenheit, die
den Großstädtern unter den Bäumen mas-

siv zusetzt. So ist es in heißen Sommern
in den Städten bis zu zehn Grad wärmer
als außerhalb. Da der Beton die Hitze spei-
chert, kühlt es auch nachts nicht mehr ab.
Je mehr die Städte versiegelt werden, des-
to weniger können sich zudem die Wur-
zeln entfalten. Dazu kommen Schäden an
den Rinden durch Falschparker und
Hundeurin; das Streusalz im Winter wie-
derum belastet besonders die Linden. So
werden die Bäume anfällig für Schädlinge
aller Art, in Berlin ist das neuerdings der
Rußrindenpilz. „Also ich bin froh, dass
ich kein Straßenbaum bin“, sagt Derk Eh-
lert vom Umweltsenat.

Ehlert erwartet, dass sich das ganze
Ausmaß der Schäden durch die Hitzesom-
mer erst im nächsten Jahr zeigt: „Bäume
sind nachtragend.“ Das wäre nicht nur für
die Gewächse fatal, denn sie sind für das
Stadtklima essenziell, als Schattenspen-
der, als Feinstaubfilter und als Sauerstoff-
reservoir. Schon ein mittelgroßer Baum
produziert Luft für bis zu zehn Menschen.
Mit immer ausgefalleneren Methoden
versuchen die Städte daher, ihren Schütz-
lingen zu helfen. In Celle werden manche
Bäume am Fuß mit einem in Dänemark
entwickelten Sack umhüllt. Der wird re-
gelmäßig mit Wasser befüllt und versorgt

den Baum stetig. In Heilbronn ist die
Stadtverwaltung noch einen Schritt wei-
ter gegangen und hat ein unterirdisches
System installiert, das einige der Bäume
mit Wasser und Sauerstoff ernährt.
Doch all das Bemühen wird kaum aus-
reichen, denn selbst die deutsche Eiche
scheint dem Stadtstress nicht mehr ge-
wachsen. „Wir stehen vor einem großen
Umbruch“, sagt Susanne Böll. Sie leitet
das Projekt „Stadtgrün 2021“ an der Bay-
erischen Landesanstalt für Gartenbau.
Seit zehn Jahren werden dort Bäume aus
fremden Gefilden auf ihre Tauglichkeit
getestet. Die Schattenspender der Zu-
kunft müssen frostresistent sein und hit-
zebeständig, auch sollten sie einer star-
ken UV-Strahlung standhalten können.
Inzwischen geben die Forscher erste Emp-
fehlungen, die ungarische Eiche zum Bei-
spiel für heiße Städte, die amerikanische
Rot-Esche für kältere. Aber vor allem
„braucht es ein Umdenken“, sagt Böll. Die
Stadtplanung müsse viel mehr Raum für
die Bäume schaffen. jan heidtmann

München– In Bagdadund im Süden des
Irak haben Zehntausende Menschen ge-
gen die Regierung demonstriert. Premier
Adil Abdul Mahdi lehnte Neuwahlen ab.
Der mächtige schiitische Kleriker Mukta-
da al-Sadr will den Regierungschef zu-
sammen mit politischen Widersachern
entmachten. sz  Seiten 4 und 7

