Süddeutsche Zeitung - 31.10.2019

(Chris Devlin) #1
Kino muss sich nicht komplett neu erfin-
den, umgut zu sein, ganz im Gegenteil.
Gerade im Genrefilm geht es viel darum,
bekannte Formeln so zu variieren, dass
sie Spannung und Schrecken hervorru-
fen. Wenn nun zu Halloween wieder Ju-
gendgruppen schlechte Entscheidungen
treffen und scherzend in ihr Axt- oder
Kettensägenmörderunglück stolpern,
jauchzen die Fans von Slasher-Filmen,
denn: Der Weg ist das Ziel.
Diesem klassischen Muster folgt auch
„Halloween Haunt“ von Scott Beck und
Bryan Woods, die bereits 2018 mit dem
Drehbuch zu „A Quiet Place“ an einem
der wichtigsten Horrorfilme des Jahres
beteiligt waren. Diesmal verschlägt es
sechs Jugendliche in ein „Haunted
House“, eine begehbare Geisterbahn, wie
sie in den USA auf Volksfesten beliebt ist.
Dass die als Horrorclowns und Hexen ver-
kleideten Schauspieler es ernst meinen,
wird recht bald klar, und die Teenager
sind angezählt. Das Haus entpuppt sich
als unübersichtliches Labyrinth, in dem
tödliche Fallen lauern und sie Rätsel lö-
sen müssen, um Türen zu öffnen – ähn-
lich den Escape Rooms, die aktuell auch
hierzulande boomen.
Um diesem blutigen Abzählreim eine
psychologische Ebene zu verleihen, ge-
ben Beck und Woods ihrer Protagonistin
Harper (Katie Stevens) in Rückblenden ei-
ne Vergangenheit aus häuslicher Gewalt
und brutalen Lebenspartnern. Das Haus
als Symbol von elementarer Sicherheit
steht für sie zur Disposition und muss in
eine gewaltfreie Zukunft überführt wer-
den. Ob sich die beiden Autoren des plum-
pen Sarkasmus dieser Story bewusst wa-
ren, sei dahingestellt. Womit der Film
sich jedoch selbst den Todesstoß ver-
setzt, ist die merkwürdige Mischung aus
ultrabrutalen Tötungsszenen und so
dümmlichen Verzögerungstaktiken,
dass statt Geisterbahnatmosphäre eher
ein holpriges Autoscooter-Gefühl ent-
steht. Die Ausgiebigkeit, mit der die Ju-
gendlichen gefoltert und verstümmelt
werden, erinnert an Terrorfilme wie „Hos-
tel“ von Tarantino-Schützling Eli Roth,
der hier als Produzent fungiert. Das Redu-
zieren des menschlichen Körpers auf sei-
ne Zerfleischbarkeit wirkt jedoch wie

künstliche Effekthascherei, die jeglichen
Spannungsbogen unterbricht, statt ihn
zu verstärken. Harper rettet sich vor den
Metzgerattacken der Horrorclowns in ein
Kinderzimmer. Sie soll für die Flucht
wichtige Rätselhinweise in Spiegelschrift
lesen, die mehr als offensichtlich zu ent-
ziffern ist. Doch um der Spannung willen
muss sie lächerlich lange nach einem Kos-
metikspiegel kramen. Der faule und nach-
lässige Nachbau von Formeln reicht eben
nicht, um effektives Genrekino zu produ-
zieren. sofia glasl

Halloween Haunt, USA 2019 – Regie, Drehbuch:
Scott Beck, Bryan Woods. Mit Katie Stevens, Will
Brittain. Splendid Film, 93 Minuten.

