„Wie Friedrich Merz dreimal täglich öffentlich
am Stuhl der Kanzlerin zu sägen, das halte
ich jetzt persönlich nicht für besonders
konservativ.“
Katja Leikert, Unionsfraktions-Vizechefin, über die Personaldebatten
in der CDU
Worte des Tages
Steuerschätzung
Besser
wird’s nicht
S
o schnell verlässt Finanzmi-
nister Olaf Scholz das Glück
nicht. Zwar mussten Ökono-
men wie Bundesregierung in die-
sem Jahr ihre Wachstumsprognosen
wiederholt nach unten korrigieren,
doch auf die Steuereinnahmen
schlägt der konjunkturelle Ab-
schwung bisher nicht durch. Das
liegt vor allem an der nach wie vor
guten Lage am Arbeitsmarkt. Des-
halb kann Scholz in diesem Jahr so-
gar mit etwas besseren Einnahmen
rechnen als bisher veranschlagt. In
den kommenden Jahren gibt es
zwar keine neuen Spielräume, aber
immerhin auch keinen Einbruch.
Wie verlässlich diese Steuerprog-
nose ist, wird vom weiteren Kon-
junkturverlauf abhängen. Handelt
es sich bei der derzeitigen Abküh-
lung nur um eine vorübergehende
Wachstumsdelle oder doch um den
Beginn einer Rezession? Zumindest
steigt das Risiko, dass es Letzteres
sein könnte. Umso wichtiger wäre
es, dass die Bundesregierung nicht
tatenlos zuschaut.
Die Rezepte, wie einem drohen-
den Abschwung begegnet werden
könnte, sind längst geschrieben.
Dazu gehören verstärkte Investitio-
nen, die nicht nur die Konjunktur
stützen, sondern auch das langfris-
tige Wachstumspotenzial erhöhen
würden. Seit Jahren fordern das
von EU über OECD bis zum IWF so
gut wie alle Experten. Die Bundes-
regierung verweist ebenso lange auf
mangelnde staatliche Planungska-
pazitäten. Das ist nach all den Jah-
ren keine Begründung, sondern ein
Offenbarungseid. Dort wo der Staat
unter Personalnot leidet, muss er
sich durch bessere Verdienste at-
traktiver machen. Das hätte oben-
drein einen positiven Konjunkturef-
fekt durch die höhere Kaufkraft.
Ebenso richtig bleibt, dass der
Bedarf für eine Reform der Unter-
nehmensteuern nach zehn Jahren
weitgehender Untätigkeit gewach-
sen ist.
Aus all diesen konjunkturstützen-
den Möglichkeiten ließe sich ein Pa-
ket schnüren, in dem sich Wünsche
der Union wie der SPD wiederfin-
den. Für die Große Koalition wäre
es eine Profilierungsmöglichkeit,
vielleicht die letzte.
Noch steigen die
Steuereinnahmen. Das eröffnet
Spielraum, um Wachstumsimpulse
zu setzen, meint Jan Hildebrand.
Der Autor ist stv. Leiter des
Hauptstadtbüros.
Sie erreichen ihn unter:
E
ndlich, möchte man seufzen, eine gute
Nachricht aus Großbritannien. Nach all
den zähen Debatten und ergebnislosen
Abstimmungen geht es einmal voran:
Am 12. Dezember werden die Briten
über ein neues Parlament entscheiden. Es herrscht
Hoffnung, dass der Hickhack im Brexit-Prozess ein
Ende findet. Denn Neuwahlen bedeuten doch, dass
dann endlich Klarheit herrscht – oder nicht?
Auf den ersten Blick scheint Premierminister Boris
Johnson tatsächlich der Befreiungsschlag gelungen.
Vier Mal hatte er Anlauf genommen, von den Abge-
ordneten die notwendige Zustimmung für Neuwah-
len zu erhalten. Drei Mal hatten die Abgeordneten
ihm diese verwehrt. Aus gutem Grund: Gerade lief
es gut für die Opposition. Die Abgeordneten von La-
bour, den Liberaldemokraten und der schottischen
Nationalpartei SNP hatten zusammen eine Mehrheit
im Parlament, nachdem sich die konservative Regie-
rungspartei nicht nur intern, sondern auch mit ih-
rem Koalitionspartner, der nordirischen DUP-Partei,
zerstritten hatte. Immer wieder schaffte es das Parla-
ment, der Regierung Kompromisse abzuringen. So-
gar zu einer Verschiebung des Brexit-Datums auf
den 31. Januar konnte die Opposition den Regie-
rungschef zwingen. Was hat die Opposition also da-
von, dass sie Neuwahlen unterstützt? Zumal laut
Umfragen Boris Johnson der große Gewinner von
Neuwahlen wäre: Zuletzt lag die konservative Regie-
rungspartei mit 35 Prozent der Stimmen von Umfra-
geteilnehmern deutlich vor der zweitplatzierten La-
bour-Partei (25 Prozent), den Liberaldemokraten (
Prozent) und der Brexit-Partei (11 Prozent).