von ulrike nimz

Nach dem Wählen kommt das Deuten. Die-
se Regel greift im „Superwahljahr Ost“
noch verlässlicher als sonst. So unter-
schiedlich die politischen Konstellationen
in Sachsen, Brandenburg und Thüringen
sein mögen, die Wahlergebnisse lassen
gemeinsame Schlüsse zu. Zuallererst: Ist
ein Erfolg der AfD zu erwarten, hilft das
dem amtierenden Ministerpräsidenten.
In Sachsen war der Wahlkampf von Micha-
el Kretschmer (CDU) entbehrungsreich
und letztlich erfolgreich. Mit seiner Strate-
gie der Bürgernähe hat er jedoch nur weni-
ge Wähler von der AfD zur CDU geholt.
Stattdessen, das zeigt die Wählerwande-
rung, liehen ihm Menschen aus dem grü-
nen und sozialdemokratischen Lager ihre
Stimme. Auf dass ihr Kreuz einem höhe-
ren Zweck diene: einen Sieg der AfD zu ver-
hindern. Eine ähnliche Dynamik ließ sich
in Brandenburg beobachten; in Thürin-
gen kam die parteiübergreifende Populari-
tät Bodo Ramelows (Linke) hinzu.
Opfer dieses strategischen Wahlverhal-
tens sind die potenziellen Koalitionspart-
ner: In Thüringen waren die Grünen
schwach, weil es an urbanen Zentren
fehlt, viele Menschen ein Problem mit
Windrädern im Wald haben. Aber die Par-
tei hat auch etliche Wähler an die Linke
verloren, genauso ging es der SPD.
Wenn von Polarisierung die Rede ist, in
Thüringen gar von einem „Sieg der Rän-
der“, dann ist das schon deshalb falsch,
weil Ramelow ein sozialdemokratisches
Profil hat, während Björn Höcke (AfD) ein
faschistoides Weltbild erkennen lässt. Der
Graben, so analysiert der Jenaer Rechts-
extremismusforscher Matthias Quent im
MagazinRepublik, verlaufe in Ostdeutsch-
land nicht vorrangig zwischen Stadt und
Land, AfD oder Grünen, sondern zwi-

schen einer demokratischen Mehrheit
und einer rechtsradikalen Minderheit.
Die AfD ist, auch das haben die Wahlen
gezeigt, keine Protestpartei. Öfter noch
als aus Frust wird sie inzwischen aus Über-
zeugung gewählt und zwar auch von Men-
schen, die gut situiert sind, aber Abwehr-
reflexe gegen Umbrüche wie Globalisie-
rung, Migration und Gleichstellung der
Geschlechter pflegen. Das ist kein rein ost-
deutsches Phänomen, aber die Partei und
die Neue Rechte haben den Osten lange
vor diesem Jubiläumsjahr als Aktionsfeld
entdeckt. Wer die Länderchefs der AfD im
Wahlkampf begleitete, erlebte, wie sie
Westdeutschland als Moloch schilderten,
gleichzeitig den Mut der Revolutionäre
von 1989 priesen. Slogans präsentierten,

die ostdeutsche Erinnerungsräume füll-
ten und subkutan für den erneuten Sys-
temsturz warben: „Vollende die Wende“.
Die AfD hat die Wut über Versäumnisse
der Wiedervereinigung und das häufig
noch in der DDR wurzelnde Misstrauen ge-
genüber Staat und Medien aufgegriffen
und zu einem ostdeutschen Nationalchau-
vinismus kanalisiert. Anderen lieferte sie
schlicht eine neue Erzählung für ihren
alten Rassismus. Dass all das im Osten bes-
ser verfängt, öfter unwidersprochen
bleibt, hat viele Gründe. Die Abwande-
rung von Millionen junger, oft weiblicher
Menschen ist einer. Dem Osten ist vor
Jahrzehnten „die Mitte“ abhandengekom-
men, um im Vokabular dieser Tage zu blei-
ben. Und doch ist die AfD in keinem der