von philipp stadelmaier

A


ls die Malerin die junge Frau,
die sie porträtieren soll, zum
ersten Mal sieht, rennt diese
weg. Raus aus dem Haus auf
der windigen Insel in der Breta-
gne, hin zu den Klippen. Die Malerin, sie
heißt Marianne, rennt hinterher. Die jun-
ge Frau wird immer schneller, rast auf die
Klippen zu, als würde sie springen, doch
kurz vor dem Abgrund hält sie an und wen-
det sich um zur Malerin, die außer Puste
hinter ihr steht. „Das wollte ich schon lan-
ge machen“, sagt die junge Frau. „Ster-
ben?“, fragt die Malerin. „Nein. Rennen.“
Wir sind an der französischen Atlantik-
küste, um das Jahr 1770. Die Frau, die da-
vonrennt, heißt Héloïse (Adèle Haenel).
Gerade ist sie aus dem Kloster zu ihrer
Mutter zurückgekehrt, nachdem ihre
Schwester kurz vor ihrer Hochzeit gestor-
ben war – bei einem Sturz von den Klip-
pen. Nun soll sie den Platz der Schwester
einnehmen und verheiratet werden. Man
hat die Malerin von Paris an die Küste be-
stellt, um das Porträt der jungen Frau an-
zufertigen, das den zukünftigen Ehe-
mann im fernen Italien von ihren äußeren
Vorzügen überzeugen soll. Man hat sie
auch herbestellt, um auf Héloïse aufzupas-
sen, sie zu kontrollieren. Denn das Kloster
hat Héloïse nur ungern verlassen. Sie hat
keinerlei Lust zu heiraten. Weswegen Ma-
rianne, die Malerin (gespielt von Noémie
Merlant), allen Grund hat anzunehmen,
dass sie springen wollte. Schon der Tod
der Schwester, so hat das Dienstmädchen
angedeutet, sei kein Unfall gewesen. Wie

sie darauf komme, fragt Marianne. Ganz
einfach, antwortet das Dienstmädchen.
„Sie hat nicht geschrien.“
Dass die Filmemacherin Céline Sciam-
ma für ihren neuen Film „Porträt einer
jungen Frau in Flammen“ beim diesjähri-
gen Filmfestival in Cannes mit dem Preis
für das beste Drehbuch ausgezeichnet
wurde, kann bei solchen Dialogen nicht
überraschen. Mit nur wenigen Worten
werden Abgründe skizziert, in die die Figu-
ren hineinstürzen oder vor denen sie gera-
de noch zum Stehen kommen. Und es
braucht auch nur wenige Worte, weil der
eigentliche Abgrund in diesem Film nicht
in der Sprache, sondern im Bildlichen
liegt, in dem, was man nicht beschreiben
kann, sondern was man sehen muss.
Zunächst malt Marianne Héloise
„blind“, denn Héloïse soll nicht mitbekom-
men, dass sie gemalt wird. So muss Mari-
anne, die ihr als Gesellschafterin vorge-
stellt wird, ihr Modell bei gemeinsamen
Spaziergängen an der Küste studieren,
um sie später aus dem Gedächtnis zu
zeichnen. Schließlich ist das Porträt fer-
tig. Marianne gesteht Héloïse, wer sie ist,
und zeigt ihr das Porträt. Das, sagt Héloï-
se, sei nicht sie. „Ich wusste nicht, dass Sie
Kunstkritikerin sind“, entgegnet Marian-
ne. „Ich wusste nicht, dass Sie Malerin
sind“, erwidert Héloïse. Da nimmt Marian-
ne ein Tuch und zerstört das Gemälde. Die
Mutter ist entsetzt, gewährt ihr aber noch
eine Chance. Sie wird für einige Tage auf
Reisen gehen, bei ihrer Rückkehr hat das
Bild fertig zu sein. Héloïse bietet nun von
sich aus an, für Marianne Modell zu sit-
zen. Das Porträt wird zum Vorwand für die

beiden Frauen, Zeit miteinander zu ver-
bringen. Die Fertigstellung muss hinaus-
gezögert werden. Während dieser Zeit
kommen sie sich näher, trinken, nehmen
Drogen, schlafen miteinander. Sie küm-
mern sich um die Dienstbotin, die schwan-
ger ist und mit ihrer Hilfe ihr Kind ab-
treibt. Und sie lachen viel.
„Man muss zu zweit sein, um lustig zu
sein.“ Diesen Satz sagt Marianne einmal
zu Héloïses Mutter. Marianne wird auch
Héloïse bald zum Lächeln bringen und die-
ses in ihrem Porträt festhalten. Freude
und Arbeit gehen Hand in Hand. Man
muss zu zweit sein, um ein Bild, ein Por-
trät zu machen. Auch Sciamma führt in
ihrer Inszenierung beide Frauen ganz eng
zusammen: Einmal sehen wir Mariannes
Profil im Vordergrund, das Héloïses Profil
genau verdeckt.

