Süddeutsche Zeitung - 31.10.2019

(Chris Devlin) #1
von stefan mühleisen

Schwabing– Geschichte muss man mit
dem Bleistift schreiben, hat der französi-
sche Historiker und Publizist Pierre Gaxot-
te einmal notiert: Es lasse sich dadurch
leichter radieren. Ein spöttisches Bonmot
zur Angewohnheit, die frühere Sichtweise
auf die Historie zu tilgen und mit der eige-
nen zu überschreiben. Interessant wird es,
wenn schon während des Geschehens ra-
diert wird – und die Geschichte von Plä-
nen, Wünschen, Konzepten handelt, zum
Beispiel vom Münchner Wohn- und Ge-
schäftsquartier Parkstadt Schwabing.
Seit Montag muss im Fall dieses Stücks
Stadt der ganz große Radiergummi heraus-
geholt werden: Die Firma Argenta, größter
Grundeigentümer in diesem 40 Hektar
großen Gebiet nördlich der Schenkendorf-
straße, will nun doch nicht 800 Wohnun-
gen auf den Restflächen bauen – sondern
Büros. Ein Paukenschlag, der die Stadtpoli-
tik aufschreckt. „Schockierend“, nennt
Grünen-Fraktionschefin Katrin Haben-
schaden die Nachricht. Es ergeht der Ap-
pell an die Planungsbehörde und den Ober-
bürgermeister, die Verhandlungen wieder
aufzunehmen. „Wenn die Änderung des
Bebauungsplans absurde neun Jahre dau-
ert, dann läuft hier gewaltig was schief“,
sagte ÖDP-Stadtrat Johann Sauerer.
Während die Kritik laut, das Bedauern
groß ist, ereignet sich ein Glücksfall: Denn
ein für dieses Sujet perfekt geeigneter
Künstler aus Köln gastiert in München –
und er führt mit einer Ausstellung im
Kunstraum an der Holzstraße 10 vor Au-
gen, dass da von Anfang an etwas gehörig
schieflief. „Zeichen der Zeit. Zur Geschich-
te eines geschichtslosen Gebiets genannt
Parkstadt Schwabing“, hat der Fotograf Ar-
ne Schmitt die Schau betitelt.
Der 35-Jährige bietet ein gut recher-
chiertes Porträt dieses Viertels, das auch
Wohngebiet sein soll, in Wahrheit aber von
monolithischen Bauten der Hightech-
Wirtschaft dominiert wird, den Komple-
xen von Amazon, Microsoft, Osram etwa.
Schmitt nennt die Parkstadt ein „Business-
Ghetto“, seelenlos sei dieses Gebiet. „War-

um hat die Stadt nicht versucht, etwas zu
schaffen, wo die Menschen gerne leben?“
Das ist kein unreflektiertes Urteil. Denn
Schmitt ist deshalb die Idealbesetzung für
einen künstlerischen Augenschein der
Parkstadt, weil im Zentrum seines Werks
die historisch fundierte Betrachtung von
Architektur und Städtebau der Nach-
kriegszeit steht. Er ist primär ein Vertreter
der Dokumentarfotografie, wobei sein
Werk mehr zeigen will, als das rein Sichtba-
re: Er formt aus Quellen – Zeitungsberich-
ten, Bauakten, Landkarten – eine Art chro-
nologisches Fundament, auf das er seinen
fotografischen Blick stellt. Und der seziert
auf Basis der Recherche die Wunden und
Bruchlinien. Dafür ist Arne Schmitt 2018
mit dem Kunstpreis der Böttcherstraße in
Bremen ausgezeichnet worden. Er hatte
seine historisch-kritische Methode auf
Ludwigshafen angewandt.

Im Fall der Parkstadt ist der große For-
mer Helmut Röschinger, Gründer und In-
haber der deutschlandweit umtriebigen
Immobilienfirma Argenta sowie Gastge-
ber eines alljährlichen Sommerempfangs
in seiner Krantz-Villa, zu dem Prominenz
aus Kultur und Politik pilgert. Als Akteur
bleibt er meist im Hintergrund; deshalb ist
es folgerichtig, dass er in der Ausstellung
nicht auftaucht – nur das, was er in der
Parkstadt geschaffen hat: ein Quartier, be-
herrscht von der glatten Ästhetik der Ge-
schäftswelt, in dem sich die Hinweise,
dass es in dieser Bürowelt auch Bewohner
gibt, mühsam behaupten müssen. Abzule-
sen ist das an den Schwarz-Weiß-Fotogra-
fien im ersten Stock: lauter Firmenschil-
der mit ihrem kantigen Design, jedes für
sich ein Monolith. Dagegen sind die Emble-
me der Stadtgesellschaft – ein Kita-Tür-
schild, ein Aushangkasten der lokalen Poli-
tik – dünn gesät. Ein knappes Dutzend Zei-
chen der Nahversorgung (Supermarkt,
Apotheke, Bäckerei et cetera) sind auf eine
einzige Stele gequetscht. Das macht den
Stellenwert der Wohnbevölkerung klar:
Sie sind Randfiguren in einer Büro-City.
Dabei hat das irgendwie Charakterlose
dieses Areals eine lange Tradition, wie die
Ausstellung anhand von historischen Fo-
tos dokumentiert. Seit 100 Jahren wird