Die Umfragen der vergangenen Wochen zeigten
aber auch, dass die Briten zunehmend die Botschaft
von Boris Johnson glauben, dass das Parlament das
Land lahmlegt. Seit Wochen schon verbreitet der Re-
gierungschef die Nachricht, dass die Abgeordneten
nur auf Zeit spielten und er allein versuche voranzu-
kommen. Der Druck auf die Opposition, Neuwahlen
zuzustimmen, wurde zu stark. Viele Briten sind drei-
einhalb Jahre nach dem EU-Referendum von dem
Thema genervt und wünschen sich Klarheit – in die
eine oder andere Richtung.
Trotzdem sind die Wahlen für Boris Johnson bei
Weitem kein Selbstläufer. Schon seine Vorgängerin
Theresa May hatte sich 2017 von guten Umfrage -
ergebnissen in die Irre führen lassen. In den von ihr
ausgerufenen Wahlen schrumpfte ihre Parlaments-
mehrheit zusammen. Ihr Gegner, Labour-Chef Jere-
my Corbyn, hatte als Vollblut-Wahlkämpfer die Mas-
sen mobilisiert und es wider Erwarten geschafft,
Theresa May auszumanövrieren. Auch jetzt tritt Jere-
my Corbyn wieder im Wahlkampf an. Für ihn ist es
die letzte Chance auf das Amt des Premierministers.
Verliert er die Wahl, wird seine Partei ihn stürzen.
Gleichwohl tritt Jeremy Corbyn unter schwierigen
Bedingungen an. Lange hatte er, als Altlinker über-
zeugter EU-Skeptiker, sich geziert, in der Brexit-De-
batte eine klare Gegenposition zu Boris Johnson ein-
zunehmen. Die Labour-Partei hat sich zwar nun für
ein zweites Referendum ausgesprochen – doch dürf-
te Jeremy Corbyn damit längst nicht alle Brexit-Geg-
ner überzeugt haben.
Das Risiko ist groß, dass Labour-Wähler zu den Li-
beraldemokraten wechseln und diese Partei zu einer
dritten, großen Macht im Parlament wird. Dem Re-
gierungschef wiederum droht von der Brexit-Partei
Gefahr: Unter der Führung von Nigel Farage war sie
der große Gewinner bei den Europawahlen. Auch
deswegen hatte Boris Johnson alles darangesetzt,
sich als kompromissloser Brexit-Befürworter darzu-
stellen – wenngleich er sein Versprechen, lieber „tot
im Graben zu liegen“, als den Brexit zu verschieben,
nicht erfüllen konnte. Vor allem das Erstarken der
kleinen Parteien verringert die Chancen, dass Pre-
mierminister Boris Johnson mit einer deutlichen
Mehrheit aus den Neuwahlen hervorgeht. Am Ende
könnten die Verhältnisse im Parlament doch wieder
auf eine Pattsituation hinauslaufen.
Die Hoffnung, dass die Neuwahlen dazu beitragen,
einen Schlussstrich zu ziehen und das Land zu ver-
söhnen, ist verfrüht. Im Gegenteil: Die Kluft zwi-
schen Brexit-Befürwortern und -Gegnern dürfte
noch größer werden. Schließlich wird Boris Johnson
im Wahlkampf in den kommenden Wochen mit voll-
mundigen Versprechen und bösen Tiefschlägen auf
die Gegenseite losgehen. Seine Fans stört das nicht.
Die Frage ist, wie viele Wechselwähler das ab-
schreckt und ob nach den Wahlen klare Verhältnisse
im Londoner Parlament herrschen.
Der Blick auf den Kalender lässt nichts Gutes hof-
fen: Der Tag, an dem alle Stimmen ausgezählt sind
und die Ergebnisse feststehen, ist der 13. Dezember –
Freitag, der 13. Das große Brexit-Chaos ist dann oh-
nehin nicht zu Ende. Nach den Wahlen sind es nur
noch wenige Wochen bis zum Austrittsdatum am
- Januar 2020. Es ist schwer vorstellbar, dass eine
neue Regierung in dieser Zeit Tatsachen schaffen
kann. Mit Neuwahlen wird das seit drei Jahren in
Großbritannien aufgeführte Brexit-Drama um einen
Akt erweitert – aber bestimmt nicht um den letzten.
Leitartikel
Neuer Akt im
Brexit-Drama
Boris Johnson hat
Neuwahlen
durchgesetzt. Das
bedeutet aber
nicht, dass die
Briten das Thema
Brexit abhaken
können, mahnt
Kerstin Leitel.
Mit Neuwah-
len wird das
Brexit-Drama
um einen Akt
erweitert –
aber bestimmt
nicht um den
letzten.
Die Autorin ist Korrespondentin in London.
Sie erreichen sie unter:
[email protected]
Meinung
& Analyse
DONNERSTAG, 31. OKTOBER 2019, NR. 210
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