Neue Zürcher Zeitung - 09.11.2019

(Ann) #1

Samstag, 9. November 2019 ∙Nr. 261∙240. Jg. AZ 8021Zürich∙Fr. 5.20 ∙€5.


Klimadebatte: Die radikalen Umweltaktivisten unterliegeneinem Missverständnis Seite 12


«Die Härte der Debatte


erschreckt mich»


Ex-Bundespräsident Joachim Gauck über Intoleranz


bem.·DerehemaligedeutscheBundes-
präsidentJoachim Gauck kritisiert den
fehlenden Diskurs in seinemLand über
Probleme wie den Antisemitismus oder
die Missachtung desRechtsstaates durch
Migranten. Es fehle dieToleranz, Mei-
nungen, die von der eigenen Ideologie
abwichen, zuzulassen, sagt der 79-Jäh-
rige im Interview mit der NZZ. «Inzwi-
schen bin ich erschrocken über die neue
Härte und Kälte der Debatte, überFor-
men von Hass besonders im Netz.» Man
müsse offen seinfürArgumente der geg-
nerischen Seite. Denn: «Es kommt vor,
dassauchdieFalscheneinrichtigesArgu-
ment oder einen Sachverhalt benennen,
die es anzuerkennen gilt», sagt Gauck.
Wenn abweichende Meinungen gleich


als unmoralisch verurteilt und diskrimi-
niertwürden,«entstehteingrosserpoliti-
scher Schaden für die Demokratie».
Mit Blick auf den dreissigstenJahres-
tag des Mauerfalls, der an diesem Sams-
tag begangen wird, sagtGauck, dass
man das gesellschaftspolitische Erbe der
DDR unterschätzthabe. «Wir haben ge-
dacht,die Menschen sehnen sich so nach
Freiheit.Aber dieses Leben in derFrei-
heit ist etwasanderes als die Sehnsucht
nach derFreiheit.» Zudemsei o rganisa-
torisch alles «superschnell» gegangen.
«Aber die Mentalität hat ein anderes
Tempo als die Umorganisation von Insti-
tutionen und Organisationen.»
Literatur undKunst, Seite 43–
Medien, Seite 9

Die Landschaft der Lüge


Der Ostblock existiert nicht mehr, aber die Prägung durch Diktatur und Propaganda steckt noch in vielen Köpfen.


Misstrauen gegen die Eliten und Nationalismus gehören zu diesem Erbe, und das nützt dem deutsc hen AfD-Politiker


Björn Höcke genauso wie Viktor Orban. Ein grosses europäisches Schis ma trennt weiter Ost und West.Von Eric Gujer


Geschichte vergeht nicht. Sie lässt sich nicht be-
wältigen, sie lässt sich nicht verdrängen, siekehrt
immer wieder. Der Mauerfall liegt unterdessen
dreissigJahre zurück –ein e beträchtliche Zeit-
spanne, wenn man bedenkt, dass die DDR selbst
nur vierzigJahre dauerte. Doch derKommunismus
wirkt noch immer nach,selbst in den Köpfen der-
jenigen,die zu jung waren,um ihn selbst zu erleben.
Die Westdeutschen glaubten, mit derWiederverei-
nigung sei ein weiteres düsteres Kapitel deutscher
Geschichte endgültig abgeschlossen. Die Ostdeut-
schen waren skeptischer, und sie behieltenrecht.
Der Ostblock war eineLandschaft der Lüge, an-
gefangen bei den Schauprozessen der dreissiger und
fünfzigerJahre, in denenkeine Behauptung absurd
genug seinkonnte, um die Schuld der Angeklagten
zu b eweisen. Doch auch in ihrer ermatteten End-
phase blieben die sozialistischenRegime Lügen-
gebilde,indenen sich die Propaganda wie eine un-
durchdringlicheWand vor dieRealität schob.
So etwa verkündete die Staatsführung in Ost-
berlin triumphierend die Entwicklung eines Com-
pute rchips, der mangels geeigneterProduktions-
anlagen dann nie in Serie ging.In Moskau beteten
die Funktionäre deskommunistischenJugendver-
bandes die Glaubenssätze des Marxismus-Leninis-
mus nach,um sichwährend derPerestroika in Kapi-
talisten zu verwandeln. Und in Prag verlangteVac-
lav Havel nachWahrheit und landete im Gefängnis.


