von mohamad alkhalaf
D
en Begriff Bergsteigen habe ich
immer mit Strapazen und Entbeh-
rungen verbunden. Und vor nicht
allzu langer Zeit zudem mit der Angst da-
vor, entdeckt zu werden. Als ich vor gut
vier Jahren in München ankam, steckte
mir eine 30-tägige Flucht in den Kno-
chen inklusive einer dramatischen Wo-
che in den Bergen. Zwischen der syri-
schen Stadt Raqqa und der südlichen
Grenze der Türkei ragen sie um die tau-
send Meter aus der Erde. Nur über die
Bergpfade hatte ich eine Chance, unent-
deckt an den Grenzwächtern des IS vor-
beizukommen. Wie sehr hätte ich mir sei-
nerzeit eine Hüttenbrotzeit gewünscht.
Wenn man eine Woche unter Felsen ge-
schlafen hat, zugedeckt mit nichts als ei-
nem braunen Tarnmantel, will man von
Bergen und Gipfeln erst einmal nichts
mehr wissen. Um unerkannt in die Berg-
regionen zu gelangen, musste ich auf jeg-
liches Gepäck verzichten, ein Rucksack
hätte mich und meine Fluchtpläne sofort
verraten. Und so schlug ich mich durch –
mit nichts als meinem Mantel und mei-
nem Mobiltelefon. Die Bergbauern gaben
mir Ziegenmilch und Brot, und die Felsen
boten den nötigen Sichtschutz. Nach sie-
ben Tagen gelangte ich unbemerkt in die
Türkei. Drei Wochen später erreichte ich
München. Dort begegnete mir wenig spä-
ter der Begriff „Hochgefühl“.
Vier Jahre in München lehren einen,
dass man sich auch hier in bergigem
Grenzgebiet in Gefahren begibt. Der Un-
terschied: Die Münchner tun dies freiwil-
lig. Manche quälen sich über steile Pfade
auf Gipfel hinauf und senden dann Be-
weisfotos über soziale Netzwerke in die
Welt. Andere springen mit Fallschirmen
oder Fluganzügen von oben ins Land hin-
ab und landen bisweilen so unsanft, dass
sie ihre Waghalsigkeit bereuen. Das hat
es also mit diesem Hochgefühl auf sich?
Mit den Eindrücken meiner Flucht
konnte ich vieles von dem zunächst nur
mit Zynismus ertragen. Bis ich mit dem
Begriff „Wandern“ bekannt gemacht wur-
de. Wandern ist die entschärfte Variante
von Bergsteigen, aber ambitionierter als
spazieren gehen. Man trägt dabei einen
Rucksack und befindet sich fernab von
städtischem Gebiet, nur nicht dort, wo
man vor Anstrengung kollabiert oder
mangels Erfahrung abstürzt. Man kann
zum Beispiel an den Staffelsee fahren
und von dort aus Wanderungen machen,
ohne steile Wege meistern zu müssen.
Wo auch immer man will, zieht man dann
seine Trinkflasche aus der Tasche und
schaut sich die schöne Natur an. Mit Bä-
chen, die herabfließen wie das wellige
Haar einer Meerjungfrau. Solche Eindrü-
cke machen Appetit auf Brotzeit. Zu die-
sem Zweck sind Wanderstrecken mit Hüt-
ten ausgerüstet. Spätestens dort ist es
mit jeglichen Strapazen und Entbehrun-
gen vorbei.
Mohamad Alkhalaf musste
erst lernen,dass man in
Bergen ein Hochgefühl
spüren kann.
interview: elisa schwarz
O
liver Markovsky, 41, ist Leiter
des Zentrums für geschlechts-
angleichende Chirurgie an der
chirurgischen Klinik Mün-
chen-Bogenhausen. Im wei-
ßen Kittel kommt er in den Besprechungs-
raum, in der Brusttasche ein paar Filzstif-
te. Die braucht er, wenn er seinen Patien-
ten erklärt, was man als Laie nur schwer
versteht – wie aus einer Vagina ein Penis
werden kann und umgekehrt. Dann malt
er auf einer Flipchart die Anatomie des
Menschen auf. Erklärt. Zeigt Bilder. 750 ge-
schlechtsangleichende Operationen ha-
ben Markovsky und sein Team 2018 durch-
geführt. 2010 waren es rund 150.
