Süddeutsche Zeitung - 31.10.2019

(Chris Devlin) #1
interview: cerstin gammelin
und mike szymanski

F


ür Vizekanzler Olaf Scholz, 61,
geht es jetzt um die politische Zu-
kunft. Mit der Parteikollegin Kla-
ra Geywitz aus Brandenburg be-
wirbt er sich um den Vorsitz der
SPD. Scheitern sie, dann wackelt die große
Koalition. Scholz sitzt in seinem Amtszim-
mer im Bundesfinanzministerium. Alles
ist penibel aufgeräumt. Er bleibt lange
sachlich, bis es um den Unionskollegen
Friedrich Merz geht.


SZ: Herr Scholz, Sie haben mit Klara
Geywitz 22,68 Prozent in der ersten Run-
dedes Mitgliedervotums bekommen. Hat-
ten Sie gezweifelt, die Stichwahl zu errei-
chen?
Olaf Scholz: Na ja, der Charme des Wettbe-
werbs bestand ja darin, dass es keinerlei be-
lastbare Meinungsumfrage gab. Wir sind
mit einer gewissen Zuversicht in die Regio-
nalkonferenzen gegangen und froh, als
Erstplatzierte in die Stichwahl zu gehen.


Und wie wollen Sie die gewinnen?
Unser Angebot an die Partei ist klar: Klara
Geywitz und ich stehen für eine SPD, die
sich etwas zutraut. Die SPD tritt bei Wah-
len an, um erfolgreich zu sein – darum
geht es. Mich erinnert die Situation etwas
an den Herbst 2009, als ich den Vorsitz der
Hamburger SPD übernahm, die in keinem
guten Zustand war. Zwei Jahre später hol-
ten wir die absolute Mehrheit bei der Bür-
gerschaftswahl, vier Jahre später 46 Pro-
zent. Wir behaupten nicht, auf Bundesebe-
ne einen solchen Sprung nach vorne hinzu-
bekommen, aber wir trauen uns einen Auf-
bruch zu, der die SPD stärkt.
Zwei Optimisten machen noch keinen Auf-
bruch.
Stimmt, aber 430 000 motivierte Mitglie-
der. Ich will der Bestandsaufnahme der Re-
gierung nicht vorgreifen. Aber dass die Ko-
alition viele Vorhaben umgesetzt hat, sa-
gen sogar Kritiker. Kommentatoren spre-
chen von klarer sozialdemokratischer
Handschrift, was unseren Partnern ja
nicht immer gefällt. Ich erspare Ihnen jetzt
die Aufzählung, aber die SPD hat viel
durchgesetzt. Trotzdem weiß jeder, dass
die Umfragen nicht gut sind. Die Begleitge-
räusche in dieser Koalition haben man-
chen Erfolg leider übertönt.
Sie loben sozialdemokratische Erfolge.
Aber die SPD wird dafür nicht gewählt.
Woran fehlt es?
Wir glauben, dass wir als Vorsitzende das
Ansehen der SPD verbessern können. Übri-
gens sehr bewusst als Team. Wir kandidie-
ren zusammen als Führungsspitze, weil
wir überzeugt sind, dass die Gesellschaft
nur dann gut funktioniert, wenn Männer
und Frauen gleichberechtigt sind ...
...Klara Geywitz soll Sie, den ausgepräg-
ten Kontrollfreak, ja motiviert haben, das
Herz in die Hände zu nehmen?
Eine Reihe von Leuten haben mich zur Kan-
didatur ermuntert. Auch Klara Geywitz.


Wir wollen die SPD als gute Mischung aus
Erfahrung und Erneuerung führen. Klara
Geywitz hat mit dem Paritätsgesetz, das
sie in Brandenburg durchgesetzt hat, Maß-
stäbe gesetzt. Unsere Kandidatur ist auch
eine gesamtdeutsche Aussage. Es geht dar-
um, im dreißigsten Jahr der deutschen Ein-
heit die Trennung in West und Ost zu über-
winden.
Steht das Versprechen noch: Keine weite-
re große Koalition?
Ja, Deutschland braucht eine Regierung oh-
ne CDU und CSU. Man merkt doch, wie die
Union wie Mehltau über der Republik liegt.
Sie glauben, die SPD müsse einen Kanzler-
kandidaten stellen. Mit, Stand jetzt,
14 Prozent in den Umfragen, würden Sie
sich das wirklich antun?
Alle Umfragezahlen belegen, wie volatil die
politische Lage in Deutschland ist, wie
rasch sich Zustimmungsraten verändern
können. Trotz der schlechten Werte für die
Partei werden die Spitzenpolitiker der SPD
sehr gut bewertet – auch ich stehe ziemlich
weit vorne. Auch den direkten Vergleich
mit Frau Kramp-Karrenbauer oder Herrn
Habeck muss ich nicht scheuen. Wenn wir