Im Grunde hätte die Filmemacherin in
Cannes auch noch den Regiepreis ver-
dient gehabt. Sie identifiziert sich in ihrer
Inszenierung mit der Arbeit der Künstle-
rin, mit ihrer Arbeit an Héloïses Porträt,
aus der die Liebe entsteht. Das Porträt,
das die Malerin herstellt, drückt ebenso
den Blick der Malerin aus wie den Blick
der Porträtierten; der Blick der Filmema-
cherin hält beide zusammen. Diese intime
Verschränkung zweier in sich versunke-
ner, in einem Porträt vereinter Blicke ist
das Kraftzentrum der Liebesgeschichte.

Héloïses Porträt ist ebenso wie Sciam-
mas Film eine Studie über die (Selbst-)Dar-
stellung von Frauen. In ihrem vorherigen
Film „Mädchenbande“ hatte Sciamma die
Geschichte einer jungen schwarzen Frau
aus der Pariser Banlieue erzählt, die der se-
xistisch-rassistischen Realität um sich
herum ihre Energie und Fantasie entge-
genstellte. Dabei wurde die Protagonistin
noch sehr auf ihre soziokulturelle Rolle
festgenagelt. Der neue Film handelt hinge-
gen vom Widerstand gegen das Patriar-
chat, das Frauen als Hochzeitsmaterial an-
sieht, nicht als unabhängige Künstlerin-
nen. Kunst wird zur weiblichen Selbster-
mächtigung, Männer erscheinen nur in
Nebenrollen. In einer Szene verbrennt Ma-
rianne ein früheres Hochzeitsporträt von
Héloïse, angefertigt von einem Mann. Die
Bilder von Frauen, die von Männern oder
für Männer gemacht werden, müssen frü-
her oder später in Flammen aufgehen.
Daher ist die Arbeit am Porträt weniger
die Arbeit an einem konkreten Gemälde,
sondern an einer Erinnerung. Die Ge-
schichte von Orpheus und Eurydike ist
sehr präsent in Sciammas Film. Auf dem
Weg aus der Unterwelt dreht sich Orpheus
nach seiner Geliebten um – und verliert
sie dabei für immer. Sie lebt nur in seiner
Erinnerung fort. Man muss zu zweit sein,
um ein Porträt zu machen, um sich zu ver-
lieben und um sich zu verlieren.

Portrait de la jeune fille en feu, F 2019 – Regie,
Buch: Céline Sciamma. Kamera: Claire Mathon.
Mit Noémie Merlant, Adèle Haenel, Luàna Bajra-
mi. Alamode/Wild Bunch, 122 Minuten.

Der Streamingdienst Netflix testet der-
zeit eine Funktion, mit der Kunden Filme
und Serien langsamer oder schneller an-
schauen können, genauer gesagt in 0,
bis 1,5-fachem Tempo. Einige Android-
User können die Funktion in einer Test-
version ausprobieren. Das von Martin
Scorsese für Netflix gedrehte Mafia-Epos
„The Irishman“ zum Beispiel, das im No-
vember startet, könnte man so statt in
der 210-minütigen Normalfassung in
unter drei Stunden bewältigen.
Neu ist das nicht. Komprimierten Seh-
und Hörgenuss bieten Youtube und Pod-
castdienste seit Jahren an, vielen Nutzern
gefällt das. Aber es regt sich Widerstand
unter Filmemachern. Regisseur Peter
Ramsey („Spider-Man“) twitterte: „Wol-
len Kunden jetzt auch 1,5x schneller es-
sen und Sex haben? Muss wirklich alles
für die Faulsten und Geschmacklosesten
entworfen werden?” Auch der Macher
von „Die Unglaublichen“, Brad Bird, sieht
in dem Testlauf eine „weitere spektaku-
lär schlechte Idee“. Und Comedy-Guru
Judd Apatow, jammert: „Wir gaben euch
schöne Dinge. Lasst sie so, wie sie gese-
hen werden sollten.“
Nach der Kritikwelle ruderte Netflix
zurück und betonte, dass das neue Fea-
ture unter anderem dazu diene, Lieblings-
szenen unter die (Zeit-)Lupe zu nehmen
oder fremdsprachige Titel besser zu ver-
stehen. Unter Umständen wolle man das
Angebot gar nicht dauerhaft einführen.
Beim Zählen von Zuschauerzahlen hilft
das neue Feature natürlich: Netflix rech-
net einen Film als gesehen, wenn ein Zu-
schauer mindestens 70 Prozent davon an-
schaut – und das geht mit der Vorspultas-
te natürlich schneller. nora voit

Die Starts von 31. Oktober an auf einen
Blick, bewertet von den SZ-Kritikern.
Rezensionen ausgewählter Filme folgen.