SZ: Herr Markovsky, können Sie sich
noch an Ihre erste geschlechtsangleichen-
de Operation erinnern?
Oliver Markovsky: Sehr gut sogar. Das war
im Jahr 2006. Ich war neu hier an der Kli-
nik und hatte zum ersten Mal eine Patien-
tin, die biologisch gesehen ein Mann war,
sich aber als Frau definierte. Für mich war
das wahnsinnig spannend.
Inwiefern?
Ich wollte die Wahrnehmung der Patien-
ten verstehen. Wie es ist, im falschen Kör-
per zu leben und ein Organ abstoßend zu
finden, das nicht krank ist, sich aber falsch
anfühlt, wie ein Fremdkörper. Und dann
ist es für mich als Operateur auch eine
schöne OP. Aufwendig klar, aber man sieht
so viel lebensechte Anatomie, so viele
Strukturen wie bei kaum einer anderen
urologischen Operation. Damals waren sol-
che Eingriffe auch noch deutlich seltener.
Transfrauen und Transmänner waren in
der Öffentlichkeit auch noch nicht so
sichtbar wie heute.
Nicht nur das. Selbst wenn sich die Betrof-
fenen getraut haben, über die Diskrepanz
zwischen ihrem Körper und ihrer Seele zu
sprechen, fehlten häufig die Ärzte mit dem
nötigen Wissen und Können. Transchirur-
gie war einfach kein Thema im Medizinstu-
dium. Ist es bis heute nicht.
Es gibt keine Ausbildung zum Facharzt?
Nein. Man lernt von Kollegen, die sich
selbst das Wissen angeeignet und schon
häufig angewendet haben. Ich kam 2006
als urologischer Assistenzarzt hier an die
Klinik, wollte also Urologe werden, und
landete dann zufällig in einer geschlechts-
angleichenden Operation. Ab da habe ich
im interdisziplinären Team gelernt – von
anderen Urologen, Gynäkologen, plasti-
schen Chirurgen. Es gibt keine Ausbil-
dung, und das ist ein Problem.
Heute scheint das Thema Transsexualität
präsenter zu sein als damals. Ist die Nach-
frage nach geschlechtsangleichenden
Operationen gestiegen?
Exponentiell! Hier in der Klinik hatten wir
im Jahr 2010 ungefähr 80 Patienten. Heu-
te sind es 400. Übrigens kommen etwas
mehr Transmänner zu uns, also biologisch
gesehen Frauen, die eine männliche Ge-
schlechtsangleichung wünschen.
Woran liegt das?
Es gibt weniger Ärzte, die Frau-zu-Mann-
Operationen durchführen, weil sie aufwen-
diger sind. Viele Patienten möchten ihre
Gebärmutter, Eierstöcke und Brüste ent-
fernen lassen, die Scheide verschließen, ei-
nen Penoidaufbau vornehmen lassen und
eine Erektionsprothese eingesetzt bekom-
men. Das sind viele anspruchsvolle Einzel-
schritte. Operateure mit entsprechender
Erfahrung sind seltener. In der Gesell-
schaft ist Transsexualität bei Männern
und Frauen aber etwa gleich verteilt.
Welche Hoffnungen haben Menschen, die
zu Ihnen kommen?
Unsere Patienten kommen ja in ganz unter-
schiedlichen Lebensphasen. Unsere ältes-
te Patientin war 79 Jahre alt. Für sie war es
ein jahrzehntelang gehegter Lebens-
traum, endlich den Körper zu haben, den
sie sich immer gewünscht hatte. Andere
sind gerade 18, sie machen sich Gedanken
über die Funktion ihres neuen Ge-
schlechtsorgans, über den Orgasmus oder
die Option, im Stehen pinkeln zu können.
Im Stehen pinkeln?
Ja. Für die meisten Transmänner ist das
ein ganz wesentlicher Punkt.