zusammenhalten und mit geradem Rü-
cken auf den Platz gehen, haben wir alle
Chancen im Bund.
Sie stünden als Kanzlerkandidat bereit?
Ach, jetzt geht es erst mal um die Parteifüh-
rung. Eines nach dem anderen.
Es könnte auch Klara Geywitz antreten?
Eine gute Partei hat immer eine Reihe von
Leuten, die so was können.
Minus 4,2 Prozentpunkte und minus 11,
Prozentpunkte, das sind die Verluste von
SPD und CDU in Thüringen: Liest sich, als
sei die Groko in Berlin abgewählt.
Natürlich sind Ergebnisse einer Landtags-
wahl nicht alleine auf Landesebene zu er-
klären, da spielen eine Menge Faktoren
rein – nicht zuletzt auch die Koalition im
Bund. Deshalb verstehen wir solche mie-
sen Ergebnisse als Auftrag, den Kampf auf-
zunehmen. Die SPD will überall stärker
werden, in den Ländern, in den Städten
und den Gemeinden. Ein solcher Aufbruch
ist aber nur möglich, wenn wir die richtige
Antwort auf die wachsende Unsicherheit
und die schwindende Zuversicht vieler Bür-
ger finden. Gerade in den Gesellschaften
mit dem größten Wohlstand können wir

das beobachten. Nicht nur bei uns, son-
dern auch in unseren Nachbarländern.
Die SPD sucht nach einer Strategie im Um-
gang mit AfD-Wählern. Was soll ein Ge-
nosse, in einer Kleinstadt, tun: Soll er zu
seinem Nachbarn, derAfD gewählt hat, rü-
bergehen und sagen: Warum?
Er hat ja auch sonst mit ihm gesprochen
und soll das auf alle Fälle weiter tun. Viele
berichten mir bedrückt, wie politische An-
sichten in Familien auseinandergehen,
oder über beste Freunde, die plötzlich An-
sichten vertreten, die sie nicht verstehen
oder nachvollziehen können. Da geht man
natürlich nicht weg, sondern sucht Argu-
mente. Das ist unsere Aufgabe in der Demo-
kratie, die Dinge zu sagen, die für das ste-
hen, was wir richtig finden. Verdruckst
sein, nichts sagen, keine Argumente haben


  • das geht nicht. Nationalismus und Res-
    sentiment muss man nicht verstehen, son-
    dern ihnen entgegentreten.
    Braucht diese Koalition ein Programm für
    die letzte Phase der Legislaturperiode?
    Die Koalition muss zeigen, dass sie auf der
    Höhe der Zeit ist und eine Idee davon hat,
    was in den nächsten beiden Jahren zu tun


ist, um legitimiert zu sein. Als SPD wollen
wir erreichen, dass grundlos befristete Ar-
beitsverträge weitgehend verdrängt wer-
den. Wir wollen eine bessere Alterssiche-
rung, auch für Selbständige. Neben der
Grundrente sehe ich das weitere Zusam-
menwachsen Europas und globale Min-
deststeuern, auch für Digitalkonzerne, als
zentrale Themen.
Sie wollen mehr fürs Klima tun, sperren
sich aber dagegen, grüne Staatsanleihen
auszugeben. Warum?
Da möchte ich gerne genau sein: Gesperrt
habe ich mich gegen die Idee, Anleihen mit
einem erhöhten Zinssatz auszugeben, das
wäre ein schlechtes Geschäft für die Steuer-
zahler gewesen. Was wir aber möglich ma-
chen, sind Umwelt-Bundesanleihen.
Das heißt?
Wenn der Bund seine bestehenden Schul-
den refinanziert, gibt er Bundesanleihen
aus. Von nächstem Jahr an wollen wir auch
solche Anleihen ausgeben, die ausschließ-
lich in nachhaltige Projekte investiert wer-
den, die etwa gut für das Klima sind. Die
werden genauso verzinst wie die klassi-
schen Bundesanleihen, sind aber öko.

