Süddeutsche Zeitung - 31.10.2019

(Chris Devlin) #1
FOTO: BORIS ROESSLER/AFP

Es ist in vielerlei Hinsicht bemerkens-
wert, dass Christine Lagarde am Freitag
die Führung der Europäischen Zentral-
bank übernehmen wird. Sie ist die erste
Frau an der Spitze einer Institution, die in
ihrer 20-jährigen Geschichte stets von
Männern dominiert wurde. Auch das gab
es noch nie: Die künftige EZB-Chefin ist
Juristin. Mit den akademischen Untiefen
der Geldpolitik ist sie allenfalls rudimen-
tär vertraut; und mit der Mathematik, so
räumt sie freimütig ein, habe sie auch
nicht viel am Hut. Der Modezeitschrift
Ellegab Lagarde ein humorvolles Inter-
view, in dem sie berichtet, wie sie sich in
endlosen Sitzungen in ihren Stuhl zurück-
lehnt, ihren Rücken gerade zieht und
durch fokussierte Kontraktion ihren Ge-
säßmuskel trainiert. Diese Art von nahe-
zu intimen Informationen mögen viel-
leicht Politiker mit der Öffentlichkeit tei-
len. Von Notenbankern, die sich in aller
Regel sachlich bis verkopft geben, kannte
man das bislang nicht.
Aber Lagarde, 63, versteht sich wohl
weniger als Notenbankerin, mehr als Ma-
nagerin, die sich um das große Ganze
kümmert. Wenn es eine Eigenschaft gibt,
die Lagarde oft zugeschrieben wird, so ist
das ihre Fähigkeit, Menschen für sich zu
gewinnen und Kompromisse zu schmie-
den, mit denen alle leben können. Das ge-
linge ihr dank ihrer herzlichen und ein-
nehmenden Art. In Gesprächen signalisie-
re sie ihrem Gegenüber, dass sie ihn ernst
nimmt, erzählen Menschen, die mit ihr ge-
arbeitet haben. Zudem sei sie in der Sache
stets sehr gut vorbereitet.
Diese Fähigkeiten könnten Lagarde hel-
fen, die großen Probleme der Europäi-
schen Zentralbank zu lösen. Ihr Vorgän-
ger Mario Draghi hat einen Keil in das

oberste Führungsgremium, den EZB-Rat,
getrieben, weil er kurz vor seinem Amts-
ende im September gegen großen Wider-
stand eine Fortsetzung der lockeren Geld-
politik beschlossen hat. Die lautesten Kri-
tiker sitzen in dem Land, wo die EZB ihren
Sitz hat, in Deutschland. Sparer, Banker
und Akademiker beklagen die Nullzinspo-
litik und die Anleihekäufe seit Jahren.
Lagardes Aufgabe dürfte es daher auch
sein, die Deutschen mit der Europäischen
Zentralbank zu versöhnen. Man darf ge-
spannt sein, wie sie es anstellen wird, im-
merhin nimmt sie bereits Deutschunter-
richt. Neuland betritt die Französin an der