Warum?
Weil man als Mann einfach im Stehen pin-
keln kann.
Sie sprechen mit Ihren Patienten also
sehr genau über ihre Wünsche.
Das ist sehr wichtig, weil Transsexualität
unglaublich vielseitig ist. Viele Transmän-
ner möchten eine Erektionsprothese, mit
der sie ihr Penoid für den Geschlechtsver-
kehr versteifen können. Andere wollen
nur eine Art Mikro-Penis. Und dann gibt es
Patienten, die einen Penoidaufbau wün-
schen, ihre Vagina aber behalten wollen.
Dann gibt es keine Standard-Operation?
Nein, die gibt es nicht. Wir raten ja nieman-
dem, bestimmte Operationsschritte oder
eine komplette Angleichung vornehmen
zu lassen. Aber es ist sehr wichtig, dass die
Vorstellungen über die Operationsmög-
lichkeiten und die Ergebnisse realistisch
sind.
Was wäre denn unrealistisch?
Es passiert selten, aber manche Menschen
stellen sich vor, dass wir eine Art Umwand-
lung machen. Sie erwarten dann ein Ge-
schlechtsorgan, das genauso aussieht und
funktioniert wie ein natürliches. Ich hatte
mal einen jungen Transmann, der sehr un-
geduldig war und am liebsten alle Einzel-
schritte auf einmal durchgeführt hätte,
was wir aber nicht machen.
Und dann?
Habe ich ihm Originalbilder von Men-
schen nach der Operation gezeigt, damit
er keine falschen Erwartungen hat. Das
machen wir in unseren Sprechstunden im-
mer. Es sind Ergebnisse, mit denen auch
die Patienten zufrieden waren. Aber für
ihn waren die Bilder frustrierend. Das sehe
alles so unecht aus, so unnormal. Klar, am
Ende ist es eine Angleichung, nicht das Ori-
ginal. Und die meisten Patienten wissen
das auch.
Viele Patienten haben ja schon einen lan-
gen Weg hinter sich, bevor sie zu Ihnen
kommen, nehmen Hormone und versu-
chen, im Alltag schon im neuen Ge-
schlecht zu leben. Aber wie findet man
heraus, ob ein Patient wirklich bereit ist
für eine Operation, die ja unumkehrbar
ist?
Nicht durch unser Beratungsgespräch al-
lein. Wir brauchen Unterstützung von Psy-
chologen oder Psychiatern, die die Betrof-
fenen betreuen. Sie müssen von ihrer Seite
die Diagnose der „Transsexualität“ oder
„Geschlechtsdysphorie“ stellen und die In-
dikation beschreiben, also die medizini-
sche Notwendigkeit für eine geschlechts-
angleichende Operation. Wir müssen von
diesen Kollegen auch wissen, dass keine
Erkrankungen vorliegen, die eine Ge-
schlechtsdysphorie vortäuschen können.
Dann wäre eine andere Behandlung erfor-
derlich.
Ja. Es wäre fatal, wenn wir einen Men-
schen körperlich verändern, dem wir da-
durch letztlich nicht helfen. Sie müssen se-
hen: Wir stehen auch unter einem hohen
Rechtfertigungsdruck, Reproduktionsor-
gane zu entfernen, die an sich nicht krank
sind.
Kritiker sagen, dass es bei Jugendlichen
einen Hype um Geschlechtsangleichun-
gen gibt und dadurch Operationen ver-
harmlost werden. Wie sehen Sie das?
Wenn Leute glauben, dass wir ihnen einen
Katalog vorlegen, wo sie sich einfach so ei-
nen neuen Körper bestellen können, dann
sehe ich auch eine Verharmlosung. Da ha-
ben auch wir als Operateure die Aufgabe,
ein realistisches Bild zu vermitteln. Aber
ich glaube, dass das Thema Transsexuali-
tät in der Öffentlichkeit präsenter ist, ist
eher eine gesellschaftliche Entwicklung,
die man nicht aufhalten sollte und auch
nicht aufhalten kann. Es hat schon immer
Transmenschen gegeben. Lange war es
für viele aber keine Option, sich zu outen.