Klingt angesichts der Negativzinsen nach
einem schlechten Geschäft für Bürger?
Der Zins bildet sich am Markt. Das sind
ganz normale Bundesanleihen mit garan-
tiert nachhaltiger Anlage.
Die aktuelle Steuerschätzung weist aber-
malsÜberschüsse aus, Sie könnten jetzt al-
so auch noch Steuern senken oder den So-
li für alle abschaffen?
Nein, das wäre nicht gerecht. Diejenigen,
die sehr, sehr viel Geld verdienen, brau-
chen jetzt keine Steuersenkung.
Was machen Sie mit dem Überschuss?
Er gleicht die ebenfalls von den Steuer-
schätzern vorhergesagten Mindereinnah-
men in den nächsten Jahren aus. Die gute
Botschaft ist: Wir müssen jetzt nicht ganz
hektisch die Haushaltplanung korrigieren.
Wir können bei unserem expansiven Kurs
bleiben und unsere Vorhaben umsetzen.
Gerade auch die sozialpolitischen Vorha-
ben.
Ein Argument mehr für die Grundrente
ohne Bedürftigkeitsprüfung?
Ich habe immer gesagt, dass die Grundren-
te finanziert ist.

Mit Verlaub, Sie wollen das über eine
Finanztransaktionssteuer erreichen, die
seitJahren angekündigt, aber niebeschlos-
sen wurde. Klingt nach Luftbuchung.
Die Finanztransaktionssteuer wird zum
1.Januar 2021 in Kraft treten.
National oder europäisch?
Es spricht alles für eine europäische Lö-
sung.
Am Geld liegtes also nicht, dass die Grund-
rente noch nicht da ist?
Die Verhandlungen mit CDU und CSU lau-
fen. Als Optimist bleibe ich dabei, dass es
mit ein bisschen gutem Willen aller Betei-
ligten zu einer Lösung kommen kann. Die
Grundrente ist wichtig für die Zukunft der
Koalition. Viele Bürger betrachten sie als ei-
ne Frage des Respekts vor ihrer Lebensleis-
tung.
Die SPD muss sich aus der Union vorwer-
fen lassen, die Führungsfrage nicht ge-
klärtzu haben.Hat denn die CDU ihre Füh-
rungsfragen geklärt?
Solche Vorwürfe sind putzig, denn CDU
und CSU haben ihre Führungen im vergan-
genen Jahr auch ausgetauscht und disku-
tieren schon wieder darüber. Aber ich
kann beruhigen: In gut vier Wochen ist die
Führungsfrage in der SPD geklärt.
Besorgt Sie die Lage beim Koalitionspart-
ner?
Wir haben uns sehr gefreut, dass die Union
sich nicht ununterbrochen in unsere inne-
ren Angelegenheiten eingemischt hat. Das
werden wir mit fairer Münze zurückzah-
len. Vielleicht sogar ein bisschen fairer.
Also kein Ärger wegen der Angriffe auch
auf die Groko?
Manche Attacke ist doch sehr fadenschei-
nig. Was Herr Merz da gesagt hat, ...
Sie meinen das angeblich „grottenschlech-
te“ Erscheinungsbild.
... ist gegenüber Frau Merkel unangemes-
sen. Und es spricht nicht für jemanden,
wenn einfach faktenfrei rumgepöbelt wird.

Wir haben uns sehr gefreut,


dass die Union sich nicht


ununterbrochen in unsere


inneren Angelegenheiten


eingemischt hat.“


München– Union und SPD stehen im
Streit um die Grundrente offenbar kurz
vor einer Einigung. „Wir sind optimis-
tisch, nächste Woche zu einer Lösung zu
kommen“, sagte CSU-Chef Markus Söder
am Mittwoch derSüddeutschen Zeitung.
Im Gegenzug fordert Söder ein Entgegen-
kommen der SPD zur Stärkung der Kon-
junktur: „Wir brauchen ein großes Leis-
tungspaket, mit dem die große Koalition
zeigt, dass sie noch groß handeln kann.“
Söder verlangt spürbare Entlastungen
für die Wirtschaft. So soll die Unterneh-
mensteuer laut CSU von 32 auf 25 Pro-
zent gesenkt werden. Zudem soll die Sen-
kung der EEG-Umlage vorgezogen wer-
den, um Strom günstiger zu machen.

