Handelsblatt - 31.10.2019

(Michael S) #1
Jens Koenen, Katharina Kort
Frankfurt, New York

W


ie ein Schuljunge
sitzt der hagere
Mann hinter dem
breiten Holzpult;
vor ihm ein wei-
ßes Schild: „Mr. Dennis Muilenburg“
steht dort. Und in kleineren Lettern:
„CEO – The Boeing Comp“. Es ist der
zweite Tag der Anhörungen im US-
Kongress, und Muilenburg muss sich
wegen der zwei Abstürze der 737
Max verantworten und erklären, was
sein Unternehmen macht, um künfti-
ge Desaster zu verhindern.
Am Tag zuvor, exakt ein Jahr nach
dem ersten Absturz in Indonesien,
haben die Senatoren den Boeing-Chef
bereits in die Mangel genommen. Am
Mittwoch sind die Mitglieder der Ab-
geordnetenkammer an der Reihe.
Geduldig hört Muilenburg den
Ausschussmitgliedern zu, bevor er
selbst das Wort ergreift. Im Raum sit-
zen auch Familien von Angehörigen.
Muilenburg dreht sich zu ihnen um.
„Es tut uns zutiefst leid“, sagt er und
beißt nervös auf seine Unterlippe.
„Wir setzen alles daran, dass das nie
wieder passiert“, verspricht der Ma-
nager, der nach den Abstürzen auf
Tauchstation gegangen war.
Doch die Abgeordneten geben sich
damit nicht zufrieden. Der Vorsitzen-
de des Transportausschusses des Re-
präsentantenhauses, Peter DeFazio,
legt ein internes Boeing-Dokument
vor, nach dem bei der Max-Software
eine nur zehnsekündige Reaktions-
zeit eines Piloten „katastrophal“ ge-
wesen wäre. „Wussten die Aufsichts-
behörden darüber Bescheid?“
Wie schon am Vortag windet sich
Muilenburg und spricht von Indus-

triestandards, die eingehalten wur-
den, von der Sicherheit, die an erster
Stelle steht. Aber auch das überzeugt
seine Ankläger kaum. Angesichts der
Tatsache, dass die reparierten 737
Max nun serienmäßig zwei und nicht
nur einen Sensor haben sollen und
dass Piloten in Zukunft die umstritte-
ne Software MCAS im Zweifel ab-
schalten können, schüttelt DeFazio
den Kopf: „Warum haben Sie das
nicht vom ersten Tag an gemacht?“

„Das Wichtigste ist doch, dass ein
Pilot das verdammte Flugzeug fliegen
kann!“, mahnt der republikanische
Abgeordnete Garret Graves. „Es gibt
keinen Raum für Fehler im Flugver-
kehr“, stellt Graves klar. Der Demo-
krat Larsen will wissen, ob es bei
Boeing vielleicht ein „organisatori-
sches und kulturelles Problem“ war,
dass zu den Abstürzen geführt hat.
Unmittelbar vor der zweiten An-
hörungsrunde waren neue Vorwürfe
gegen Boeing aufgetaucht. DeFazio
verbreitete eine Stellungnahme, die
sich auf Dokumente bezieht, die zei-
gen sollen, dass Boeing vielleicht
doch schon vor den beiden Abstür-
zen von Lion Air und Ethiopian Air-
lines mit 346 Todesopfern von den
Sicherheitsproblemen bei der Soft-
waresteuerung gewusst hat. Ein Boe-
ing-Manager soll die Führung schon
Monate vor dem ersten Unglück ge-
drängt haben, die Produktion der
737 Max zu stoppen. Aber der Hin-
weis des Managers sei nicht befolgt
worden.

Die angeblich neuen Details drän-
gen Muilenburg noch mehr in die De-
fensive. Dabei war schon die erste
Runde vor dem Verkehrsausschuss
für den Boeing-Chef eine Herausfor-
derung. Es war eine Mischung aus
heftigen Vorwürfen und tief emotio-
nalen Momenten. Als der Boeing-
Chef im Sitzungssaal Platz genom-
men hatte, bauten sich hinter ihm
Angehörige der Absturzopfer der bei-
den Unglücksflüge von Lion Air und
Ethiopian Airlines auf. Sie hielten Bil-
der von lachenden Menschen hoch,
die alle ihr Leben ließen. Eine schwer
zu ertragende Situation.