Wenn heute in Filmen, bei der Miss-Uni-
verse-Wahl und im Supermarkt an der Kas-
se Transsexuelle klar erkennbar sind, ist
das kein Hype, sondern eine Errungen-
schaft der Gleichberechtigung.
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WANDERN
Das ist
der Gipfel
Es hat schon immer
Transmenschen gegeben.
Langewar es für viele aber
keine Option, sich zu outen.
Wenn heute in Filmen, bei
der Miss-Universe-Wahl
und im Supermarkt an der
Kasse Transsexuelle
klar erkennbar sind, ist das
kein Hype, sondern eine
Errungenschaft der
der Gleichberechtigung.“
„Man kann sich nicht einfach
einen neuen Körper bestellen“
Chirurg Oliver Markovsky hat sich auf Transsexualität spezialisiert. Ein Gespräch über den Wunsch,
im Stehen pinkeln zu können, und den vermeintlichen Hype um Geschlechtsumwandlungen
Wieviele Transsexuelle inDeutschland ge-
nau leben, ist nicht bekannt. Ein Anhalts-
punkt für Schätzungen bieten die Ände-
rungsverfahren für Vornamen und Perso-
nenstand, die über das Transsexuellenge-
setz geltend gemacht werden können.
2017 gingen mehr als 2000 solcher Anträ-
ge bei den Amtsgerichten ein.
Mann-zu-Frau-Operation
(zwei Eingriffe)
Zunächstentfernendie Ärztedie Hodenso-
wiedie großenPenisschwellkörper undbil-
den die Höhle der Neovagina. Dafür ver-
wenden sie die eingestülpte Penisschaft-
haut und ein Hauttransplantat vom ehe-
maligen Hodensack. Die Harnröhre bleibt
erhalten, die Eichel wird zur Klitoris ge-
formt. Während des zweiten Eingriffs er-
weitern die Operateure den Eingang der
Neovagina, bilden ein Klitorishäubchen
und korrigieren wenn nötig die Schamlip-
pen. Das größte Risiko liegt darin, den
Darm oder die Blase zu verletzen. Die Rate
liegt in einem sehr niedrigen Bereich.
Frau-zu-Mann-Operation
(vier bis fünf Eingriffe)
Markovsky und sein Team entfernen zu-
nächst die Brust (vermännlichende Brust-
operation). Dann werden die Gebärmutter
und die Eierstöcke entfernt. Anschließend
verschließen dieÄrzte dieScheide undver-
längern die Harnröhre. Dann beginnt die
Konstruktion des Penoids, ein chirurgisch
aufgebauter Penisersatz.Dafür transplan-
tieren die Ärzte Haut und Fettgewebe vom
Unterarm oder Oberschenkel und formen
daraus das Penoid und die neue Harnröh-
re. Beim nächsten Eingriff bilden sie die Ei-
chel.Aus den ehemaligen äußeren Scham-
lippen entsteht in diesem Schritt zudem
derHodensack, die Harnröhrewird verbun-
den. In einem letzten Schritt implantiert
das Team eine Erektionsprothese.
Die größte Gefahr liegt im „Überleben“
des Penoids. Wenn das Gewebe nach dem
Transplantieren nicht genügend mit Blut
versorgt wird, kann das Penoid absterben.
Die Rate liegt nach Angaben von Markovs-
ky bei circa 0,5 Prozent. ESCH
TYPISCH DEUTSCH
Der Weg zum neuen Geschlecht
750 geschlechtsangleichendeOperationen im Jahr: „Eine Ausbildung gibt es nicht, und das ist ein Problem“, sagt Oliver Markovsky. FOTO: ROBERT HAAS
Ihre Flucht hat drei Journalisten
nach Münchengeführt.
In einer wöchentlichen Kolumne
schreiben sie, welche Eigenarten
der neuen Heimat sie mittlerweile
übernommen haben
R6 LEUTE Donnerstag/Freitag, 31. Oktober/1. November 2019, Nr. 252 DEFGH
Die neue Serie.
Täglich ab Samstag, 2. November 2019.
München und die Liebe.