EZB-Spitze mit dem Wunsch, auch politi-
sche Themen anzusprechen.
So kämpft Lagarde seit Jahrzehnten
für die Gleichberechtigung von Frauen.
Häufig erzählt sie, wie sie nach ihrem Stu-
dium in Paris 1979 ein Bewerbungsge-
spräch in einer Kanzlei führte. Dort teilte
man ihr mit, sie könne anfangen, ganz
nach oben würde sie es jedoch nie schaf-
fen – weil sie eine Frau sei. Lagarde ging
dann nach Chicago, zur Anwaltsfirma Ba-
ker&McKenzie. Dort übernahm sie 1999
die Führung – als erste Frau. Später, 2007
bis 2011, amtierte sie als erste Finanz- und
Wirtschaftsministerin in Frankreich.
Christine Lagarde machte in dieser
Zeit einen Fehler, als sie eine millionen-
schwere Entschädigung für den Unterneh-
mer Bernard Tapie genehmigte. Ein Son-
dergericht verurteilte sie deshalb 2016 we-
gen Fahrlässigkeit. Dennoch durfte die
Mutter zweier erwachsener Söhne da-
mals an der Spitze des Internationalen
Währungsfonds bleiben. In ihrer Amts-
zeit beim IWF zwischen 2011 und 2019
schärfte sie in den Verhandlungen um die
Rettung der Euro-Zone ihr internationa-
les Profil. Sie begann ihren Tag um fünf
Uhr morgens mit einer Tasse Tee. Von
sechs Uhr an folgte Sport, dann die Arbeit
mit langen Abenden. Wie sie das alles
schaffe? Disziplin, erwidert sie. Kein Alko-
hol, keine Zigaretten, sie ernähre sich ve-
getarisch und bewege sich viel. In ihrer Ju-
gend war Lagarde, gebürtige Pariserin, ei-
ne erfolgreiche Synchronschwimmerin.
Frauen, so sagt Christine Lagarde ger-
ne, dürften als Chefs ran, wenn die Lage
sehr ernst sei. Sie müssten das Chaos der
Männer in Ordnung bringen. Lagarde
dürfte bald erfahren, ob essoschlecht
steht um die EZB. markus zydra

von cathrin kahlweit

S


chon eine Stunde nach der Abstim-
mung standen erste Wahlkämpfer
im Unterhaus an den Wohnungstü-
ren der Briten, um ihre Argumente vorzu-
tragen und Flugblätter zu überreichen.
Es ist nämlich nicht so, dass die Nation
vom Beschluss, dass im Dezember wie-
der gewählt wird, überrascht worden wä-
re. Alle Parteien hatten betont, dass vorge-
zogene Neuwahlen dringend nötig wä-
ren, nur auf einen Termin und die Bedin-
gungen konnte man sich nicht einigen.
Nun steht er fest: 12. Dezember.
Sehr schnell nachdem Premierminis-
ter Boris Johnson einen neuen Deal aus
Brüssel mitgebracht hat, soll also ge-
wählt werden, anstatt letztgültig über
den Deal abzustimmen. Das zeigt, wie
sehr der Brexit mittlerweile Mittel zum
Zweck, taktisches Instrument und Ersatz-
religion geworden ist. Es geht Johnson
gar nicht darum, so bald wie möglich
einen Vertrag ratifizieren zu lassen, mit
dem er keine ganz schlechten Chancen
im Unterhaus gehabt hätte. Es geht dem
Premierminister vielmehr darum, mit
dem Versprechen eines nur von den To-
ries zu bewältigenden EU-Austritts und
mit dem Wahlkampfschlager von der an-
geblichen Brexit-Verschleppung durch
die Opposition eine möglichst große
Mehrheit herauszuholen.
Das ist in der Politik legitim, macht
aber die Argumente der Tories für Wah-
len nicht unbedingt glaubwürdiger. John-
son hofft, dass die Briten seine Tories be-
auftragen werden, den Brexit im Eiltem-
po durchzupeitschen. Er setzt auf die
schlechten Umfragewerte von Labour
und darauf, dass die unklare Position der
Linken zum EU-Austritt viele Wähler den
Konservativen zutreiben wird. Dieser
Plan könnte, wie Meinungsforscher vor-
aussagen, gewaltig schiefgehen.

Denn Wahlen bringen, wie Johnsons
Vorgängerin Theresa May 2017 erfahren
musste, keine vorhersagbaren Ergebnis-
se, selbst wenn eine Partei mit einem Vor-
sprung von mehr als zehn Prozentpunk-
ten ins Rennen geht – so wie die Tories
2017 und heute. Unklar ist, wohin sich die
Wähler wenden werden, nun, da die Bre-
xit-Partei von Nigel Farage wütende An-
hänger eines EU-Austritts damit ködert,
die Tories hätten den Brexit verbummelt.
In Schottland dürften die Tories sowieso
keinen Fuß mehr auf den Boden bekom-
men. Labour wiederum wird viele Stim-
men an die europafreundlichen Liberal-
demokraten abgeben. Alles könnte am
Ende neu, alles ganz anders sein.