Wenn sich der Koalitionsausschuss
am Montagabend in Berlin trifft, sollen
die wichtigen Fragen zur Grundrente ge-
klärt sein. An diesem Donnerstag verhan-
delt die Arbeitsgruppe noch über Details.
So könnte der zuletzt diskutierte Einkom-
mensfreibetrag von 1200 Euro künftig
zwischen 800 und 900 Euro liegen. Die
Gesamtkosten für die Grundrente sollen
unter zwei Milliarden Euro bleiben. Der
größte Streitpunkt: Die SPD forderte eine
Grundrente ohne Bedürftigkeitsprü-
fung, die Union dagegen pochte auf den
Koalitionsvertrag, der eine solche Prü-

fung vorsieht. Söder sagte, man müsse
die Summe der Gesamteinkünfte be-
trachten. Auch für die CSU gelte: „Wir wol-
len eine Gerechtigkeitslücke schließen.“
Ihre Kompromissbereitschaft will sich
die CSU durch niedrigere Unternehmen-
steuern und Strompreise entlohnen las-
sen – eine bis zu zehn Milliarden Euro teu-
re Entlastung der Wirtschaft. Finanziert
werden soll sie durch Steuermehreinnah-
men des Bundes. Söders Kalkül: Mit der
Einigung bei der Grundrente und einem
Konjunkturpaket könnten SPD und Uni-
on jeweils wichtige Erfolge für sich verbu-
chen, die große Koalition hätte ihre Hand-
lungsfähigkeit bewiesen. „Wir wollen die
Wettbewerbsfähigkeit mit dem sozialen
Charakter verbinden“, sagte Söder.
Söders Vorstoß ist auch als Appell der
Mäßigung an die Kritiker der großen Koa-
lition zu verstehen – in der SPD wie in der
Union. Die Wähler dürften erwarten, dass
das Land vernünftig regiert werde, sagte
Söder. „Wir dürfen uns heute nicht mit
Personalfragen, sondern mit Sachfragen
beschäftigen.“ Mit wachsendem Missfal-
len wird in der CSU beobachtet, wie die
Regierungsarbeit durch offene Machtfra-
gen in CDU und SPD erschwert wird. Der
nordrhein-westfälische Ministerpräsi-
dent Armin Laschet (CDU) etwa hat seine
Partei aufgerufen, im Streit um die
Grundrente hart zu bleiben. In der CSU
vermutet man dahinter persönliche Moti-
ve für eine Kanzlerkandidatur.
Söders CSU, die alle Machtkämpfe hin-
ter sich hat, will sich ihrerseits als stabiler
Anker der Koalition präsentieren. Sie hat
kein Interesse an vorzeitigen Neuwahlen.
So soll eine Einigung bei der Grundrente
wohl auch die Chancen von Finanzminis-
ter Olaf Scholz im Kampf um den SPD-
Vorsitz verbessern. Scholz möchte die gro-
ße Koalition fortsetzen. Von einer Mitglie-
derbefragung, wie sie auch in der Union
diskutiert wird, hält Söder nichts. Wie
man an der SPD beobachten könne, führe
eine Urwahl nur zu „Ernüchterung statt
Revitalisierung“. wolfgang wittl

Wenn wir zusammenhalten


und mitgeradem Rücken


auf den Platz gehen,


haben wir alle


Chancen im Bund.“


Berlin– Vor gut einem Jahr lief Franziska
Giffey durch die Commerzbank-Arena
und besichtigte ein Jugendprojekt von
Eintracht Frankfurt. Übergestreift hatte
sie ein Fußballtrikot, über das die Vereins-
vertreter sagten, so viele Buchstaben hät-
ten sie noch nie auf ein Trikot flocken las-
sen: Bundesfamilienministerin Dr. Giffey.
Ein paar Monate später standen zwei die-
ser Buchstaben plötzlich zur Disposition –
und die SPD-Politikerin vor dem mögli-
chen Ende ihrer Blitzkarriere. Eine Inter-
netplattform hatte Plagiatsvorwürfe ge-
gen ihre Doktorarbeit erhoben, worauf
die Freie Universität Berlin mit einer mo-
natelangen Prüfung begann.