Angehörige spricht ihn an
Nach der Anhörung sprach eine An-
gehörige Muilenburg direkt an. Gera-
de, als er den Saal verlassen wollte,
sagte Nadia Milleron, Mutter von
Samya Stumo, die beim Ethiopian-
Absturz ums Leben kam: „Herr Mui-
lenburg, drehen Sie sich um und
schauen Sie die Menschen hier an,
und sagen Sie, dass es Ihnen leid
tut!“ Muilenberg drehte sich um, sah
der Frau in die Augen und sagte: „Es
tut mir leid.“ Die Schilderung dieser
Szene machte auf Twitter die Runde.
Zwischen den beiden emotionalen
Momenten musste Muilenburg boh-
rende Fragen ertragen – dazu heftige
Vorwürfe. „Die Menschen waren ge-
fangen in fliegenden Särgen“, warf
Senator Richard Blumenthal dem
Boeing-Chef vor. Und der Ausschuss-
vorsitzende Roger Wicker bescheinig-
te dem Konzernmanagement ein
„verstörendes Ausmaß an Lässigkeit
und Leichtfertigkeit“. „Beide Unglü-
cke waren komplett vermeidbar“,
stellte Wicker klar.
Muilenburg reagierte wie erwartet.
Bestens gebrieft von den Anwälten
des Konzerns, vermied er es, sich auf
eine Diskussion über Details einzulas-
sen. Vielen Fragen wich er aus, ver-
wies auf die Rechtsabteilung des Kon-
zerns. Zwar räumte der Topmanager
Fehler aufseiten von Boeing ein. Aber
am Ende war klar: Wie schon bisher
will Boeing nicht die komplette Ver-
antwortung für die beiden schreckli-
chen Unglücke übernehmen – auch
weil der Konzern weiteren Klagen da-
mit Tür und Tor öffnen würde.
„Die Anhörung war wie erwartet.
Boeing wurde durch den Wolf ge-
dreht, aber Muilenburg richtete kei-
nen weiteren Schaden an“, analysiert
Scott Hamilton vom Informations-
dienst Leeham.
Für Muilenburg geht es auch um
seine eigene Zukunft. Seinen Chair-
man-Posten, den er zusätzlich zur
CEO-Funktion innehatte, musste er
bereits abgeben. Auch sein Chef für
die zivile Luftfahrtsparte musste ge-
hen. Auf die Frage, ob er zurücktre-
ten will, sagte er: „Diese zwei Unfälle
sind in meiner Zeit passiert“, und er
müsse das wieder hinkriegen. „Mein
Fokus liegt derzeit auf diesem Job.“

Kongress-Anhörung


„Gefangen in


fliegenden Särgen“


Boeing-CEO Muilenburg muss sich wegen der 737-Max-Abstürze


vor dem Kongress harschen Fragen und Vorwürfen stellen.


DEUTSCHLANDS WIRTSCHAFTS-
UND FINANZZEITUNG

Verleger: Dieter von Holtzbrinck


Redaktion


Chefredakteur: Sven Afhüppe
Stv. d. Chefredakteurs: Peter Brors, Sebastian Matthes (Head
of Digital), Thomas Tuma


Autor: Hans-Jürgen Jakobs


Chefökonom: Prof. Dr. Dr. h. c. Bert Rürup


Chefreporterin: Tanja Kewes


Creative Director: Regina Baierl (Ltg.),
Saskia Ballhausen (Stv. Ltg.)


Ressortleiter: Thomas Sigmund (Politik), Andrea Rexer
(Unternehmen), Michael Maisch (Finanzen, komm.),
Christian Rickens (Agenda), Nicole Bastian, Dr. Jens Münch-
rath (Ausland), Sönke Iwersen (Investigative Recherche)


Chef vom Dienst: Stefan Kaufmann (Leiter Newsdesk),
Tobias Döring, Désirée Linde, Marc Renner,
Peter Pfister (News am Abend)


Deskchefs: Claus Baumann (Unternehmen), Julian Traut-
hig (Finanzen), Christoph Herwartz (Politik)


International Correspondents: Mathias Brüggmann,
Torsten Riecke


Verantwortlich im Sinne des Presserechts sind die jeweiligen
Leiter für ihren Bereich. Im Übrigen die Chefredaktion.


Handelsblatt Research Institute
Tel.: 0211 - 887-11 00, Telefax: 0211 - 887-97 11 00,
E-Mail: [email protected]
Prof. Dr. Dr. h.c. Bert Rürup (Präsident),
Dr. Christian Sellmann (Managing Director)


Verlag
Handelsblatt GmbH (Verleger im Sinne des Presserechts).


Geschäftsführung: Gerrit Schumann, Oliver Voigt


Anzeigenleitung: Andreas Wallenborn
Verantwortlich für Herstellung
und Anzeigen: Christian Wiele


Erfüllungsort und Gerichtsstand: Düsseldorf.
Anschrift von Redaktion, Verlag und Anzeigenleitung:
Toulouser Allee 27, D-40211 Düsseldorf, Tel. 0211 - 887–
Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte
Manuskripte, Unterlagen und Fotos.
Axel Springer SE, Offsetdruckerei Kettwig, Im Teelbruch
100, 45219 Essen; Pressedruck Potsdam GmbH, Fried-
rich-Engels-Str. 24, 14473 Potsdam; Süddeutscher Verlag
Zeitungsdruck GmbH, Zamdorfer St. 40, 81677 München


Vertrieb Einzelverkauf:
Verlag Der Tagesspiegel GmbH, http://www.tagesspiegel.de


Kundenservice:
Postfach 103345, 40024 Düsseldorf,
Telefon: 0800 - 2233110,
Aus dem Ausland: 0049 211 887— 3602
E-Mail: [email protected]
Ihre Daten werden zum Zweck der Zeitungszustellung
übermittelt an Zustellpartner und an die Medienservice
GmbH & Co. KG, Hellerhofstraße 2–4,
60327 Frankfurt am Main.


