Süddeutsche Zeitung - 31.10.2019

(Chris Devlin) #1

W


o soll Handke Verbrechen ge-
leugnet haben? Wo im Text?,
fragen seine Verteidiger. Wer
im Jahr 2019 in Handkes Tex-
ten über Jugoslawien die Leugnung inzwi-
schen gesicherter Fakten nicht gelesen
haben will, leugnet mit. Allen voran das
Nobelpreis-Komitee. Warum ein solches
Versagen der kritischen Urteilskraft in Zei-
ten, in denen Geschichtsrevisionismus zu
einer ernsten Gefahr geworden ist?
Wer so naiv wie Handke nach Handkes
Geschichtsklitterungen fragt, muss die
Prozesse vor dem UN-Kriegsverbrechertri-
bunal in Den Haag versäumt haben. Wer
meint, Handkes Texte böten Material, neu
über die Schuldverteilung auf dem Balkan
zu sprechen, hat das Begräbnis Franjo Tud-
jmans versäumt, bei dem kaum ein westli-
cher Staatschef zugegen war. Bis heute
kämpfen die Opfer um die Anerkennung
von Fakten. Vor Ort wird die Geschichte
der Kriege noch geschrieben. Gerade in
den Feuilletons sollten Handkes strategi-
sche Verdrehungen nicht zu Poesie oder
Medienkritik umgedeutet werden.
Mag sein, damals waren Handkes Jugo-
slawien-Texte für manche Leser eine intel-
lektuelle Anregung zum Zweifeln. Doch
wie geht das heute? Wie geht das in Anbe-
tracht gesicherter Fakten? Statt diese Fak-
ten zu berücksichtigen, säen Autoren wie
Eugen Ruge lieber Zweifel am Wahrheits-
gehalt der Fakten in der Buchpreisrede
von Saša Stanišić. Oder an der Lesekompe-
tenz der Handke-Kritiker. Was ist das für
ein Privileg, das noch aus der gepflegtes-
ten Ignoranz heraus das Wissen der ande-
ren in Zweifel ziehen darf?
Die Schwedische Akademie prüft mitt-
lerweile ein Handke-Interview, das 2011 in
der ZeitschriftKetzerbriefeerschien und
nun aufgetaucht ist. Handke dementiert
die darin getätigten Aussagen heute. Da-
bei reicht es, den Text „Gerechtigkeit für
Serbien“ zu lesen, der 1996 in derSüddeut-
schen Zeitungerschien und später von
Suhrkamp herausgegeben wurde. Hand-
ke schreibt in diesem Text über die ausge-
mergelten Gefangenen: Sie nähmen auf
den Kriegsbildern „für die Linsen und Hör-
knöpfe der internationalen Belichter und
Berichter, von diesen inzwischen angelei-
tet, gelenkt, eingewinkt (‚He, Partner!‘),
sichtlich wie gefügig die fremdgewünsch-
ten Martermienen und -haltungen ein.“
Kriegsopfer als willige Selbstdarsteller für
die Inszenierungen westlicher Reporter.
Später im Text fragt Handke: „Ist es er-
wiesen, dass die beiden Anschläge auf
Markale, den Markt von Sarajevo, wirk-
lich die Untat bosnischer Serben waren
(...)?“ 1996 mögen Handkes ahnungslose
Verteidiger diese vermeintlich naive Fra-
ge als Suche nach Gerechtigkeit gelesen
haben. Was aber haben die Verteidiger seit-
her getan, um die Passage über das Marka-


le-Massaker zu kontextualisieren? Sie et-
wa in den Kontext der nationalistischen
Narrative der Kriegsverbrecher zu setzen?
Die Anwälte des Kriegsverbrechers Rat-
ko Mladić behaupteten vor Gericht, die
Markale-Massaker seien eine bosniaki-
sche Inszenierung gewesen. Die bosni-
schen Muslime hätten sich wohl selbst
massakriert, um die Serben als Täter da-
stehen zu lassen. Die Schuldlosigkeit der
Täter – das ist die Suggestion auch hinter
Handkes Fragen. Seine Texte sind durch-
tränkt von solchen Täter-Opfer-Umkeh-
rungen, deshalb fordern die „Mütter von
Srebrenica“, Handke den Preis wieder ab-
zuerkennen.