Johnson ist ein guter Wahlkämpfer,
aber das ist Labour-Chef Jeremy Corbyn
auch. Labour hat mit der Graswurzelbe-
wegung Momentum, die den Parteichef
kämpferisch unterstützt, eine überaus
engagierte Truppe im Hintergrund. Die
Tories hingegen sind intern gespalten,
weil Johnson ihre liberale Mitte zuneh-
mend zum Verstummen bringt. Außer-
dem werden diese Wahlen zweifelsohne
nicht nur an der Brexit-Front entschie-
den. Corbyn verspricht einen „radikalen
Wandel und mehr soziale Gerechtigkeit“,
Johnson verspricht Milliardeninvestitio-
nen für Gesundheit und Sicherheit.
Das Thema, das drei Jahre lang alles
dominiert hat in Großbritannien, wird
schnell von anderen, maßgeblichen Pro-
blemen überlagert werden, von denen
das Land so viele hat. Der Wahlkampf
wird hart und böse werden. Und am Ende
könnte wieder eine Regierung ohne eige-
ne Mehrheit stehen.

von constanze von bullion

M


an muss die Linkspartei nicht
mögen. Und es gibt haufenweise
Gründe, ihr mit Distanz zu begeg-
nen. Das alte Nichtberührungsgebot aber,
wonach sich jeder mit Schmutz besudelt,
der mit der „Nachfolgepartei der SED“ zu-
sammenarbeitet, muss fallen. Bei SPD
und Grünen ist das längst geschehen.
Jetzt müssen auch CDU und FDP umden-
ken, und zwar schnell und bis hinauf in
ihre Bundesvorstände. Denn spätestens
seit der Thüringen-Wahl ist klar: Wenn
die demokratischen Parteien nicht zusam-
menrücken, ist nicht nur Ostdeutschland
in Gefahr. Es ist das ganze Land.
Drei Mal ist die AfD jetzt zweitstärkste
Kraft bei ostdeutschen Landtagswahlen
geworden. Zuletzt reüssierte sie mit dem
Thüringer Spitzenkandidaten Björn Hö-
cke, der seine faschistische Rhetorik mit
dem Appell verbindet, dem angeblich so
verrotteten demokratischen System den
Garaus zu machen. Es gibt Rechtsterror in
Deutschland, bewaffnete Angriffe auf Ju-
den und Menschen mit dunkler Haut. Ein
engagierter Lokalpolitiker wurde erschos-
sen. Und was machen die CDU-Oberen in
Berlin? Stellen nach dem Desaster der
Thüringen-Wahl fest, dass auch ihre Par-
tei dort für eine Mehrheit gegen die AfD ge-
braucht wird. Über eine Kooperation mit
dem linken Ministerpräsidenten Bodo Ra-
melow aber, igitt, dürfe in Erfurt gar nicht
erst nachgedacht werden.
Keine Frage, für die christlich gepräg-
ten Unionsparteien waren SED, PDS und
Linkspartei, mithin der Kommunismus,
über Jahrzehnte der wichtigste ideologi-
sche Gegner. In der alten Bundesrepublik
wie in der DDR lieferte der Systemstreit
zwischen Sozialismus und freiheitlicher
Grundordnung den strukturkonservati-
ven Eliten ihre Existenzberechtigung. Zu
ihnen zählte immer auch die SED. Sich

aus dieser Fundamentalopposition zu lö-
sen ist schwer. Zumal die Linkspartei es
ihren Kritikern immer leicht gemacht hat,
sie in die alte SED-Kiste zu sperren.
Nein, es gab kaum echte Aufarbeitung
von DDR-Unrecht durch die Linkspartei.
Stasi-Spitzelei, Verrat und Menschen-
rechtsverletzungen wurden mal ver-
drängt, mal weggelogen. Auch Talente wie
Gregor Gysi haben ihren Einfluss im Os-
ten nicht für historische Aufräumarbeiten
genutzt. Und der kämpferische Ton einer
Sahra Wagenknecht führte von Kapitalis-
muskritik zuletzt aufs Feld der Ressenti-
ments gegen Migranten.