Anzeigen:
Anzeigenverkauf Handelsblatt
Tel.: 0211 - 887–0, Fax: 0211 - 887–33 59
E-Mail: [email protected];
Internet: http://www.iqm.de
Anzeigenverkauf Handelsblatt.com
Tel.: 0211 - 887–26 26, Fax: 0211 - 887–97 26 56
E-Mail: [email protected]
Internet: http://www.iqdigital.de
Anzeigenverkauf Handelsblatt Personalanzeigen
Tel.: 040 - 32 80 229, Fax: 040 - 32 80 472
E-Mail: [email protected]
Internet: http://www.chancenundkarriere.de
Anzeigendisposition Handelsblatt
Tel.: 0211 - 887 – 26 60, Fax: 0211 - 887 – 97 26 60
E-Mail: [email protected]


Redaktion:
Telefax: 0211 - 887–97 12 40
E-Mail: [email protected]
Politik
Tel.: 030 - 61 68 61 92, Fax: 0211 – 887–97 80 27
E-Mail: [email protected]
Unternehmen
Tel.: 0211 - 8 87–13 65, Fax: 0211 - 8 87–97 12 40
E-Mail: [email protected]
Finanzen
Tel.: 0211 - 887–4002, Fax: 0211 - 887–97 41 90
E-Mail: [email protected]
Agenda
Tel.: 0211 – 887–13 88, Fax: 0211 – 887–97 13 88
E-Mail: [email protected]


Handelsblatt Veranstaltungen
Tel.: 0211 - 887 0, Fax: 0211 - 887 43-40 00
E-Mail: [email protected]
http://www.handelsblatt.com/veranstaltungen


Das Handelsblatt wird ganz oder in Teilen im Print und digital
vertrieben. Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieser Zeitung darf ohne schriftliche Genehmigung
des Verlages vervielfältigt oder verbreitet werden. Unter die-
ses Verbot fällt insbesondere auch die Vervielfältigung per
Kopie, die Aufnahme in elektronische Datenbanken und die
Vervielfältigung auf CD-ROM.


Artikelanfragen: Club-Mitglieder erhalten einen Artikel
kostenlos, Telefon: 0800-
E-Mail: [email protected]
Nutzungsrechte:
Telefon: 0211 – 2054–4640 (Dieser Service steht Ihnen
Mo-Fr zu den üblichen Bürozeiten zur Verfügung)
E-Mail: [email protected]
Sonderdrucke:
Tel.: 0211 – 887–1748, Fax: 0211 – 887–97-
E-Mail: [email protected]


Bezugspreise Inland und EU:
monatlich € 66,70 (Inland inkl. € 4,36 MwSt./EU zzgl. der je-
weiligen MwSt.). Jahresvorzugspreis: € 799,- (Inland inkl. €
52,27 MwSt./EU zzgl. der jeweiligen MwSt.). Vorzugspreis für
Studenten (gegen Vorlage einer gültigen Bescheinigung): Mo-
natlich € 33,30 (Inland inkl. € 2,18 MwSt. / EU zzgl. der jeweili-
gen MwSt.). Jahresvorzugspreis € 399,- (Inland inkl. € 26,
MwSt. / EU zzgl. der jeweiligen MwSt.). Lieferung jeweils frei
Haus. Bezugspreise übriges Ausland: auf Anfrage. Bezugsprei-
se übriges Ausland: auf Anfrage.
Abonnementskündigungen sind nur schriftlich mit einer Frist von
21 Tagen zum Ende des berechneten Bezugszeitraumes möglich,
solange keine andere Regelung vorgesehen ist. Im Falle höherer
Gewalt (Streik oder Aussperrungen) besteht kein Belieferungs-
oder Entschädigungsanspruch. Erfüllungsort und Gerichtsstand:
Düsseldorf. Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Ma-
nuskripte, Unterlagen und Fotos. Für die Übernahme von Artikeln
in interne elektronische Pressespiegel erhalten Sie die erforderli-
chen Rechte über die PMG Presse-Monitor GmbH. Telefon:
030/284930 oder http://www.presse-monitor.de.
Die ISSN-Nummer für das Handelsblatt lautet: 0017–


Dennis Muilenburg:
Der Boeing-Chef ver-
meidet geschickt jede
Diskussion über tech-
nische Detailfragen.

Xinhua / eyevine / laif

Tragödie


346


MENSCHEN


starben bei den beiden
Abstürzen von Flugzeugen
des Typs 737 Max.

Quelle: Unternehmen


Unternehmen & Märkte


1


DONNERSTAG, 31. OKTOBER 2019, NR. 210


16

Free download pdf