Autoritäres Denken


Der «Homo sovieticus» und seineVerwandten in
Mittel- und Osteuropa lernten einLeben des «als
ob», ein Leben inVerstellung und in Distanz zum
Staatsapparat.Davon profitieren die AfD und an-
derePopulisten.Was ist Lüge, was istWahrheit?
Und vor allem:Wer bestimmt darüber? Um diese
Fragen kreist diePolitik im Osten bis heute, des-
halb der Slogan der «Lügenpresse», deshalb auch
der verbissene Kampf gegen Denkverbote und
die Neigung zu «alternativenFakten».Was West-
deutsche fürVerschwörungstheorien und Obsku-


rantismus halten, betrachten viele Ostdeutsche im
Gegenteil als einenAkt derAufklärung:Sie wollen
endlich einen Blick hinter dieWand der offiziellen
Propaganda werfen.Das Missverständnis befeuert
in Deutschland die politischePolarisierung und die
Entfremdung zwischen Ost undWest.
Die früheren kommunistischen Untertanen
haben die Distanz zum Staat und zu dessen Eli-
ten verinnerlicht und an ihre Kinder weiterge-
geben. Die Prägungen der sozialistischen Diktatu-
ren sind langlebig. In Thüringen lag die AfD bei
Jungwählern vorne, Rentner wählten hingegen vor
allem die SED-Nachfolgepartei.Da wächst zusam-
men, was zusammengehört.Wie die AfD bedient
die Linkspartei antiwestlicheRessentiments.
Wer heute in Ost- und Mitteleuropa politisch
Erfolg haben will,kritisiert das Establishment,auch
wenn er selbst dazugehört. Der PiS-ChefJaroslaw
Kaczynski in Polen und der ungarische Minister-
präsidentViktor Orban verdanken ihrenAufstieg
dem Feldzug gegen alte postsozialistische und neue
marktliberale Eliten. Die PiS errang ihrenWahl-
sieg vor wenigenWochen dank einer Sozialpolitik,
die einenKontrapunkt zu den neoliberalenRefor-
men seit den neunzigerJahren darstellt. Die AfD
gibt sich national und sozial. Marktwirtschaft, Glo-
balisierung undFreihandel fordern einen Preis, der
nicht zufällig im Osten am höchsten erscheint, weil
hier das politischeSystem noch instabil ist.
Die SkepsisgegenüberEliten bedeutet aber
keine Vorliebe für flache Hierarchien und die
«Basisdemokratie», ein Wort, das gemeinsam mit
den Grünen Karriere machte. Das unterscheidet
die Anhänger derrechtskonservativenParteien
von denAchtundsechzigern, der anderen grossen
antielitären Bewegung der letzten fünfzigJahre.
Im Gegenteil,derKommunismus, die Ideologie der
Gleichheit, hat traditionelles autoritäres Denken
gefördert. Nicht umsonst nennt der frühere deut-
sche BundespräsidentJoachim Gauck im NZZ-
Interview seine östlichenLandsleute «altdeutsch».
Wer der Demokratie und ihrenRepräsentanten
misstraut,ist anfällig fürFührerfiguren, auch wenn
er das Establishment verachtet.

Die Fassaden sind in Osteuropainzwischen ge-
strichen, die internationalen Hotelkett en haben
Fuss gefasst, und derLatte macchiato wird muster-
gültig aufgeschäumt. WLAN und Handynetz sind
besser als in Deutschland, demFunkloch Euro-
pas. Die Äusserlichkeiten des westlich-kosmopoli-
tischen Lebensstils verleiten dazu, dieTiefenströ-
mungen zu übersehen, die auch nach dreissigJah-
ren die neue Zeit mit der alten verbinden.

Tyrannei derGeschichte


Was wir heute Mittel- und Osteuropa nennen, ge-
hörtemitAusnahme der DDRvor 1918 zum Zaren-
reich oder zur Habsburgermonarchie. Zwei Impe-
rien undVielvölkerstaaten, deren Untergang die
Pandorabüchse ethnischerKonflikte öffnete. So
war Lwiw (Lemberg) in denletzten hunder t Jah-
ren österreichisch-ungarisch, polnisch, sowjetisch,
nazideutsch, wieder sowjetisch und gehört heute
zur unabhängigen Ukraine.
Wer von den Einwohnern Deutsch, Polnisch
oder Armenisch sprach, ist längst vertrieben.Als
die Wehrmacht1941 in Lwiw einmarschierte, fand
sie die Leichen der vom sowjetischen Geheim-
dienst ermordeten städtischen Intelligenzia.Dann
vernichteten die SS-Einsatzgruppen dieJuden; so
starb auch das Jiddische aus.Wer heute in Lwiw
lebt,ist oft Nachfahre sowjetischerFunktionäre, die
nach1945 angesiedelt wurden.DasWort Bevölke-
rungsaustausch ist inWesteuropa einrechtsextre-
mer Kampfbegriff, der di eVerdrängung der Be-
völkerung durch Einwanderer suggeriert. In Lwiw
fand ein Bevölkerungsaustausch tatsächlich statt.
Unter sowjetischer Herrschaft wurde dieAufarbei-
tung dies er Erfahrung unterdrückt. Umso heftiger
bricht sie nach dem Ende der Diktatur hervor.
Im Westen reifte der Nationalstaat überJahr-
hunderte, bis Exzesse ihn diskreditierten. Über-
staatlicheElemente wie die EU gaben ihm ein
neuesFundament. In Osteuropa ist der National-
staat derVersuch, nachVertreibungen, Massen-
morden und willkürlichen Grenzziehungen end-