All das muss man nicht gut finden. Im
Jahr 30 nach dem Mauerfall aber drängen
sich Fragen in den Vordergrund, die
schwerer wiegen als das, was war. Wie zim-
mert man eine demokratische Mehrheit,
wo jeder Vierte rechtsextrem wählt? Wie
anfechtbar ist die Demokratie geworden?
Wer jetzt nicht anpackt in den längst nicht
mehr neuen Ländern und sich aufs Ges-
tern rausredet, handelt verantwortungs-
los. Das gilt auch für die FDP, deren Bun-
desvorsitzender nach der Thüringen-
Wahl erklärte, seine Partei mache sich die
Hände nicht schmutzig an einer Koalition
mit der Linken. Die Liberalen können das:
sich überflüssig machen.
Wegducker aber braucht das Land
nicht, sondern Parteien, die mutig Ab-
schied nehmen von Befindlichkeiten der
Vergangenheit. In einer bedrohlich gewan-
delten politischen Landschaft muss mehr
Grips auf das verwendet werden, was de-
mokratische Parteien verbindet statt
trennt. Auch die Linke ist eine demokrati-
sche Partei. Sie wird jetzt gebraucht.

HERAUSGEGEBEN VOM SÜDDEUTSCHEN VERLAG
VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
CHEFREDAKTEURE:
Kurt Kister, Wolfgang Krach
NACHRICHTENCHEFS:
Iris Mayer, Ulrich Schäfer
AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
INNENPOLITIK:Ferdos Forudastan; Detlef Esslinger
SEITE DREI:Alexander Gorkow; Karin Steinberger
INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
Nicolas RichterKULTUR:Andrian Kreye, Sonja Zekri
WIRTSCHAFT: Dr. MarcBeise
SPORT: Klaus Hoeltzenbein WISSEN: Dr.Patrick Illinger
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REISE, MOBILITÄT, SONDERTHEMEN:Peter Fahrenholz
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D


as Bundesverwaltungsgericht
hält Bushidos Album „Sonny
Black“ für jugendgefährdend. Mit
einem vollumfänglichen Verbot des Al-
bums hat dieses Urteil nichts zu tun, es be-
deutet schlicht: Das Gericht teilt die Ein-
schätzung der Bundesprüfstelle für ju-
gendgefährdende Medien, die das Album
2015 auf den Index setzte. Vertrieb und
Vermarktung des Albums unterliegen ge-
wissen Einschränkungen, man muss voll-
jährig sein, um es legal kaufen zu können.
Die Bundesprüfstelle hatte „Sonny
Black“ indiziert, weil die Texte „verro-
hend“ seien, Homosexuelle und Frauen
diskriminiert würden und ein „kriminel-
ler Lebensstil“ verherrlicht werde. Tat-
sächlich lässt sich all das finden in den
Songs. Der Rapper Bushido wiederum be-
ruft sich auf die Kunstfreiheit: Seine Fans
verstünden schon, dass das alles völlig
übertrieben sei, wie es üblich ist im
Gangsta-Rap. Auch das ist nicht falsch. In
vielen Zeilen ist ein gewisser – wenn auch
robuster – Humor bis hin zur Selbstpar-
odie, vor allem aber auch avancierte Lust
am Sprachspiel unübersehbar.
In diesem Sinn darf man zivilgesell-
schaftlich froh über die Debatte sein –
und beiden Seiten recht geben, Jugend-
schutz und Gangsta-Rap. Die moralisch
anspruchsvolle Verständigung darüber,
wie in einer liberaldemokratischen Ge-
sellschaft mit- und übereinander gespro-
chen werden sollte, ist ebenso kostbar
und nötig wie die umsichtige Auslegung
der Meinungs- und Kunstfreiheit. Undia-
lektischer bekommt man die Sache leider
nicht, will man sich nicht in Widersprü-
che verstricken. jens-christian rabe