drei Länder stärkste Kraft geworden – al-
len Untergangsszenarien zum Trotz.
Dass aus demokratischen Mehrheiten
nicht selbstverständlich politische wer-
den, hat die Wahl in Thüringen bewiesen.
Nun müssen neue Allianzen gefunden wer-
den; Bodo Ramelow hat gezeigt, wie das ge-
hen kann. Sein rot-rot-grünes Bündnis re-
gierte teils mit nur einer Stimme Mehr-
heit, mit Erfolgen und Niederlagen, aber
ohne große Aufreger. Wollte man Rame-
lows Strategie der vergangenen fünf Jahre
kampagnentauglich beschreiben, wäre
das: Kompromiss statt Kommunismus. Zu-
künftig dann: Keine Macht für niemand?
Die Rede von der vermeintlichen „Unre-
gierbarkeit“ hilft dem Osten nicht. In ei-
ner Zeit, in der das Parteiensystem im
Umbruch ist, muss Einendes in den Blick
genommen werden. Das kann die Abgren-
zung von Menschenfeinden sein, aber
nicht nur. Die Bündnisse, die Namen fer-
ner Länder tragen, müssen Ideen für die
Welt vor der Haustür entwickeln. In Sach-
sen und Brandenburg, wo wohl bald Kenia-
Koalitionen regieren, haben sie das ver-
standen. Wenig drang aus den Verhand-
lungszimmern nach draußen, außer Be-
kundungen gegenseitigen Respekts.
Nach der Wahl am Sonntag sagte CDU-
Chef Mike Mohring, er brauche „nicht Ber-
lin, um zu wissen, was für Thüringen wich-
tig ist“. Dahinter steht der Wunsch vieler
ostdeutscher Landesverbände nach mehr
Autonomie. Die Union wird sich fragen
müssen, ob es zeitgemäß ist, links und
rechts gleichzusetzen, jede Zusammenar-
beit mit Pragmatikern wie Bodo Ramelow
auszuschließen – so wie es jetzt auch Moh-
rings CDU getan hat. Thüringens amtie-
render Ministerpräsident steht nun ein-
mal mehr vor der Aufgabe, eine Strategie
zu (er)finden, die der komplizierten Reali-
tät im Osten Rechnung trägt.

Leben am Straßenrand


Vielen deutschen Städten sterben die Bäume weg.
Ausgefallene Techniken sollen das Grün retten

Im Südwesten und Süden größere Wol-
kenfelder. Es regnet gelegentlich. Sonst
kann es zum Teil neblig sein. Im Tages-
verlauf setzt sich verbreitet die Sonne
durch. Sechs bis zwölf Grad werden er-
reicht.  Seite 9 und Bayern

Berlin– Bundesfamilienministerin Fran-
ziska Giffey (SPD) darf ihren Doktortitel
behalten. Die Freie Universität Berlin
(FU) teilte am Mittwochabend mit, dass
das Universitätspräsidium einstimmig
beschlossen habe, Giffey für ihre Disser-
tation eine Rüge zu erteilen, den ihr verlie-
henen Grad „Doktorin der Politikwissen-
schaft“ aber nicht zu entziehen. Die Ent-
scheidung sei nach eingehender Prüfung
gefallen, so die FU. Giffey hatte für den
Fall, dass ihr der Doktor entzogen werde,
ihren Rücktritt vom Ministeramt ange-
kündigt. sz  Seiten 4 und 6

Xetra Schluss
12910Punkte

N.Y. Schluss
27187 Punkte

21.30 Uhr
1,1141 US-$

Mittwoch-Lotto(30.10.2019)
Gewinnzahlen:11, 22, 23, 28, 44, 48
Superzahl: 9
Spiel 77: 3321988
Super 6:9 1 0 3 3 2 (Ohne Gewähr)

TV-/Radioprogramm, Medien 38-
Forum & Leserbriefe 9
Kino · Theater im Lokalteil
Rätsel & Schach 44
Traueranzeigen 37


Die SZ gibt es als App für
Tablet undSmartphone:
sz.de/zeitungsapp

12 °/-5°


Massenproteste


im Irak


70

80

90

100

110

Der Osten leert sich

Ostdeutschland* Westdeutschland Indexiert (1990 = 100 %)

108,

85,

1990 1995 2000 2005 2010 2015 2018

SZ-Grafik; Quelle: Statistisches Bundesamt

*ohne Berlin

Bevölkerungsentwicklung seit der Wiedervereinigung

Versuchslabor Ost


Eine starkeAfD und abservierte Koalitionen: Die Wahlen in Sachsen, Brandenburg und


Thüringen hatten einiges gemeinsam. Welche Lehren lassen sich daraus ziehen?