nach Kräften herumradiert an der Topo-
grafie, wie Bauakten zeigen, die Schmitt
im Stadtarchiv gefunden hat: Straßenna-
men und -verläufe ändern sich über die
Jahrzehnte, bis der Baustoff- und Treib-
stoffhändler Raab-Karcher das Gelände in
den Sechzigerjahren zum Industriegebiet
formt. Dann tritt die Argenta auf den Plan,
die mit großem Brimborium im März
2000 den Raab-Karcher-Firmensitz spren-
gen lässt. Da wird bereits eifrig an der neu-
en Geschichte für die Parkstadt geschrie-
ben. Ein städtisches Gesicht soll das Neu-
baugebiet erhalten, mit einem zentralen
Boulevard mit Läden und Cafés. Dazu eine

zentrale Parkanlage, flankiert von Biergär-
ten, Pavillons, Spielplätzen.
Der Park kommt, allerdings empfinden
ihn die Parkstädter als steril und künst-
lich. Auch Pavillons gibt es, „doch die sind
reine Deko“, findet Schmitt, wobei er sich
verblüfft zeigt, dass die ursprünglichen
Ziele „in keinster Weise realisiert wurden“.
Erstaunlich ist das auch deshalb, wenn
man den Kommentar von Alt-OB Christi-
an Ude bei der Sprengung des Raab-Kar-
cher-Gebäudes vor Augen hat. Er sprach
da von einem „Musterbeispiel für Public-
private-Partnership“. Es entwickelte sich
eher zu einem Public-private-Missverhält-

nis. Die Divergenz von Anspruch und Wirk-
lichkeit zeigt sich für Schmitt auch an den
Straßennamen. Mies-van-der-Rohe-Stra-
ße, Oskar-Schlemmer-Straße: Referenzen
an Vertreter der Bauhaus-Avantgarde.
„Aber alles was in der Parkstadt steht, ist
eine Beleidigung für alles, wofür das Bau-
haus stand“, sagt der Künstler.

Die Schau im Kunstraum, Holzstraße 10, läuft bis


  1. Dezember. An diesem Freitag, 1. November, fin-
    det dortein Podiumsgespräch mit Arne Schmitt
    und der Münchner Architektin Julia Hinderink
    statt. Beginn ist um 19 Uhr, der Eintritt ist frei.


Lerchenau– DenGrusel von Halloween
auf einen städtebaulichen Rundgang
übertragen: Das will der „Stadtplanungs-
Horror-Trip“ durch die Eggarten-Sied-
lung. Sechs Mal hintereinander führt am
Sonntagabend, 31. Oktober, Herbert Ger-
hard Schön von der Werkstatt für Ökode-
sign und lebendige Kunst durch die Sied-
lung. Stündlich von 17 bis 23 Uhr beginnt
der Spaziergang an der Ecke Lassalle-
und Eggartenstraße. Die Horror-Kompo-
nente besteht laut Schön darin, wie aus
der vormaligen Eisenbahner-Siedlung in
der Lerchenau die „nahezu unglaubliche
Investoren-Betongold-Grube wurde“.
Die Teilnahme ist kostenlos. brju


Moosach– Die Künstlerin Rikki Rein-
wein, zugleich Präsidentin der Berufsver-
einigung der Bildenden Künstler Öster-
reich, legt gern den Finger auf übersehe-
ne Wunden des sozialen Miteinanders.
Sie zeigt Diskrepanzen der heilen Welt
auf, streicht diese hervor, vertauscht und
verfremdet, um die Absurdität des Vor-
handenen zu betonen. In der Ausstellung
„Reflexionen“, die am Samstag, 2. Novem-
ber, 16 Uhr, im Kunsttreff Moosach, Do-
nauwörther Straße 51, eröffnet wird,
führt sie mit ihren Bildern, Plastiken oder
den Installationen „Weiberkram“ und
„Vernetzt“ auf den ersten Blick alltägli-
che Situationen vor, die sich ob ihrer „Nor-
malität“ eigentlich der Reflexion entzie-
hen. Die Schau ist bis Sonntag, 10. Novem-
ber, zu sehen. Geöffnet ist am Sonntag,



  1. November, 16 bis 19 Uhr, Freitag und
    Samstag, 8. und 9. November, jeweils
    17 bis 19 Uhr, und Sonntag, 10. Novem-
    ber, von 16 bis 18 Uhr. anna


Moosach – Fans fernöstlicher Spiele
kommen auf ihre Kosten beim Münchner
„Bierseidel“-Go-Turnier am Samstag
und Sonntag, 2. und 3. November, im Pel-
kovenschlössl am Moosacher Sankt-Mar-
tins-Platz 2. Go gilt zusammen mit Back-
gammon und Mühle als eines der ältes-
ten Strategiespiele der Welt. Anmelde-
schluss ist am Samstag um 12.30 Uhr,
Turnierbeginn ist um 13 Uhr. Die letzte
Runde am Sonntag startet um 10 Uhr. Die
Teilnahmegebühr beträgt 15 Euro. Weite-
re Infos unter [email protected] oder Tele-
fon 0171/407 19 66. anna


