Handelsblatt - 31.10.2019

(Michael S) #1

Bert Fröndhoff, Katharina Kort Düsseldorf


W


erner Baumann klang wie ge-
wohnt gelassen und wehrhaft,
als er am Mittwoch über die
Klageflut gegen Bayer sprach.
Die neue Zahl der Klagen in
den Verfahren um den Unkrautvernichter Glypho-
sat sage nichts darüber aus, ob diese auch begrün-
det seien. Und ohnehin: Bayer werde sich gegen al-
le Vorwürfe entschieden zur Wehr setzen, unter-
strich der CEO des Leverkusener Konzerns.
Zwanzig Minuten lang hatte er in der Telefon-
konferenz zunächst die operativen Erfolge von Bay-
er im dritten Quartal gerühmt. Hörbar zufrieden
unterstrich Baumann, dass Bayer die selbst ge-
steckten Ziele für dieses Jahr erreichen wird: 43,
Milliarden Euro Umsatz und 11,5 Milliarden Euro
bereinigter Gewinn sollen es am Jahresende sein.
Vierzig weitere Minuten musste Baumann dann
aber zu Fragen Stellung nehmen, die sich fast aus-
schließlich auf ein Thema und eine Zahl richteten:
42 700 Klagen sind mittlerweile an US-Gerichten
wegen der angeblichen Krebsgefahr durch Glypho-
sat anhängig. Das ist das Erbe, das Monsanto und
sein Unkrautvernichtungsmittel Roundup Bayer im
Zuge der Übernahme eingebrockt hat.
Die Dimensionen einer solchen Klagewelle sind
groß: Noch nie hat Bayer in einem amerikanischen
Rechtsverfahren einer solchen Front gegenüberge-
standen. Beim aufsehenerregenden Rückzug des
Blutfettsenkers Lipobay im Jahr 2001 lagen mehr als
11 000 Klagen vor. Und in dem im vergangenen Jahr
beigelegten Streit über den Gerinnungshemmer
Xarelto sah sich Bayer 25 000 Klagen ausgesetzt. Gly-
phosat entwickelt sich zudem zu einem der größten
Fälle in der Geschichte des amerikanischen Produkt-
haftungsrechts überhaupt. „Jetzt wird das Niveau
von Fällen wie den Tabakklagen und dem Schlank-
heitsmittel Fen-Phen erreicht“, sagt Steve Tapia,
Rechtsprofessor an der Universität von Seattle.
Mit diesen spektakulären Verfahren möchte sich
Bayer lieber nicht in einer Reihe sehen, denn sie
endeten mit Zahlungen in zweistelliger Milliarden-
höhe. Rund 50 000 Klagen lagen 2005 gegen das
frühere Pharmaunternehmen Wyeth wegen Ge-
sundheitsgefahren durch die Schlankheitspille Fen-
phen vor. Unter dem Strich musste der Konzern
mehr als 20 Milliarden Dollar zur Beilegung des
Rechtsstreits zurückstellen. Wyeth ging daran nicht
zugrunde, wurde aber später aufgekauft.

Investoren fordern Einigung


Eine solche Summe halten manche Analysten auch
im Fall Glyphosat für möglich – allerdings variieren
die Schätzungen zwischen fünf und 20 Milliarden
Dollar. Baumann will sich zu solchen Summen
nicht äußern. Er muss ohnehin geschickt und vor-
sichtig agieren, denn in der gegenwärtigen Phase
ist eine Doppelstrategie gefragt: Bayer muss zum
einen seinen Standpunkt, dass Glyphosat bei sach-
gemäßem Gebrauch ungefährlich ist, weiter mit
voller Kraft öffentlich und vor Gericht verteidigen.
Alles andere würde die Rechtsposition der Lever-
kusener schwächen.
Zugleich muss Bayer aber ernsthaft die Möglich-
keit einer außergerichtlichen Einigung vorantrei-
ben. Denn zum einen ist das Mediationsverfahren
zwischen dem Konzern und den Klägeranwälten
gerichtlich angeordnet. Zum anderen machen die
Investoren Druck – allen voran der Hedgefonds
Elliott. Der fordert von Bayer eine „akzeptable Ei-
nigung binnen weniger Monate“, wie es in Finanz-
kreisen heißt. Die dahinterliegende Rechnung ist
einfach: Gelingt Bayer dies, dürfte der Aktienkurs