EIN BISSCHEN


GRUSEL


Horrorklassiker


und subtile Thriller
zu Halloween,

unter anderem mit
Gillian Anderson

Medien


Giffey behält


Doktortitel


FU Berlin rügt allerdings Mängel
in der Dissertation der Ministerin

 Die Seite Drei


Dax▼



  • 0,23%


Dow▲


+0,43%

Euro▲


+ 0,

(SZ) „Die unendliche Geschichte“ ist ziem-
lich dick, zumal für ein Kinderbuch, aber
nach 480 Seiten und 26 Kapiteln kommt
sie, ihren Namen Lügen strafend, dann
doch zu einem Ende. Das ist durchaus kei-
ne Selbstverständlichkeit, denn dem Au-
tor, Michael, ja genau, Ende, fiel es ausge-
sprochen schwer, selbiges zu finden.
100 Seiten wollte er eigentlich schreiben,
doch dann, erzählte er später, ist ihm
„das Ding buchstäblich unter den Hän-
den explodiert“. Sein Held Bastian habe
das Land Phantásien einfach nicht mehr
verlassen wollen. 480 Seiten? Eine unend-
lich putzige Geschichte, aus heutiger
Sicht. Denn was mittlerweile heraus-
kommt, wenn Stoffe explodieren, weil
Helden, Autoren, Regisseure und manch-
mal auch Leser und Zuschauer ihre
Traumwelten nicht mehr verlassen wol-
len, hat ganz andere Dimensionen: mehr
als 600 Folgen („Die Simpsons“), 16 Staf-
feln („Grey’s Anatomy“), Tausende und
Abertausende Seiten (die „Game of Thro-
nes“-Bücher) sowie Fortsetzungen von
Fortsetzungen von Fortsetzungen. Der
jüngste Film der „Avengers“-Reihe heißt
übrigens „Endgame“. Wer’s glaubt.
Die Zahl der unendlichen Geschichten
wächst unaufhörlich, seit Filme – in Ein-
zelteile zerlegt und „Serien“ genannt –
nicht mehr zwei Stunden lang sind, son-
dern auch gerne mal zehn. Ein Ende ist in
diesen Serien meist ein schlecht getarn-
ter Anfang, aus dem die losen, um baldi-
ge Anknüpfung bettelnden Handlungs-
stränge im Dutzend heraushängen. Be-
sonders schwer fällt das Loslassen in Wel-
ten, die wie Endes Phantásien nicht von
dieser Welt sind. Man spricht dann von
„Universen“. Wie viele Prequels, Sequels
und Spin-Offs das „Star Wars“-Univer-
sum hervorgebracht hat, weiß vermut-
lich nicht mal der weise Jedimeister
Yoda. Aus den geplagten Ländern Mittel-
erdes haben sie nach den erfolgreichen
„Herr der Ringe“-Filmen noch drei über-
lange „Hobbits“ gepresst, bald kommt ei-
ne Serie. „Game of Thrones“ schien da ei-
ne Ausnahme zu sein, in doppelter Hin-
sicht. Das Serienfinale im Sommer wirk-
te nach 73 Folgen tatsächlich wie ein Ab-
schluss, und die letzten beiden Staffeln
hatten es so eilig, als könnten sie das eige-
ne Ende gar nicht erwarten. Doch auch
bei „Game of Thrones“ muss die Show
weitergehen, wie der Sender HBO nun
verkündete: Zehn neue Folgen soll es ge-
ben, die vor der bisherigen Handlung
spielen. Das ist ja das Tolle an diesen Uni-
versen: Der Stoff kann dort in jede Rich-
tung explodieren, auch in der Zeit.
Das Problem ist nur: Für die Zeit der
Menschen in unserem Universum gilt
das nicht. Sie ist endlich oder, um noch
einmal mit Michael Ende zu sprechen:
Der Tag hat nur 24 Stunden-Blumen.
Doch auch für diese konsumfeindliche Be-
grenzung zeichnet sich eine Lösung ab:
Die grauen Herren von der Serienfabrik
Netflix testen gerade die Möglichkeit, ih-
re Videos einfach schneller abzuspielen.


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