K


ein Titelentzug, kein Rücktritt,
kein Verlust einer tragenden Säu-
le im Kabinett – Franziska Gif-
fey und der SPD ist in kritischsten Zei-
ten ein weiterer Nackenschlag erspart
geblieben. Die Freie Universität Berlin
hat die Doktorarbeit der 41-Jährigen ge-
rügt, aber ihr nicht die ultimative Strafe
ausgesprochen. Was monatelang dro-
hend über der Karriere der SPD-Politi-
kerin schwebte, ist als Sturm gekom-
men und als Stürmchen gegangen. Das
ist nicht nur für die SPD ein Glück, son-
dern für die Politik insgesamt. Weder
die Sozialdemokraten noch der Berliner
Politikbetrieb verfügen über viele Politi-
kerinnen vom Schlage Giffeys. Sie ist lei-
denschaftliche Sozialdemokratin und
kann das selbst in schwierigsten Zeiten
mühelos ausstrahlen. Sie ist anste-
ckend optimistisch und hat bislang we-
nig von den Tricksereien und Taktiere-
reien, denen man in Berlin durchaus be-
gegnet. Nicht nur die SPD, auch die Koa-
litionspartner werden aufatmen.
Was in ihr selbst vorgeht, lässt sich
leicht erahnen. Eines ist sogar sicher:
Sie wird hin- und hergerissen sein zwi-
schen der Erleichterung über die Ent-
scheidung und dem Ärger, dass das lan-
ge gedauert hat. Seit Februar prüfte die
FU. Und weil sie nicht früher fertig wur-
de, konnte Giffey im Rennen um den
SPD-Vorsitz nicht antreten. Man kann
das wissenschaftliche Unabhängigkeit
nennen. Man kann es aber – vorsichtig
ausgedrückt – auch als erstaunlich un-
politische Zögerlichkeit kritisieren.
Kein Ruhmesblatt für Wissenschaftler,
die Politik erforschen. stefan braun

E


s fegt ein Herbststurm durch
die arabische Welt, der nach
einem längst vergangenen
Frühling riecht. Eine neue Wel-
le von Aufständen erschüttert
die Region. In Libanon war ein Viertel der
Bevölkerung ungeachtet aller konfessio-
nellen Trennlinien auf der Straße, und die
Demonstranten bejubeln nun den Rück-
tritt von Premier Saad al-Hariri. Im Irak
ist der Sturz von Regierungschef Adil Ab-
dul Mahdi eine Frage der Zeit, aber auch
hier beschwören die Wütenden die Ein-
heit des Volkes und skandieren: „Wir sind
alle Iraker!“ In Algerien, wo Massenprotes-
te schon dem Regime des greisen Staats-
chefs Abdelaziz Bouteflika ein Ende berei-
tet haben, gehen die Menschen weiter frei-
tags auf die Straße. Und in Kairo tun sie
das nur deshalb nicht mehr, weil der Poli-
zeistaat von Präsident Abdel Fattah al-
Sisi willkürlich Tausende verhaften ließ.
So verschieden diese Länder sind, so
wenig sich die Proteste aufeinander bezie-
hen (anders als während der Revolutionen
von 2011) – es gibt doch Grundlegendes,
was sie verbindet. Genau
darauf muss Europa nun
schauen und seine Schlüs-
se für die Politik
gegenüber dieser Region
ziehen. Denn die Folgen
der noch nicht absehba-
ren Verwerfungen werden
sich maßgeblich auch hier
auswirken.
Auf dem Märtyrerplatz
von Beirut herrscht Volks-
feststimmung, über den
Tahrir in Bagdad schallt
auf Arabisch umgeschrie-
ben das Protestlied „Bella
Ciao“. Es ist der ursprüngli-
che Text, den Arbeiterin-
nen auf den Reisfeldern
Norditaliens Anfang des
20.Jahrhunderts sangen,
der in zwei Zeilen fasst,
was heute die Menschen
im Nahen Osten und Nord-
afrika auf die Straße
treibt: „Eine unwürdige
Arbeit für einen Hunger-
lohn/und das Leben wird davon aufge-
zehrt.“ Die Menschen schreien nach Wür-
de, und dieser Begriff hat für sie eine zu-
tiefst existenzielle Bedeutung.
Algerien, Libanon und der Irak sind Ge-
sellschaften, die bis heute tief geprägt
sind vom Trauma des Krieges und Bürger-
krieges. Das System, der Staat gab sich im-
mer als Garant gegen den Rückfall in bluti-
ge Selbstzerfleischung. Doch erscheint
der jungen Generation der Status quo so
unerträglich, dass sie sich nicht mehr da-
von schrecken lässt – sie hat die Gräuel
nicht erlebt, die ihre Eltern noch zurückzu-
cken ließen. Sie lassen sich aber auch
nicht davon einschüchtern, dass etwa im
Irak maskierte Scharfschützen auf unbe-
waffnete, fahnenschwenkende Jugendli-
che feuern. 250 Tote hat es seit Beginn der
Proteste vor einem Monat gegeben. Aber
die Frustration ist stärker als die Angst.
Eine junge Bevölkerung, zwei von drei
Menschen in diesen Ländern sind unter
30, birgt große Chancen – aber nur, wenn
der Staat Bildung, Jobs und Perspektiven
bieten kann. Die Realität sieht anders aus:
horrende Jugendarbeitslosigkeit, selbst
unter Akademikern. Aufstieg und Wohl-
stand sind jenen vorbehalten, die Verbin-
dungen haben. Die breite Bevölkerung ver-
armt, während eine kleine Schicht in ob-
szönem Reichtum schwelgt. Die öffentli-