Djon África
ana maria michel:Sein Vater ist
einer, der das Leben liebt. Miguel soll
ihm ähnlich sein, heißt es. Er selbst
kennt den Vater nicht. Um ihn zu finden,
verlässt der junge Mann Portugal Rich-
tung Kapverden, wo er auch nicht richtig
hingehört. Er sucht am Meer, in den Ber-
gen, er sucht, wenn er tief ins Grogue-
Glas schaut – und findet immerhin sich
selbst. Stark sind die Bilder, in denen die
Natur dominiert, dennFilipa Reis und
João Miller Guerrazeigen ein Stück
Welt, das man im Kino selten sieht.


Halloween Haunt(s. Kritik nebenan.)


Invisible Sue
anke sterneborg: Superheldenfä-
higkeiten können sich nicht nur amerika-
nische Jungs, sondern auch deutsche
Mädchen wie die zwölfjährige Sue im La-
bor einfangen. Die besonderen Risiken
und Nebenwirkungen der Erfindung ih-
rer Mutter locken finstere Gestalten auf
den Plan und ziehen das Außenseitertrio
der Schule in ein wildes Abenteuer.
Markus Dietrich inszeniert die Ge-
schichte mit charmanten Referenzen an
die Welten von Marvel und DC. In einer
Kinderfilmlandschaft, die sich aus Buch-
verfilmungen speist, muss man diese
selbst erdachte und flott erzählte Ge-
schichte wohlwollend betrachten.


The King
tobias kniebe:Der RegisseurDavid
Michôdund sein Schauspielerfreund
Joel Edgerton wollten auf Shakespeare
machen, also ein englisches Königsdra-
ma schreiben mit Intrigen, Familiendra-
men, Schlachten. Im Geist der neuen
Zeit aber wird aus dem legendär angriffs-
lustigen Heerführer Henry V. eine Art ve-
gane Version, die eigentlich immer nur
Frieden will (grüblerisch und demonstra-
tiv schmalbrüstig: Timothée Chalamet)
und aus dem herrlich egomanen Tunicht-
gut Falstaff (Edgerton selbst) eine treue
Seele mit Dackelblick, die sich im Kampf
fürs Herrchen opfert. Der echte Falstaff
hätte diesem Trottel ins Gesicht gefurzt
(Netflix, 1. November).


Das perfekte Geheimnis
doris kuhn:Bei einem Dinner müssen
drei Paare und ein Single, alte Freunde,
ein Spiel spielen: Für den Abend wird je-
de eingehende Handynachricht mitein-
ander geteilt. Kaum liegen alle Telefone
auf dem Tisch, geraten etliche Beteiligte
in Panik. Sie wissen, dass ihnen gleich Af-
fären, Mobbing und Nacktfotos um die
Ohren fliegen.Bora DagtekinsKomö-
die ist beredt wie eine französische, fies
wie eine amerikanische, und so spontan
lustig wie keine deutsche in diesem Jahr.


Porträt einer jungen Frau in Flammen
(siehe Kritik nebenan.)


Scary Stories to Tell in the Dark
kevin scheerschmidt:Eine morden-
de Vogelscheuche. Ein Zombie auf der
Suche nach seinem abgetrennten Zeh.
Solche Gruselgeschichten erscheinen
mit Blut geschrieben im Buch der ver-
storbenen Sarah Bellows. Vier Jugendli-
che finden es in einem Spukhaus und
müssen verhindern, dass das Geschrie-
bene wahr wird. Der Film von Regisseur
André Øvredalwurde von Guillermo del
Toro produziert, sie setzen auf intelligen-
ten Horror und hässliche Fratzen.