  • befreit vom Glyphosat-Ballast – deutlich zulegen.
    Analysten sehen Potenzial bis 90 Euro. Am Mitt-
    woch notierte die Bayer-Aktie bei 67 Euro. Elliott
    könnte einen dicken Gewinn einstreichen.
    Für Bayer wäre ein Vergleich zweischneidig: Der
    Konzern würde damit zwar nicht seine Schuld ein-
    gestehen. Doch es könnte sich der Eindruck verfes-
    tigen, dass das Management die rechtlichen Risiken
    der Monsanto-Übernahme unterschätzt hat. Auf
    der anderen Seite wäre es aber in Bayers Sinne,


wenn die Belastung durch die Glyphosat-Verfahren
auf einen Schlag vom Tisch wäre.
Eine grundsätzliche Einigung halten Beteiligte
auch nach dem massiven Anstieg der Klägerzahl
für weiterhin möglich. Kenneth Feinberg leitet als
Mediationsanwalt die Gespräche zwischen beiden
Parteien. „Ich bezweifele, dass die hohe Zahl zu-
sätzlicher Klagen einen Vergleich für Bayer deut-
lich schwieriger und deutlich teurer macht“, sagte
er dem Handelsblatt. „Die entscheidende Frage ist
doch: Wie viele der neuen Klagen sind überhaupt
zulässig und geeignet für eine Entschädigung?“
Er spielt damit auf die Qualität der Klagen an
und stützt die Sichtweise von Bayer-Chef Bau-
mann. Auch die Experten von Bloomberg Intelli-
gence, die Produkthaftungsfälle in den USA inten-
siv analysieren, gehen davon aus, dass die massiv
gestiegene Zahl der Kläger nicht zu einer Auswei-
tung der erwartbaren Vergleichssumme führt. Sie
blieben am Mittwoch bei ihrer bisherigen Schät-
zung von acht bis zehn Milliarden Dollar.

Komplexer macht es den Fall aber allemal. Er
entspricht nicht einer Sammelklage, wie sie nach
einem Flugzeugabsturz möglich ist. Dort wird in ei-
nem Vergleich jedes Opfer mit der gleichen Sum-
me entschädigt. In einem Mass-Tort-Verfahren wie
bei Glyphosat müssen Einzelfälle bewertet und
Klassifizierungen vorgenommen werden, die unter-
schiedliche Entschädigungshöhen vorsehen. Krite-
rien dabei sind etwa Alter, Ernsthaftigkeit der Er-
krankung und nachgewiesener Einsatz des Mon-
santo-Mittels Roundup.
Entscheidend für Bayer ist: Ein Vergleich muss
dem Konzern eine möglichst weitgehende Sicher-
heit bringen, dass der Rechtskomplex ein für alle
Mal aus der Welt ist. „An diesen Idealzustand müss-
ten wir ganz nah herankommen“, sagte Baumann.
Das ist schwierig zu erreichen. Zwar verpflichten
sich die Klägeranwälte im Anschluss, keine weite-
ren Klagen einzutreiben und keine Prozesse mehr
anzustreben. Dennoch besteht die Gefahr, dass
später weitere Klagen von Erkrankten auftauchen.

Baumanns

Doppelstrategie

Operativ läuft es gut für die Bayer AG. Doch alle Augen richten


sich weiter auf die Glyphosat-Klagen: CEO Baumann muss


taktieren. Am Ende dürfte es auf einen Vergleich hinauslaufen.


50


MILLIONEN


Dollar haben die
Klägeranwälte allein
im dritten Quartal in
TV-Spots gesteckt.

Quelle: Bayer


Anbaufeld im Mittleren
Westen der USA:
Besorgte Landwirte.

imago images / ZUMA Press

Titelthema


Das Glyphosat-Risiko


DONNERSTAG, 31. OKTOBER 2019, NR. 210


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