Zu seinem 40-jährigen Bestehen hat der
Planegger Wochenmarkt ein Fest auf dem
Marktplatz gefeiert. Standbetreiberin Mar-
tina Kling bot Apfelkücherl an und spende-
te den Erlös an denKindergarten „Die
Würmeulen“, die eigens für einen Tanz
auf den Marktplatz gekommen waren.
170 Euro kamen zusammen. Bürgermeis-
ter Heinrich Hofmann (SPD) übergab die
Spende an die Kinder, die sich ausmalten,
was man damit kaufen könne.

Einblicke in den Arbeitsalltag in einem
Kieswerk hat derTag der offenen Tür der
Firma Glückin Gräfelfing gewährt. An die
1000 Besucher ließen sich zeigen, wie Roh-
kies in seine Bestandteile getrennt wird.
Den Besucherandrang wertete das Unter-
nehmen auch als Reaktion auf die massive
Kritik an der Firma, die zuletzt in der Öf-
fentlichkeit geäußert worden war. In der
Auseinandersetzung geht es um die Er-
schließung weiterer Kiesabbaugebiete.
Laut der Firma Glück waren die Kiesgeg-
ner nicht zum Tag der offenen Tür gekom-
men. Diese hatten laut Astrid Pfeiffer von
der Bürgerinitiative „Rettet den Würmta-
ler Wald!“ auch keine Protestkundgebung
geplant. Man wolle trotz unterschiedlicher
Ansichten „anständig miteinander umge-

hen“. Den Erlös aus der Bewirtung in Höhe
von 2500 Euro spendete Glück der ehren-
amtlichen Initiative „Zeit statt Geld“ in
Gräfelfing. Die Gesellschafterinnen Stefa-
nie Liebscher-Glück und Irene Petschar-

nig übergaben den Scheck. Die Initiative
möchte das Geld für die Anschaffung von
Hochbeeten für die Bewohner des Caritas-
Altenheims St. Gisela verwenden, die den
Bewohnern viel Freude machen werden.

„Achtung, Achtung, wir schließen wegen
einer Betriebsstörung.“ Die Durchsage
hört Ivo Walther ungern, weil sie im Nor-
malfall Störungen ankündigt und alle Be-
sucher dasLadenzentrum Riem Arcaden
zügig verlassen müssen. Kürzlich kam die
Durchsage zu Übungszwecken. Centerma-
nager Walther kann nun sagen: „Es hat al-
les gut geklappt, unser Evakuierungsplan
funktioniert.“ Laute Durchsagen im ge-
samten Zentrum mit seinen rund 140 Lä-
den und Gastrobetrieben, im Parkhaus
und auf dem Vorplatz forderten alle Besu-
cher auf, das Gebäude über die Notausgän-
ge zu verlassen. Gut ausgebildete Mitarbei-
ter konnten das gewährleisten.

Mit Torte, Tanz und Konzert: DerKinder-
treffpunkt Oskar-Maria-Graf-Zentrum
Neuperlachhat sein 20-jähriges Bestehen
gefeiert. Seit 1999 setzt er sich für Kinder
und Familien in Neuperlach Ost ein – für
Platz zum Spielen, gut betreute Freizeit-
und Förderangebote und ein gutes Mitein-
ander von Jung und Alt. Gegründet von en-
gagierten Frauen und gefördert vom Stadt-
jugendamt, ist der Treff für viele Kinder
und Teenies zu einem zweiten Zuhause ge-
worden. Dort können sie mitreden und vie-
les selbst machen. re, jae

Die Stadtgesellschaft kann
ihre Embleme in der
Bürowelt kaum durchsetzen

„Horror-Trip“ durch


Eggarten-Siedlung


Ansichten der Parkstadt:
Arne Schmitt (o. li.) porträtiert
die von Bürobauten (gr. Bild,
li.) und kantigen Firmenlogos
geprägte Ästhetik des Wohn-
und Gewerbegebiets.
FOTOS: SEBASTIAN GABRIEL, CATHERINA HESS,
STEPHAN RUMPF, ARNE SCHMITT

Verfremdete


Alltäglichkeit


Turnier für


strategische Denker


Die Leiterin des Kindergartens „Die Würmeulen“ nahm von Bürgermeister Hein-
rich Hofmann die Spende der Marktleute entgegen. FOTO: PRIVAT

Ein Blick


in die Wunde


Menschen sind in der Parkstadt Schwabing nur
Randfiguren, zeigt die Ausstellung „Zeichen der Zeit“

STADT, LAND, LEUTE


NORDEN


R8 STADTVIERTEL PWC Donnerstag/Freitag, 31. Oktober/1. November 2019, Nr. 252 DEFGH


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