Tiere
sandra lohse:Wer wollte nicht schon
immer von seiner Katze hören, dass sie
ihren Besitzer auch lieb hat? Dieser Do-
kumentarfilm zeigt in kurzen Episoden
alles, was eine Mensch-Tier-Beziehung
so hergibt – auch die Kommunikation
mit Tieren. Er zeigt, wie Tiere gezüchtet,
geformt und prämiert werden. Zeigt
auch, wie sie geschlachtet, gehäutet und
gegessen werden. Die Bilder sind ein-
fach und doch erschreckend. Aber umso
mehr SchnipselJonas Spriestersbach
aneinanderreiht, desto weniger Ver-
ständnis bleibt für Mensch und Tier.


Unruhezeiten
nora voit:Im Stadttheater einer fikti-
ven Kleinstadt bleiben die Zuschauerrän-
ge leer. Ein Intendanzwechsel soll hel-
fen.Eike Weinreich und Alexej Her-
mannerzählen vom Umbruch eines ver-
staubten Theaterbetriebs – und arbei-
ten darin einen Stapel brancheninterner
Kalauer ab. Liebhaber dürfte die Mi-
schung aus Bühnensoap, Liebeserklä-
rung und Todesurteil zum Grübel-
schmunzeln bringen, für alle anderen ist
der Film vermutlich wie die Theater-Ex-
kursion in der Mittelstufe: irgendwie an-
strengend.


Verteidiger des Glaubens
(siehe Kritik nebenan.)


Zwingli – Der Reformator
anna steinbauer:„Tut um Gottes wil-
len etwas Tapferes“, fordert Luthers
Schweizer Pendant Ulrich Zwingli von
der Zürcher Regierung. Guter Vorsatz,
der macht das opulente Historiendrama
vonStefan Hauptleider auch nicht span-
nender. Pünktlich zum eidgenössischen
Reformationsjubiläum ist Max Simoni-
schek als revolutionär entflammter
Kämpfer gegen Ablasshandel, Zölibat
und den Machtmissbrauch der katholi-
schen Kirche zu sehen. Trotz viel Herz-
blut plätschert die Handlung dröge vor
sich hin und einige dramaturgische Ent-
scheidungen erscheinen seltsam unaus-
gereift.


Der Kardinal ist ungehalten. Gerade ist er
aus dem Appartementhaus gekommen,
in dem er wohnt, Joseph Ratzinger, der
Präfekt der Glaubenskongregation. Und
dann tritt dieser Journalist einfach auf ihn
zu und möchte den Kardinal über die Män-
ner ausfragen, die Marcial Maciel, dem
Gründer der stramm konservativen „Legi-
onäre Christi“, vorwerfen, er habe sie als
Kinder und Jugendliche vergewaltigt.
„Ich bin da nicht so informiert“, sagt Kardi-
nal Ratzinger, „ich finde es auch unange-
bracht, dass Sie damit zu mir kommen.“
Sehr wohl wusste Joseph Ratzinger Be-
scheid über die Vorwürfe gegen Maciel,
die Informationen über das Doppelleben
des angeblich so frommen Mannes lagen
ihm vor. Doch erst nach dem Tod von
Papst Johannes Paul II., dem großen För-
derer der Legionäre, sollte er es wagen,
gegen den Gewalttäter im Priestergewand
vorzugehen. Über viele Jahre hinweg ist es
ihm wichtiger, dass es keinen Skandal
gibt, der die Gläubigen verwirren und die
katholische Kirche beschmutzen könnte.
Christoph Röhls Dokumentarfilm über
Benedikt XVI. ist kein Film über Joseph
Ratzingers Leben und Wirken. Röhl hat ei-
ne Thesenfilm produziert, montiert; das
macht die Wucht von „Verteidiger des
Glaubens“ aus und markiert zugleich sei-
ne Grenze. Die These lautet: Gerade weil
Benedikt seine Kirche rein und unbe-
fleckt halten wollte, steht sie nun besudelt
da. Gerade weil er ihren Anspruch auf die
Wahrheit verteidigen wollte, ist ihre
Glaubwürdigkeit dahin. Und gerade weil