Weshalb gibt es bis heute keine kom-
mentierte Ausgabe seiner Texte? Wer
Handkes „Fragen“ als Naivität abtut, ver-
harmlost die konsequenten Relativierun-
gen der „ethnischen Säuberungen“ an Tau-
senden muslimischen Bosniern zwischen
1992 und 1995 in Handkes Texten. Auch
die Architekten des Genozids wie Radovan
Karadžić würden, so Handke in seinen Tex-
ten, vom Westen zu einseitig dargestellt.
Zweifel zu säen ist ein strategisches Mit-
tel, um Genozide zu leugnen.
Nach der Markale-Frage stellt Handke
die „Parasiten-Frage“: „Wie war das wirk-
lich mit Dubrovnik? Ist die kleine alte wun-
derbare Stadtschüssel (...) im Frühwinter
1991 tatsächlich gebombt und zerschos-
sen worden?“ Allein am 6. Dezember 1991
feuerte die jugoslawische Armee 600 Gra-
naten in die Altstadt von Dubrovnik. Insge-
samt starben 114 Zivilisten und 200 Solda-
ten. Der Angriff gilt als Kriegsverbrechen,
da rein zivile Objekte und Ziele angegrif-
fen wurden.
„Gerechtigkeit für Serbien“ wurde im
Januar 1996 auch in der serbischen Zei-
tungIntervjuabgedruckt. Im auf Jugosla-
wien spezialisierten Online-ArchivYugo-
papirfinden sich die Zeitungsseiten. Der
Titel seines Textes lautete hier: „In der

Welt der großen Lüge.“ Im Zwischentitel
hieß es: „Sommerfestspiele in Dubrov-
nik“. Alles nur Inszenierung! Handke, der
gegen Falschdarstellungen in Zeitungen
zu klagen wusste, klagte nicht über diesen
Zwischentitel, sollte er ihn nicht gar selbst
genau so abgegeben haben.
Aus Serbien kam auch Protest. Hand-
kes poetische Sprache bekam vor allem
die serbische Dramatikerin Biljana
Srbljanović zu spüren. Handke bezeichne-
te sie 2007 in der ZeitschriftProfilals
„Westhure“. Zuvor hatte sie an die serbi-
schen Opfer des Milošević-Regimes erin-
nert. Für Handke aber war dessen Ausliefe-
rung „eine ewige Schande für Serbien“.
Darauf angesprochen, dass Srbljanović
forderte, Handke sollte, statt an
Miloševićs Beerdigung, mit einer Triller-
pfeife an der Gegenkundgebung teilneh-
men, sagte Handke: „Ach, die soll sich ihre
Pfeife ...“ – wohl am besten dorthin ste-
cken, wo Handke schon die betroffenen
Journalisten von Sarajevo stecken wollte.
Handkes Verteidiger behaupten gerne,
Handkes Kritiker hätten seine Texte nicht
gelesen. Insbesondere Kritiker mit Häk-
chen im Namen seien zu betroffen. Nimmt
man das ernst, könnten sich deutschstäm-
mige Denker künftig nicht mehr objektiv
zu Deutschland äußern, da sie aufgrund
ihrer Herkunft zu betroffen sind. Für
Handke ist alles, was die Schuldfrage
nicht in seinem Sinne beantwortet, Insze-
nierung. Doch 2019 liegen gesicherte Fak-
ten vor. Literatur ist kein Instrument, nati-
onalistischen Lügen den Dienst zu erwei-
sen. Es mag Privatsache sein, ob er auf die
Beerdigung eines Kriegsverbrechers ging.
Doch Texte, in denen Kriegsverbrechen re-
lativiert und geleugnet werden, betreffen
alle. Der Nobelpreis sollte kein Zweifeln an
historischen Fakten adeln, und sei es nur
in einer einzigen Zeile auffindbar.
Am 10. April 2000 wurde Angela Merkel, damals 45, zur Bundesvorsitzenden der CDU gewählt.
Der Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz, damals 44, überreichte ihr „MM“-Sekt zum Ansto-
ßen, schon damals eher im unteren Regal der Supermärkte zu finden. Merz war Teil des „Andenpakts“, ein Zusammen-
schluss einiger CDU-Männer, unter ihnen auch Roland Koch und Christian Wulff, die Merkel klein halten wollten. Merz, mitt-
lerweile 63, erholte sich politisch nie wieder von seiner Auseinandersetzung mit Merkel, kritisiert nun aber die Arbeit der
Langzeitkanzlerin. Woraufhin Daniel Günther, CDU-Ministerpräsident, 46, sich über ältere Herren mokiert, die Schlagzei-
len produzieren, sich aber vom Acker machen, wenn es darum gehe, für die Partei zu arbeiten. Merkel sagt dazu nichts. Ver-
mutlich ist sie mit Regieren beschäftigt. dapf

Der Erfolg der AfD sei umso bemerkens-
werter, wenn man bedenke, dass die Men-
schen in Thüringen erst kurz nach dem
antisemitischen Anschlag in Halle ge-
wählt hätten, schreiben viele europäi-
sche Zeitungen. Sie nehmen vor allem die
politische Pattsituation wahr, die sich
aus den Ergebnissen ergibt.Le Mondeaus