che Hand im Irak oder in Libanon kann
nicht einmal die Versorgung mit Strom
oder trinkbarem Wasser sicherstellen.
Und so fordern die Bürger ein Ende der
systemischen Korruption, der Klientel-
wirtschaft, den Sturz der Eliten, die sich
bereichern. Das aber geht an die Grundfes-
ten der politischen Ordnung. Im Irak und
in Libanon sollte das an konfessionellem
Proporz ausgerichtete System die Religi-
ons- und Bevölkerungsgruppen befrie-
den und Gerechtigkeit schaffen. Doch es
ist zur Grundlage für Günstlingsversor-
gung entlang dieser Linien pervertiert. In
Ägypten und Algerien haben Armee und
Geheimdienste ihre unangefochtene Stel-
lung missbraucht, einen Staat im Staat zu
errichten, der jeder Kontrolle entzogen ist
und sich selber die Pfründe zuteilt.
Es ist fraglich, ob sich diese Staaten im
Rahmen ihrer bestehenden Ordnung so re-
formieren können, dass sie den Forderun-
gen ihrer Bürger gerecht werden. Ebenso
unklar ist, ob die Protestierenden im Irak
und in Libanon ihre Einheit wahren kön-
nen oder doch die tief verwurzelten Rivali-
täten zwischen den Glau-
bens- und Religionsgrup-
pen durchbrechen – ob
am Ende Chaos und Ge-
walt stehen. Das revolutio-
näre Regime in Iran jeden-
falls, als wichtigster exter-
ner Machtfaktor in Liba-
non wie im Irak mit Partei-
en und Milizen vertreten,
macht klar, dass es Um-
stürze zu seinen Lasten
nicht akzeptieren wird.
Sicher ist nur, dass sich
die Probleme nicht ohne
gute Regierungsführung
lösen lassen – und diese
Forderung steht für viele
Menschen in der Region
noch vor den nicht minder
berechtigten Rufen nach
demokratischen Freihei-
ten. Die Tunesier, die sich
2011 im Arabischen Früh-
ling Demokratie erkämpf-
ten, haben jüngst einen
weithin unbekannten Ju-
risten zum Präsidenten gewählt, um nicht
von einem reichen Medienunternehmer
regiert zu werden, der als korrupt gilt. Gu-
te Regierungsführung sollte auch für die
Europäer die Maßgabe der Politik gegen-
über all diesen Ländern sein.
Gerade die Bundesregierung muss sich
von der Illusion verabschieden, dass etwa
Ägypten stabil ist. Präsident Sisi, den Do-
nald Trump in einem Moment entwaff-
nender Ehrlichkeit „meinen Lieblingsdik-
tator“ genannt hat, kann die Proteste
noch unterdrücken, die Grenzen einiger-
maßen dicht halten. Doch wenn die Staa-
ten Nordafrikas und des Nahen Ostens ih-
ren schnell wachsenden Völkern grundle-
gende Dienstleistungen nicht bieten, ge-
schweige denn Perspektiven auf ein Le-
ben in Würde, werden die Systeme kolla-
bieren – oder mit brutaler Gewalt gegen
ihre eigenen Bürger vorgehen müssen.
Zugleich werden die Jungen, die aus
Hoffnungslosigkeit die Angst vor dem ei-
genen Staat überwunden haben, ihre Zu-
kunft andernorts suchen – vor allem in Eu-
ropa. Die tödliche Gefahr der Überfahrt
übers Mittelmeer wird sie nicht abhalten,
auch Grenzzäune werden es nicht. Der
Herbststurm wird wieder an Europas
Grundfesten rütteln – so wie nach den Um-
stürzen des Jahres 2011 und der daraus fol-
genden Fluchtbewegung.