er ängstlich den überlieferten Glauben
gegen alle Zweifel bewahren wollte, hat er
zum Glaubensverlust beigetragen. Sein
Glaubens- und Kirchenverständnis hat
ihn zum Vertuscher und Verharmloser der
sexuellen Gewalt gegen Kinder, Jugendli-
che, Frauen in der katholischen Kirche
gemacht. Der Bewahrer ist dramatisch an
seinen Grundsätzen gescheitert.
Röhl hat sich, bevor er sich dem Papst
zuwandte, mit dem linksliberal inszenier-
ten Missbrauch auseinandergesetzt. Von
1989 bis 1991 war er Tutor an der Oden-
waldschule; sein preisgekröntes Drama
„Die Auserwählten“ dreht sich um die
Gewalt in der Vorzeigeeinrichtung der Re-

formpädagogik. Jetzt hat er sich die katho-
lische Kirche vorgenommen und den
Mann, der ihr oberster Vertreter war, als
2010 die Gewalt gegen Kinder und Jugend-
liche in der Odenwaldschule wie in der Kir-
che zum Skandal wurde.
Röhl kommentiert dabei nicht selbst,
er montiert historische Filmaufnahmen
und die Aussagen seiner Interviewpart-
ner aneinander. Zu ihnen gehören Georg
Gänswein, der Privatsekretär Benedikts,
und der Theologe Wolfgang Beinert, ein
kritischer Wegbegleiter und Freund
Ratzingers. Es treten auf: der alte Rat-
zinger-Kritiker Hermann Häring und der
Jesuitenpater Klaus Mertes, der den Miss-

brauch am Canisius-Kolleg in Berlin offen-
bar machte, die ehemalige Nonne Doris
Wagner und der suspendierte irische
Priester Tony Flannery.
Nicht immer erschließt sich sofort, wer
warum befragt wird, der Zuschauer muss
sich schon ein bisschen im Thema ausken-
nen, sonst bleibt er manchmal ratlos. Zwei-
fel, Grautöne und Zweideutigkeiten ver-
meidet Röhl zugunsten der Thesenstärke.
Manchmal leidet darunter die Genauig-
keit. So förderte vor allem Papst Johannes
Paul II. den kriminellen Legionäre-Grün-
der Marcial Maciel. Der Papst aus Polen
setzte auf glaubensstrenge, kampfstarke
Vereinigungen; Benedikts intellektuel-
lem Konservatismus blieb das Martiali-
sche der Legionäre Christi fremd.
Und doch bleibt die beklemmende Tat-
sache, dass da ein hochgelehrter Kirchen-
mann verdrängte, wegdrückte, das Leid
ignorierte, damit die Kirche weiterhin als
Hüterin des Wahren und Guten erschien.
Der Papa emeritus scheint bis heute unfä-
hig, dies zu erkennen – seine jüngst aufge-
stellte These, die 68er seien am Miss-
brauch in der Kirche schuld, bestätigt
dies. Das ist die große Stärke des Films: Er
ist nicht zynisch oder hämisch. Er ist trau-
rig über das, was er zeigen muss: wie Jo-
seph Ratzinger durch die Gefangenschaft
in seinem Denksystem zum Mitschuldi-
gen wurde. matthias drobinski

Verteidiger des Glaubens, D 2019 – Regie, Buch:
Christoph Röhl. Realfiction, 95 Minuten.

Die Legende von Orpheus
und Eurydike ist sehr präsent
in diesem Filmdrama

Buh! oder nicht Buh!, das ist die Frage
in „Halloween Haunt“. FOTO: SPLENDID

Geisterbahn


des Grauens


Der Horror zum Kürbistag heißt
dieses Jahr „Halloween Haunt“

Ein Netflix-Service


macht Ärger


NEUE FILME


Wie sexuelle Gewalt verharmlost wurde


„Verteidiger des Glaubens“: Ein Dokumentarfilm über die Kirchenpolitik von Papst Benedikt XVI.


12 FILM HF2 Donnerstag/Freitag, 31. Oktober/1. November 2019, Nr. 252 DEFGH


Hand in Hand


Die Regisseurin Céline Sciamma erzählt in ihrem Film „Porträt einer jungen Frau in Flammen“


die Liebesgeschichte zwischen einer Malerin und ihrem Modell Ende des 18. Jahrhunderts


Héloïse (Adèle Haenel) und Marianne (Noémie Merlant) verlieben sich ineinander. FOTO: ALAMODE/WILDBUNCH

Gerade weil Benedikt die katholische Kirche rein und unbefleckt halten wollte,
steht sie nun besudelt da – das ist die These dieses Films. FOTO: VERLEIH
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