Bis zum Mittwochabend. „Die Freie Uni-
versität Berlin hat heute das Verfahren
zur Überprüfung meiner Doktorarbeit ab-
geschlossen“, teilte Giffey mit. „Im Ergeb-
nis wurde bestätigt, dass ich den Doktorti-
tel zu Recht führe.“ Von der Universität
selbst hieß es, das Präsidium habe „nach
eingehender Prüfung und einer mehrstün-
digen Sitzung“ beschlossen, Giffey für ih-
re Dissertation „eine Rüge“ zu erteilen, ihr
den 2010 verliehenen Titel „Doktorin der
Politikwissenschaft“ aber nicht zu entzie-
hen. Das Präsidium folgte damit der Emp-
fehlung der Prüfer, die sich seit Februar
über Giffeys Arbeit „Europas Weg zum


Bürger“ gebeugt hatte. Weil der empiri-
sche Charakter im Vordergrund gestan-
den habe, so die Universität, handle es
sich trotz der Mängel um eine „eigenstän-
dige wissenschaftliche Leistung“.
Es dürfte eine Gerölllawine gewesen
sein, die Giffey vom Herzen fiel. „Die Leu-
te wollen keine Miesepeter“, hatte sie der
SZ im Sommer zwar noch gesagt. Belastet
aber hat sie das alles durchaus. Für eines
aber kam der weiße Rauch aus dem Uni-
versitätspräsidium zu spät: für Giffeys
Kandidatur um den SPD-Vorsitz, die sie
lange nicht ausgeschlossen hatte. Als die
Bewerbungsfrist aber immer näher rück-
te, ohne dass die Universität eine Entschei-
dung traf, zog die Ministerin Mitte August
die Notbremse: Der Streit solle „die perso-
nelle Neuaufstellung der SPD nicht über-
schatten oder gar belasten“. Sie werde
nicht antreten – und als Ministerin abtre-
ten, sollte ihr der Titel entzogen werden.
Am Mittwoch nun dankte sie zunächst
den Prüfern, um dann mitzuteilen, sie wer-
de ihre Arbeit als Bundesfamilienministe-
rin „weiter mit großem Engagement und
viel Freude“ fortsetzen. Falls sie damit
deutlich machen wollte, dass der Ministe-
rinnensessel nun ihr Platz sei, und zwar
nur der, wurde dieser Subtext von den ers-
ten sofort geflissentlich überhört. Viele in
der SPD sind nach wie vor enttäuscht,
dass es nichts wurde mit einer Parteivor-
sitzenden Giffey, mit ihrem Händchen für
Ortstermine, ihrer chronisch guten Laute
und Bürgernähe.
Trotz der anstehenden Stichwahl zwi-
schen den Bewerberduos Klara Ge-
ywitz/Olaf Scholz und Saskia Esken/Nor-
bert Walter-Borjans könnte es in der SPD
nun eine Debatte geben, ob nicht doch
noch Giffey Parteivorsitzende werden
kann. Der Bundestagsabgeordnete Axel
Schäfer sagte der SZ, dass Klara Geywitz
zugunsten Giffeys verzichten und die Fa-
milienministerin mit Scholz kandidieren
könne. „Diese Duo wäre nach innen wie
nach außen das heute überzeugendste
Team.“ henrike rossbach Seite 4

Berlin– Bund, Länder und Gemeinden
können in den nächsten fünf Jahren mit
insgesamt weiter steigenden Steuerein-
nahmen rechnen. Das geht aus der vom
Arbeitskreis „Steuerschätzungen“ am
Mittwoch in Berlin vorgelegten Kalkulati-
on hervor. Danach steigen die Steuerein-
nahmen von 796,4 Milliarden Euro in die-
sem Jahr auf 935 Milliarden Euro im Jahr


  1. Allerdings fallen die Zuwächse we-
    niger deutlich aus als noch bei der letzten
    Steuerschätzung im Mai erwartet. Da-
    mals hatten die Experten insgesamt 7,
    Milliarden Euro mehr an Steuereinnah-
    men vorausgesagt.
    Die Steuerschätzer gehen davon aus,
    dass der Bund in diesem Jahr noch ein-
    mal höhere Überschüsse als erwartet ver-
    buchen kann. Bundesfinanzminister
    Olaf Scholz (SPD) wies auf Sondereffekte
    hin; die Mittel an die EU seien nicht kom-
    plett abgerufen worden; die Schuldzin-
    sen niedriger als erwartet. Scholz will die
    Überschüsse in die Rücklage nehmen,
    um die kommenden Haushalte ohne zu-
    sätzliche Schulden finanzieren zu kön-
    nen. Er sagte, die Koalition könne alle Vor-
    haben umsetzen, die sie sich vorgenom-
    men habe.
    Doch während die Einnahmen von Län-
    dern und Gemeinden weiter sprudeln,