Frankreich sieht darin nicht nur eine „his-
torische Niederlage“ für die CDU von An-
gela Merkel, sondern ein Zeichen für
einen „anhaltenden Umbruch im deut-
schen politischen System“. Schon die Bun-
destags- und die Europawahl hätten die
„Kluft zwischen den beiden Deutsch-
lands“ gezeigt. Im Osten werde etwa die
Aufnahme von Flüchtlingen als „typisch
westdeutsche Politik auf Kosten der neu-
en Länder“ angesehen. Es sei an der Zeit,
dass Frankreich „eine Bilanz der Ereignis-
se in unserem Nachbarland“ zieht. Em-
manuel Macron habe auf ein starkes Pa-
ris-Berlin-Tandem gesetzt, doch nun er-
fordere die „politische Fragmentierung
Deutschlands einen radikalen Wandel“:
Paris müsse mit den Menschen im Land
sprechen, nicht mehr nur mit Berlin.

Der britischeGuardiananalysiert an-
gesichts des Wahlerfolgs der „rechtsex-
tremen, virulent fremdenfeindlichen“
AfD den Aufstieg einer neuen Generation
von Populisten in Europa. 30 Jahre nach
dem Fall der Mauer erhielt die AfD im ehe-
maligen „Stasiland“, in Sachsen, Branden-
burg und nun auch Thüringen, die Unter-
stützung von einem Viertel der Wähler.
Das sei „schockierend“, heißt es imGuar-
dian, weil diese Länder seit drei Jahrzehn-
ten Teil einer der reichsten und stabilsten
Demokratien der Welt seien. Doch ob-
wohl der Erfolg der AfD erschreckend sei,
bedrohe er die deutsche Demokratie
„nicht grundsätzlich“. Anders als etwa in
Ungarn, das „keine Demokratie mehr ist“
oder in Polen, wo die Regierung „dem un-
garischen Beispiel folgen“ will.

Jagoda Marinić ist Schrift-
stellerin. Ihre Kolumne er-
scheint alle vier Wochen
freitags an dieser Stelle.

Anna Reuß arbeitet im
RessortAußenpolitik.

D


ie türkische Militäraktion im
Nordosten Syriens könnte einer der
letzten Akte im Syrienkrieg sein.
Frieden in Syrien ist damit allerdings noch
lange nicht geschaffen.
Die Offensive hat die kurdische PYD
und ihre YPG-Miliz gezwungen, ein Arran-
gement mit der Regierung in Damaskus zu
finden. Im Ergebnis kann Präsident Assad
erstmals wieder Truppen in einige Städte
an der Nordgrenze Syriens schicken. Mit-
telfristig dürfte er auch den Osten zurück
unter staatliche Hoheit bringen.
Der Einfluss Russlands und Irans als
Schutzmächte der syrischen Regierung ist
weiter gewachsen. Russland kann faktisch
sogar der Türkei erlauben, bestimmte Ge-
biete im Norden zu kontrollieren, ohne
dass Damaskus sich dagegen wehren könn-
te. Trotz des Todes des IS-Anführers Abu
Bakr al-Bagdadi ist die Gefahr real, dass
der terroristische, sogenannte Islamische
Staat sich neu aufstellt. Ebenso real ist das
Risiko neuer Konflikte um Land und
Grundbesitz, wenn die Türkei tatsächlich
Flüchtlinge im Norden ansiedeln sollte, die
aus anderen Teilen Syriens kommen.
Die einhellige europäische Verurteilung
des türkischen Einmarschs in Nordsyrien
und die Suspendierung von Waffenliefe-
rungen an die Türkei sind angemessen.
Manche der teils absurden Forderungen
nach einer weitergehenden Bestrafung der
Türkei scheinen allerdings zu verdrängen,
dass die EU und ihre Mitgliedstaaten eben
keine gemeinsame, effektive Syrien-Poli-
tik entwickelt haben.
Sicher, Europa hat Lasten getragen,
Flüchtlinge aufgenommen, humanitäre
Hilfe geleistet und die Vermittlungsbemü-
hungen der Vereinten Nationen unter-
stützt. Europa hat immer betont, dass es
keine militärische Lösung des Syrien-Kon-
flikts geben könne. Nur haben andere Ak-
teure währenddessen militärische Fakten
geschaffen. Auch die Hoffnung, dass Syri-
ens Präsident Assad unter dem Druck
eines anfangs friedlichen Aufstandes
weicht, zu echten politischen Verhandlun-