lich Schutz vor derTyrannei der Geschichte zu fin-
den. Nationalismus gilt nichtals Exzess , sondern
als Garant von Identität und Stabilität. Ethnische
Homogenität, imWesten lange fast eine Selbstver-
ständlichkeit,existierteim Osten nie und ist des-
wegen noch immer ein Ideal.
So wie sichWest- und Ostdeutsche nicht ei-
nig werden, interpretierenWest- und Osteuropäer
Grundbegriffe der Staatlichkeitvöllig unterschied-
lich.Die Deutschen beidseits der Elbe begehen den
Fehler, ihre Unterschiede alsWebfehler eines im
Übrigen geeintenVolkes zu begreifen.Dabei sind
sie Ausdruck des grossen europäischen Schismas.
Der Westen denkt universalistisch. Er betrach-
tet Migration als Bereicherung und feiert die
Diversität der Ethnien und sexuellen Identitä-
ten. Das war allerdings nicht immer so (und auch
heute sehen es viele Menschen anders). Der Osten
nahm sich daran nach demKollaps desKommu-
nismus einVorbild. Man habe die Geschichte in-
klusiv geschrieben und die von Ukrainern began-
genen Massaker anPolen aus derPerspektive bei-
der Völker erzählt, hiess es an derKörber History
Reflection Group, einer Historikertagung, die die-
ses Jahr in Lwiw stattfand. Aber dieVölker hätten
nach schärferem Zeug verlangt.Das schärfere Zeug
heisst Höcke oder Orban, die Minderheiten und
Einwanderer ausgrenzen.Die polnischeRegierung
treibt grossenAufwand, um ihre exklusiv nationale
Geschichtsschreibung durchzusetzen und andere
Sichtweisen imAusland zu ächten.
In der Euphorie desAufbruchs nach1989 über-
nahm der Osten zunächst die liberalenWertvor-
stellungen.Als Reaktion auf die Mühen derTrans-
form ation schwang dasPendel zurück.Wahlerfolge
feiert jetzt, wer ein antiwestlichesWeltbild kulti-
viert. Westeuropareagiert auf dieseWellenbewe-
gung entnervt und macht die eigene Erfahrungzum
Massstab,andem es den Osten misst. Bis das euro-
päische Schisma überwunden ist, bis Ost undWest
die gleiche Sprache sprechen, wird jedoch einige
Zeit vergehen. Hier braucht es Geduld und gegen-
seitigesVerständnis. Eine Lüge ist schnell erzählt.
Bis sich dieWahrheit durchsetzt, dauert es lange.

Erdogan löst neuen


Flüchtlingsstrom aus


Kurden suchen Zuflucht in Lagern im Nordirak


bem.·Die O ffensive derTürkeiin
Nordostsyrien hat über170000 Frauen,
Männer und Kinder in die Flucht ge-
trieben.Tausende leben derzeit in über-
füllten Flüchtlingslagern im Norden
Iraks , zum Beispiel in jenem nahe der
irakisch-kurdischen KleinstadtBardar-
ash.Dort haben inzwischen 11000Kur-
dinnen undKurden eine Zuflucht ge-
funden,weitere 2000 sind auf Flücht-
lingslager in der näheren Umgebung
verteilt worden.Sie hatten in ihrer Hei-
mat alles zurücklassen müssen, haben
alles verloren.
Die NZZ hat dieseWoche das Flücht-
lingslager beiBardarash besucht und
sich dort mit vertriebenenKurdinnen
und Kurden unterhalten. Sie alle fürch-

ten die türkischen Soldaten und deren
syrische Handlanger. «Die bringen uns
alle um, wenn wir zurückkehren»,sagt
etwaSihamHawaz, die zusammen mit
ihrem Mann und ihren fünf Kindern aus
der StadtRas al-Ain geflohen war, als
die ersten Bomben einschlugen. Eben-
fallsAngst vor einerRückkehr hat der
syrischeKurdeIzzeddinHussein Amin,
dessen Dorf inzwischen besetzt ist. Er
hat alles verloren: 60 Hektaren frucht-
baresAckerland, eine eigeneWasser-
quelle, einAutohaus, einen Supermarkt,
sechsJeeps und dreiPersonenwagen.
«Bis zum türkischen Einmarsch war
unsere Gegendsehr sicher. Jetzt ist ge-
nau das Gegenteil derFall.»
International, Seite 7

NZZ

Das Geschlecht
wird zum
politischen Projekt

Gender-Studies sind meist
ideologischvereinnahmt. Seite 39

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