Während in Mitteleuropa an
Allerheiligen in aller Stille
der Verstorbenen gedacht
wird, feiert man in Mexiko
laut und bunt den Tag der To-
ten. Der Día de Muertos ist einer der wich-
tigsten Feiertage dort und immaterielles
Unesco-Kulturerbe der Menschheit.
Über das Verhältnis seiner Landsleute
zum Tod schrieb Nobelpreisträger Octa-
vio Paz: „Für einen Pariser, New Yorker
oder Londoner ist der Tod ein Wort, das
man vermeidet, weil es die Lippen ver-
brennt. Der Mexikaner dagegen sucht,
streichelt, foppt, feiert ihn, schläft mit
ihm.“ Im Spanischen ist „la muerte“ weib-
lich; die elegante Skelettdame La Catrina
ist die bekannteste Kultfigur am Tag der
Toten. Die farbenfrohen Feste auf Mexi-
kos Friedhöfen sind, ähnlich dem Christ-
baum an Weihnachten, synkretistische
Rituale, in denen sich katholische und
vorchristliche Bräuche vermischen: Dem
Volksglauben nach besuchen die Toten
am Ende der Erntezeit die Lebenden. Die-
se stellen nicht nur Blumen neben die Bil-
der ihrer Verstorbenen, sondern auch de-
ren Lieblingsgerichte. Aber so wie vieles
von dem, was Mexikaner essen, heute
aus den USA kommt und hochkalorisch
ist, droht der Norden mittlerweile auch
den mexikanischen Totenkult zu korrum-
pieren. Halloween hat zwar mit Skeletten
zu tun, aber wenig mit dem speziellen Ver-
hältnis der Mexikaner zum Tod. kjan

4 MEINUNG HMG Donnerstag/Freitag, 31. Oktober/1. November 2019, Nr. 252 DEFGH


GROSSBRITANNIEN

Hart und böse


Ob Johnsons Kalkül aufgeht,
ist fraglich. Im Wahlkampf dreht
sich nicht alles um den Brexit

KOALITIONEN

Die Linke wird gebraucht


BUSHIDO-URTEIL

Salomonisch


FRANZISKA GIFFEY

Aufatmen


sz-zeichnung: wolfganghorsch

ARABISCHE WELT


Explosionsgefahr


von paul-anton krüger


AKTUELLES LEXIKON


Tagder Toten


PROFIL


Christine


Lagarde


Erste Frau
an der Spitze
der EZB

Auf dem Spiel steht die
Demokratie. Die CDU muss sich
von alten Feindbildern trennen

Wenn die Staaten
Nordafrikas und
des Nahen Ostens
ihren Bürgern
nicht bald
ein Leben in Würde
bieten,
werden die Systeme
zusammenbrechen –
mit gravierenden
Folgen für Europa
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