gen gezwungen oder irgendwann von
Russland als Hindernis für einen politi-
schen Neuanfang angesehen und ersetzt
werden könnte, hat sich nicht erfüllt.
Europa kann Folgendes nicht ignorie-
ren: den faktischen Sieg Assads, den Ein-
fluss Russlands und Irans, die Fragilität
Syriens, die Gefahren für freiwillige und
erst recht für unfreiwillige Rückkehrer
und auch nicht das kleine politische Fens-
ter, das sich durch die Bildung eines Ver-
fassungskomitees geöffnet hat. Immer-
hin werden hier erstmals syrische Regie-
rungs- und Oppositionsvertreter unter
Vermittlung der Vereinten Nationen mit-
einander über Sachfragen reden.
Veränderte Realitäten zwingen dazu,
auch die eigene Politik zu überdenken.
Der zwischenzeitlich diskutierte Vor-
schlag einer internationalen Schutzzone
in Nordsyrien ist spätestens mit der rus-
sisch-türkischen Einigung zur gemeinsa-
men Kontrolle von Teilen dieses Gebiets
gegenstandslos geworden. Eine politi-
sche Strategie Europas für die syrisch-
türkische Konfliktlandschaft bleibt den-
noch nötig und könnte aus vier Elemen-
ten bestehen.

Erstens ist eine Neujustierung des Ver-
hältnisses zu Damaskus nötig. Man kann
das Regime ablehnen, aber nicht ignorie-
ren. Und man muss darüber nachdenken,
wie ein Wiederaufbau unterstützt wer-
den kann, der nicht die Regimeklientel
bereichert, sondern die Schwächsten
schützt und die Rechte der Opfer und Ver-
lierer des Krieges wahrt.
Dies verlangt, zweitens, den konstan-
ten Dialog mit Russland über die Zukunft
Syriens. Russland will in Syrien einen
autoritären, stabilen Verbündeten, aber
es will zumindest nicht, dass Syrien zum
Ausgangs- und Austragungsort einer mi-
litärischen Konfrontation zwischen Iran
und Israel wird.
Drittens geht es darum, die Bemühun-
gen der UN um einen möglichst inklusi-
ven politischen Prozess zu unterstützen.
So dürfte die gegenwärtige Situation es
ermöglichen, auch Vertreter der syrisch-
kurdischen PYD, die bislang auf türki-
schen Druck hin ausgeschlossen waren,
einzubeziehen.
Viertens gehören dazu intensive Ge-
spräche mit der Türkei. Ein Engagement
der Türkei sollte – auch wenn Ankara
dies öffentlich ablehnt – das Angebot „gu-
ter diplomatischer Dienste“ für einen
neuen Friedensprozess im Innern, eine
Verständigung mit der syrischen PYD
und auch mit Syrien selbst einschließen.
Ist das erfolgversprechend? Vielleicht
nicht. Aber Diplomatie kann nicht nur
dort aktiv werden, wo der Erfolg gesi-
chert ist.

Volker Perthes ist Politikwissenschaftler und
leitet die Stiftung Wissenschaft und Politik.

Sie waren jung


DEFGH Nr. 252, Donnerstag/Freitag, 31. Oktober/1. November 2019 MEINUNG 5


FOTO: MICHAEL JUNG/AFP/DPA

Pure Poesie


Handkes Verteidiger ziehen historisches Wissen
in Zweifel und pflegen die Ignoranz. Wer Handkes
Leugnung nicht gelesen haben will, leugnet mit

VON JAGODA MARINIĆ


Nationalistischen Lügen
den Dienstzu erweisen,
ist nicht Sache der Literatur

Syrien wieder


aufbauen


Die EU hatte nie eine
gemeinsame Syrien-Politik.
Nun haben andere
Fakten geschaffen.
Europa ist dennoch gefragt

VON VOLKER PERTHES

MEINE PRESSESCHAU


Die deutsche


Kluft


GESCHICHTSBILD


Diplomatie kann nicht nur
dort aktivwerden, wo
der Erfolg gesichert ist

WEGBEREITEND.


WEGWEISEND.


1959 hat Volvo den Dreipunktgurt erfunden und 1959 hat Volvo den Dreipunktgurt erfunden und
in allen Fahrzeugen eingeführt. Zur Sicherheit in allen Fahrzeugen eingeführt. Zur Sicherheit
aller haben wir das Patent jedem Hersteller zur aller haben wir das Patent jedem Hersteller zur
Verfügung gestellt. Mit Erfolg: Der Dreipunktgurt Verfügung gestellt. Mit Erfolg: Der Dreipunktgurt
ist heute der Lebensretter Nummer eins.ist heute der Lebensretter Nummer eins.

Ab 202 0 sichert Volvo alle Fahrzeuge bei 180 km/h ab.
Mit diesem Schritt bleiben wir unserer Vorreiterrolle treu und
machen die Straßen sicherer für alle Verkehrsteilnehmer.

1959


2020


SCHNELLER SICHER. VOLVO FÄHRT 180.


MEHR AUF VOLVOCARS.DE/ 180

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