muss sich der Bund mit geringeren Zu-
wächsen zufriedengeben. Das liegt auch
daran, dass die Prognosen ein schwäche-
res Wachstum voraussagen. Für 2020
rechnet die Regierung damit, dass das
Bruttoinlandsprodukt nur um ein Pro-
zent wachsen wird, statt wie zunächst kal-
kuliert um 1,5 Prozent. Die Abschwä-
chung geht auf das Konto der bisher so
starken Exportindustrie. Zudem wurden
wegen wachsender globaler Unsicherhei-
ten Investitionen zurückgestellt.
Kürzlich befragte der Deutsche Indus-
trie- und Handelskammertag (DIHK) sei-
ne Unternehmen, wie sie die Zukunft se-
hen. Bei den Geschäftserwartungen regis-
trierte der DIHK einen regelrechten Ein-
bruch – und das nicht nur in Industrien,
die viel exportieren und damit Handels-
kriege und Brexit fürchten müssen, son-
dern auch bei Dienstleistern, Handel und
Baugewerbe. Die Zahl der Firmen, die ge-
ringere Investitionen und weniger Jobs
planen, wächst kontinuierlich. Seit der Fi-
nanzkrise der Jahre 2008 und 2009, sagt
DIHK-Präsident Eric Schweitzer, habe
man von den Unternehmen nicht mehr
so pessimistische Antworten bekommen.
„Die trüben Aussichten und die greifbare
Verunsicherung in vielen Branchen schla-
gen sich immer mehr in den Planungen
der Betriebe nieder.“
Noch vorigen Herbst war der DIHK für
das laufende Jahr von 1,7 Prozent Wachs-
tum ausgegangen. Das sei schon zurück-
haltend gewesen, sagt Schweitzer. Mitt-
lerweile ist diese Prognose auf 0,4 Pro-
zent geschrumpft. Für 2020 rechnet der
Verband noch mit einem Wachstum um
0,5 Prozent – das allerdings nur deshalb,
weil überdurchschnittlich viele Feiertage
auf Wochenenden fallen. Es gibt also
mehr Arbeitstage. Beim Export rechnet
der DIHK sogar mit einem Rückgang um
0,5 Prozent. „Gerne würden wir uns in die
Reihe derer einreihen, die optimistischer
sind“, sagt Schweitzer. Dafür aber liefer-
ten die Einschätzungen der Unterneh-
men keine Argumente. miba, gam

Franziska Giffey hatte auf eine
SPD-Kandidatur verzichtet.DPA Markus Söder fordert die Sen-
kung der Strompreise.FOTO: DPA

Nationalismus und Ressentiments entgegentreten: Olaf Scholz hält es für eine Aufgabe in der Demokratie, Dinge zu sagen, die man richtig findet.FOTO: REGINA SCHMEKEN

„Deutschland braucht eine


Regierung ohne CDU und CSU“


Vizekanzler Olaf Scholz über die Zukunft der großen Koalition, seine persönlichen Ambitionen,
die wachsende Unsicherheit in der Bevölkerung – und die Manieren von Friedrich Merz

Bewegung bei Grundrente


CSU bietet Kompromiss an und will dafür ein Konjunkturpaket


Weniger Mehreinnahmen


Steuerschätzer-Zahlen machen dem Bund Sorgen


Dr. Giffey


Die SPD-Familienministerin darf ihren Titel behalten


6 POLITIK HMG Donnerstag/Freitag, 31. Oktober/1. November 2019, Nr. 252 DEFGH


Bund

Länder

Gemeinden

EU

insgesamt

328,

322,

113,

31,

796,

328,

332,

117,

37,

816,

349,

356,

126,

42,

875,

371,

381,

134,

47,

935,

2019 2020 2022 2024

Gefüllte Kassen
Schätzung der Steuereinnahmen in Milliarden Euro,
RundungsbedingteDifferenzen möglich

SZ-Grafik; Quelle: Arbeitskreis Steuerschätzungen
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